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Eine Siebenjährige in Indien schleppt Steine aus einem Flussbett.

© dpa/EPA/Stringer

Wirtschaftsexpertin Amrita Narlikar: "Der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert"

Wenn die Europäer sich moralisch geben, wird sie misstrauisch. Wirtschaftsexpertin Amrita Narlikar über Kinderarbeit, indische Deals und Hölderlin.

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Frau Narlikar, in den USA ist die Arbeitslosenquote auf einem historischen Tief, die Wirtschaft wächst kräftig. Was denken Sie als Expertin für Handel: Hat Donald Trump alles richtig gemacht?

Es stimmt, dass die Situation überraschend gut ist – trotz Trumps Protektionismus. Die Wirtschaft befindet sich noch in einer langfristigen Erholungsphase nach der Rezession, verantwortlich dafür sind eher frühere politische Entscheidungen. Der niedrige Leitzins der amerikanischen Zentralbank Fed ist auch sehr hilfreich. Und globale Wertschöpfungsketten brechen nicht von einem Tag auf den anderen zusammen. Nehmen Sie US-Farmer, die Maschinen benutzen, für die Aluminium importiert werden muss: Bevor Teuerung durch höhere Zölle bei denen ankommt, dauert es.

Rechnen Sie bald mit einem Abschwung?

Es würde mich sehr überraschen, wenn der Boom anhielte. Die chinesische Wirtschaft wächst nicht mehr so stark, Europa kämpft ebenfalls mit Problemen. Das wird sich auf die Exporte der USA auswirken. Auch die Zinsen werden steigen, Trump befindet sich schon im Konflikt mit der Fed.

Amrita Narlikar
Amrita Narlikar

© Kitty Kleist-Heinrich

Ist Trump Zeichen einer Krise der Globalisierung?

Mindestens eins hat er richtig gemacht: Er hat eine tiefe Unzufriedenheit identifiziert. Es gibt in den USA Leute, die durch die Globalisierung zu Verlierern geworden sind. Liberale wie ich haben es versäumt, ihnen zu signalisieren: Wir verstehen, was ihr durchmacht, und werden uns für bessere Umverteilung einsetzen. Man dachte, die Vorteile der Globalisierung seien offensichtlich und vertraute darauf, dass die Gewinne in alle Bereiche der Gesellschaft durchsickern – was nicht der Fall ist.

Sie sind eine entschiedene Verfechterin der Globalisierung und Ihr „Giga“ ist eine der wichtigsten deutschen Denkfabriken …

… nein, da muss ich widersprechen. Wir denken zwar, und manchmal sind wir eine Fabrik. Aber als Leibniz-Institut betreiben wir im Unterschied zu Thinktanks auch Grundlagenforschung und publizieren in angesehenen Fachzeitschriften. Darauf basiert unsere Politikberatung.

Im Vorfeld des G-20-Treffens in Hamburg im vergangenen Jahr arbeiteten Sie an einem Vorbereitungspapier für die Kanzlerin mit. Haben Sie sich auch angehört, was die Gipfelgegner zu sagen hatten?

Mit den Autonomen habe ich nicht geredet, abgesehen davon hatten wir viele Gespräche mit der Zivilgesellschaft. Ich bin mir sogar einig mit linken Kritikern, dass die Entwicklungsländer besser in internationalen Organisationen repräsentiert sein müssen. Falsch finde ich es, wenn einige sagen, man bräuchte die G20 gar nicht.

Zugegeben, manche Leute folgen dem Motto: Ich reise zu Konferenzen, also bin ich – was vor allem problematisch ist bei Experten für den Klimawandel. Aber die G20 sind ein Forum, bei dem sich Staats- und Regierungschefs wirklich mal in die Augen sehen können. Es war richtig, es in einer Großstadt abzuhalten, damit den Entscheidungsträgern die Wut der Bevölkerung vor Augen geführt wird und damit sich keiner beschwert, der Gipfel finde in aller Heimlichkeit auf irgendeinem Schloss statt.

Sie meinten mal, das internationale Handelssystem sei ein völliges Chaos.

Heute ist es total kaputt, zumindest gilt das für die WTO. Weil es eben nicht mehr nur Schwellenländer wie Indien sind, die keine Zugeständnisse machen wollen, sondern die USA, die sich weigern, den Spielregeln zu folgen. Trump behauptet, Handelskriege seien gut und leicht zu gewinnen, was nicht stimmt. Zugleich präsentieren sich die Chinesen als Hüter der Globalisierung. Ich warte noch auf einen Beweis dafür.

Der chinesische Markt ist abgeschirmt. Und wer dort investiert, muss seine Technologie weitergeben.

Wir brauchen einerseits strengere Regeln, zum Beispiel was geistige Eigentumsrechte angeht, andererseits mehr Offenheit – und zwar möglichst wechselseitig. Also nicht, wie wir es zum Beispiel von der EU sehen, die den Entwicklungsländern sagt: Öffnet all eure Märkte, aber wir werden unsere Agrarindustrie mit Subventionen schützen.

Sie haben zu Zoll- und Handelsabkommen geforscht und zuletzt gemeinsam mit Ihrer Mutter ein Buch über Ihr Heimatland Indien veröffentlicht.

Man könnte erwarten, Indien verhalte sich international dem Westen sehr ähnlich. Weil es die größte Demokratie der Welt ist und so lange britische Kolonie war. Und dann taucht das Land in internationalen Verhandlungen auf und gibt den Spielverderber. Bei der WTO hatte der indische Vertreter den Spitznamen „Dr. No“. Bisher gab es wenige Versuche, dieses Verhalten zu verstehen.

„Die Inder haben einen Hang zum Moralisieren“

Im April traf sich Angela Merkel mit dem indischen Premierminister Narendra Modi im Kanzleramt.
Im April traf sich Angela Merkel mit dem indischen Premierminister Narendra Modi im Kanzleramt.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Sie schreiben, in Indien würden lange Verhandlungen positiv gesehen. In Deutschland dagegen betrachtete man es 2017 als ernsthaftes Problem, als sich die Bildung einer Koalition 171 Tage hinzog.

Das wäre in Indien wohl nicht anders gewesen. Aber bei Geschäften und Handelsabkommen will die indische Seite durch lange Verhandlungen zeigen, dass sie alles für ihre Sache gibt. Die Amerikaner dagegen reisen schon mit einem knappen Zeitplan an, und es geht ihnen immer nur um Interessen. Die Inder haben einen Hang zu Geschichten und zum Moralisieren. Auf die Frage „Warum wollt ihr keine Zugeständnisse in der Landwirtschaft machen?“ folgt in der Regel ein langer Vortrag. Am Ende kommen sinngemäß Argumentationen wie: Ihr tötet Millionen unserer Bauern.

Klingt nach Erpressung.

So würde ich es nicht nennen. Es gibt eben einen anderen kulturellen Hintergrund, zumal diese Statements mindestens so sehr für das heimische Publikum wie für die Verhandlungspartner gedacht sind. Aber natürlich: Wenn man mit sterbenden Farmern argumentiert, lässt sich schwer ein Kompromiss finden.

Was denken die Inder über die Globalisierung?

Ich habe viele Interviews dazu geführt und würde sagen, dass sich unter Narendra Modi

… der seit 2014 Premierminister ist …

… extreme Skepsis in Hoffnung gewandelt hat. Was den Handel angeht, gibt es zwar noch viel Protektionismus, aber bei der Bekämpfung des Klimawandels wurden große Fortschritte gemacht. Indien galt da lange als Bremser, es hieß oft in Richtung Westen: Ihr seid schon entwickelt, jetzt sind wir dran, also zwingt uns nicht eure Sicht der Dinge auf! Modi versteht es, an traditionelle Ideen anzuknüpfen. Die Chinesen versuchen das jetzt übrigens auch. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Traditionen kennen, damit wir begreifen, wie sie gebraucht und missbraucht werden. Ich glaube, es war beim Besuch in Deutschland 2015, als Modi das erste Mal sagte, uns muss man nicht erklären, wie man die Natur schützt, wir Inder haben schon vor langer Zeit Bäume verehrt.

Hatten Sie einen Kulturschock, als Sie nach Deutschland kamen?

Nein. Zwar habe ich meine Kindheit in Delhi verbracht und mein erwachsenes Leben größtenteils in Großbritannien, aber ich kannte Deutschland schon ganz gut. Mein Vater ist Physiker und hatte viele Kontakte hierher. Als ich klein war, war er am damaligen Kernforschungszentrum Karlsruhe, später besuchte ich ihn am Max-Planck-Institut in Stuttgart, und wir haben uns etwas im Land umgesehen. Trotzdem haben mich manche Dinge in Deutschland überrascht und, ehrlich gesagt, auch enttäuscht.

Was denn?

Großbritannien ist eine Klassengesellschaft. Deutschland hatte ich mir sehr egalitär vorgestellt. Doch im akademischen Betrieb gibt es eine alte Garde, die ihre Reviere verteidigt. Vielleicht liegt es daran, dass die deutschen Unis sich lange nicht dem internationalen Wettbewerb gestellt haben, oder es hängt mit dem deutschen Hang zur Gemütlichkeit zusammen. Daher sind die Exzellenzinitiativen so wichtig, sie fördern die internationale Öffnung. Ich merke, dass einige Leute Probleme haben, jemanden wie mich zu akzeptieren, eine Frau, die von außen kommt und relativ jung aussieht. Manche lesen irgendwo „Prof. Narlikar“ und erkundigen sich nach meinem Mann.

Die Hamburger haben den Ruf, „Pfeffersäcke“ zu sein: reiche, manchmal rücksichtslose Kaufleute.

Für mich sind sie eher typische Nordlichter, das heißt zurückhaltender als die Leute im Süden, die anfangs freundlicher erscheinen können. Ich mag ihre Direktheit und dass sie, wenn man einmal mit ihnen befreundet ist, auch echte Freunde sind. Es ist schade, dass die Leute Hamburg immer bloß als Handels- und nie als Universitätsstadt sehen. Wir haben so gute akademische Institutionen hier.

Wir dachten, die Handelsstadt Hamburg als jahrhundertealter Umschlagplatz für Waren müsste Sie schon von Berufs wegen interessieren.

Natürlich. Was mich für Handelspolitik begeistert, sind aber die ökonomischen Theorien. Handel ist eines der wenigen Felder, in denen es wirklich Win-win-Geschäfte geben kann, und trotzdem gibt es sie oft nicht. Das ist so ein interessantes Problem! Eigentlich wollte ich nämlich Archäologin werden, auf der Uni studierte ich zunächst alte indische Geschichte.

„Manche Familien überleben dank des Einkommens ihres Zehnjährigen“

Kleiner Weber. In Indien müssen viele Kinder arbeiten.
Kleiner Weber. In Indien müssen viele Kinder arbeiten.

© imago/Indiapicture

Die Globalisierung macht es möglich, dass Sie heute in jeder größeren deutschen Stadt indische Produkte kaufen können. Selbst Gemüse, das sich hier anbauen ließe, hat oft eine tausende Kilometer weite Anreise hinter sich. Ist das ein gesundes System?

Ich bin keine Anhängerin von „Locavorism“, dem Verzehr ausschließlich lokaler Lebensmittel . Das ist erstens nicht besonders effizient, und zweitens gibt es da draußen sehr viele Länder, die sich wirtschaftlich entwickeln und die auf den Export von Produkten angewiesen sind. Jedenfalls glaube ich nicht, dass wir in den Handel eingreifen und etwa Importbeschränkungen einführen sollten.

Am meisten profitieren von diesem System große Konzerne. Man sah das 2012, als in Südasien Textilfabriken brannten und mehrere hundert Menschen starben. Sie hatten dort unter verheerenden Bedingungen geschuftet, gerade läuft deshalb ein Prozess gegen „Kik“. Das löste eine große Diskussion aus

… und ich wäre glücklich, wenn bei solchen Debatten auch mal Stimmen aus den betroffenen Ländern zu Wort kämen. Wenn man sich in Europa so moralisch gibt, tu ich mich schwer, keine Interessen dahinter zu vermuten. Verfolgen die Gewerkschaften im Westen hier ihre Ziele? Die europäischen Textilfirmen? Ich bin natürlich für ordentliche Arbeitsstandards, und wir können in internationalen Organisationen auf Staaten wie Indien einwirken, diese umzusetzen. Aber das zur Bedingung für Investitionen zu machen, wäre problematisch. Denken Sie an die Familie, die nur überlebt dank des Einkommens ihres Zehnjährigen. Fällt der Job weg, verhungert sie. Der Weg in die Hölle ist mit guten Absichten gepflastert. Was dringend benötigt wird, sind nationale Wohlfahrtssysteme, und die Globalisierung kann dahingehend reformiert werden, solche Maßnahmen zu fördern.

Ein Argument für den globalen Handel lautet, dass er Länder gesellschaftlich öffnet und demokratisiert. China beweist das Gegenteil.

Ich halte auch nichts von dieser Theorie. Sie hat ihren Ursprung in einer westlich bestimmten Sicht auf die Welt; man muss Länder stattdessen aus sich selbst heraus verstehen, mit ihren historischen Erfahrungen und philosophischen Traditionen. Es gibt eine abgeschwächte Variante, die ich relativ plausibel finde: nämlich, dass Staaten, die miteinander Handel treiben, weniger wahrscheinlich Krieg gegeneinander führen. Das klassische Gegenargument ist in diesem Fall der Erste Weltkrieg. Die europäischen Nationen waren vorher so eng miteinander verbunden, Krieg schien eine Illusion zu sein, und dann kam er doch.

In einer Welt mit Trumps Amerika auf der einen, dem aufsteigenden China auf der anderen Seite: Welche Rolle sehen Sie da für Deutschland?

Außenminister Maas hat für eine „Allianz der Multilateralisten“ geworben, und dann nannte er Kanada, Japan, Südkorea. Ich dachte mir: Er hat nicht mal über die OECD hinausgeschaut …

… einer Vereinigung von 36 entwickelten, demokratischen Staaten.

Wir müssen mehr Stimmen in die Diskussion einbringen. Neue Partnerschaften mit liberalen Staaten sind eine gute Idee, auch Indien und einige lateinamerikanische Länder könnten dazugehören.

Frau Narlikar, stimmt es, dass Sie sich für deutsche Poesie begeistern?

Ich mag Gedichte, auch in englischer Sprache. Deutsche Poesie besitzt schon eine besondere Intensität und Wahrhaftigkeit. „Patmos“ von Hölderlin gefällt mir sehr in der ursprünglichen Fassung: „Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ Das löst Gänsehaut bei mir aus.

Selbst in Ihren Fachbüchern finden sich Sanskritverse. Haben Sie einen Favoriten?

Ja, ein Vers, mit dem ich aufgewachsen bin: „Derjenige, der auf alle Kreaturen blickt wie auf sich selbst, ist ein wahrhaft weiser Mensch.“ Ich werde jetzt wie ein verrückter Hippie klingen, aber wenn man wie ich für die Globalisierung und die WTO eintritt, darf man das. Eines der Dinge, die mich am meisten irritieren an der Welt, ist der Anthropozentrismus – den Menschen zum Zentrum von allem zu machen. Intelligente Leute sagen mir: Ich sorge mich um den Klimawandel, denn ich möchte die Erde für meine Kinder und Kindeskinder bewahren. Ich entgegne darauf immer: Die Erde gehört nicht allein dir oder mir und auch nicht deinen Enkeln. Sie gehört allen Kreaturen.

Amrita Narlikar ist seit 2014 Präsidentin des sozialwissenschaftlichen Instituts „GIGA German Institute of Global and Area Studies“ in Hamburg, das Entwicklungen in Afrika, Asien, Lateinamerika und Nahost beobachtet.

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