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Happy childhood. Selbst im großstädtischen London spielte die Kindheit sich draußen ab. Der Renner des Sommers: der „Space Hopper“-Hüpfball.

© Homer Sykes Archive/Alamy Stock Photo

Jahrtausendsommer in Großbritannien: Besser ging's nicht: Kind sein 1976

Das Jahr 1976 ist für Engländer bis heute einzigartig. Es gab so viel Sonne wie nie zuvor – und Glücksgefühle. Und politisch? Schlimm! Ein Rückblick nach 40 Jahren.

Wissen Sie, was Sie am 9. November 1989 gemacht haben? Blöde Frage. Genauso könnten Sie einen Briten fragen, ob er sich noch erinnere, wo er anno 1976 war. Klar doch: draußen.

Es war ein Jahrtausendsommer. Die Sonne schien und schien, von Juni bis Ende August währte die Hitzewelle vor 40 Jahren. In London war es heißer als in Honolulu, zum ersten Mal seit der Gründung des Tennisturniers von Wimbledon durften die Schiedsrichter ihr Jackett ablegen.

Bis dahin kannten die Briten ihre Seebäder eher fröstelnd, und am Mittelmeer waren die meisten noch nicht gewesen. Nun also: Dolce Vita an der Nordsee wie im Hyde Park, wo die Cola-Preise auf happige 40 Pence anstiegen, doppelt so viel wie im Luxushotel nebenan. Man tanzte zu Abba am Strand, kriegte den Ohrwurm „Save Your Kisses for Me" nicht mehr aus dem Kopf, mit dem die Gruppe „Brotherhood of Man“ den Eurovisions-Wettbewerb gewonnen hatte.

Eine Umfrage von 2012 (im Auftrag einer Schokoladenkeksfirma) ergab, dass 1976 offenbar das beste Jahr in Großbritannien war, um Kind zu sein. Alle spielten auf der Straße, hüpften auf ihren „Space Hopper“-Bällen herum, spielten Fangen und Gummitwist. Im Fernsehen gab es eh nur drei Programme, und die nicht mal den ganzen Tag. Auf eine Stunde TV kamen vier draußen.

2011 war für Kinder das schlechteste Jahr

Das schlechteste Kindheits-Jahr war nach Ansicht der Befragten 2011. Was nicht nur am Wetter lag (sommerliche Durchschnittstemperatur: 13 Grad), sondern auch daran, dass die Kinder sowieso kaum noch rausgingen. Weil sie, so die Befragten, mit ihren digitalen Medien beschäftigt waren oder die Eltern Angst hatten, auf der Straße könnte was passieren; sie selber hatten unter der Woche kaum Zeit für den Nachwuchs, weil sie dauernd arbeiteten. 1976 hatten die Kleinen zudem viel mehr andere Kinder zum Spielen gehabt – im Vergleich zu heute war Großbritannien ein junges Land – und mehr Platz. Es gab erheblich weniger Autos.

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Die Schattenseite des Sonnenscheins: eine Dürre, wie es sie seit dem 18. Jahrhundert nicht gegeben hatte. Der rissige Ackerboden erinnerte an den Mars, den Südwesten traf es besonders hart. Rasensprengen und Autowaschen wurden verboten, mit dem Eimer in der Hand standen die Leute Schlange an öffentlichen Hähnen. Die Regierung überlegte schon, Wasser aus Norwegen zu importieren.

Ende August war die Situation so dramatisch, dass der Sportminister einen Zusatzjob bekam. Ab sofort war Denis Howell auch noch „Minister for Drought“, für die Dürre. Zu seinen Aufgaben gehörte es, die Bürger zum Wassersparen zu animieren, weshalb er den Reportern als Erstes verriet, dass er und seine Frau zusammen in die Badewanne stiegen.

Plötzlich fing es an zu schütten

Nur wenige Tage nach Amtsantritt bekam Howell einen anderen Titel. Als heftige Gewitterstürme Regenfluten mit sich brachten, wurde er plötzlich „Minister for Floods“. Der Sommer war vorbei.

Aber wer ihn erlebt hat, vergaß ihn nie. Als das schönste Jahr seines Lebens hat der Schriftsteller Will Self 1976 beschrieben. Er war nicht der Einzige. 2004 konnte man in allen Zeitungen lesen, dass eine Studie der New Economics Foundation (NEF), eines unabhängigen Thinktanks, genau das ergeben hatte: dass es das glücklichste Jahr für die Briten in der Nachkriegszeit gewesen sei, das beste in puncto Lebensqualität.

Was sofort heftigen Protest von konservativer Seite provozierte. Die spinnen wohl, müssen Linke sein. 1976 war doch eins der schrecklichsten Jahre! Die Inflationsrate erreichte bis zu 24 Prozent, die Lohnforderungen der unzähligen kleinen Gewerkschaften, die in wochenlangen Streiks regelmäßig Land und Betriebe lahmlegten, kletterten nicht selten auf sagenhafte 30, 40 Prozent. Das Pfund befand sich im freien Fall, die traditionellen Industrien waren am Ende, die Produktivität der Betriebe im Keller.

Goodbye, Great Britain

Die Nationalspeise war immer noch Fish & Chips, am liebsten auf Zeitungspapier.
Die Nationalspeise war immer noch Fish & Chips, am liebsten auf Zeitungspapier.

© ullstein bild

Im April schockte Premierminister Harold Wilson mit seinem unerwarteten Rücktritt. Die offizielle Erklärung des Labour-Politikers: Er sei ermattet vom Kampf für Europa (inoffiziell waren es wohl Alzheimer-Symptome). 1975 hatten die Briten sich im Referendum zu zwei Dritteln für den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsunion ausgesprochen. (Was nicht heißt, dass alle in Europa-Euphorie verfielen. Gerade die extreme Linke und Rechte waren sich einig im Contra.) Die IRA ließ regelmäßig Bomben hochgehen. Auch Wilsons Nachfolger James Callaghan kriegte die Gewerkschaften nicht gezähmt. Und dann die größte Demütigung – Großbritannien, „der kranke Mann von Europa“, musste den Internationalen Währungsfonds (IWF) um einen Milliardenkredit bitten.

Kathleen Burk hat ein ganzes Buch darüber geschrieben: „Goodbye, Great Britain. The 1976 IMF Crisis“. Aber, erklärt die Historikerin im Gespräch, es war nicht einfach ein Versagen der Labour-Politik oder eine Folge der Ölkrise, die zu der kritischen Situation führten. Die Amerikaner, so Burk (die im Sommer 76 nackt ihre Dissertation tippte, so heiß war es in ihrem Londoner Appartment), hatten ein Interesse an dem Kredit: um die Briten mit harten Auflagen zu drastischen Sparmaßnahmen bei den öffentlichen Ausgaben zu verdonnern.

Wohlstand ohne Wachstum

Trotz aller Krisen und Katastrophen 1976 gibt es gute Gründe für das Ergebnis der NEF-Studie, wie Tim Jackson erklärt, als Professor für Nachhaltige Entwicklung an der University of Surrey maßgeblich daran beteiligt. Wobei es den Wissenschaftlern gar nicht darum ging, das glücklichste Jahr der Briten zu ermitteln. Was sie interessierte, war die Entwicklung über einen langen Zeitraum hinweg, von 1950 bis 2003. Dass die Kurve 1976 ihren Höhepunkt erreichte, war fast zufällig, ’75 und ’77 sahen nicht gravierend anders aus. Nur pickten die Medien diese Tatsache heraus, spitzten darauf zu. Was sicher auch an der Erinnerung an jenen Sommer lag. „Er brachte eine Saite zum Klingen“, glaubt Jackson.

Worum es dem Wissenschaftler heute noch geht, etwa in seinem viel beachteten Buch „Wohlstand ohne Wachstum“, ist die grundsätzlichere Frage: Wie misst man menschliches Wohlergehen? Nicht allein mit dem Wirtschaftswachstum, so Jacksons Argument. Der MDP (measure of domestic progress), den er entwickelte, ist das Gegenmodell zum gängigen Index, dem Bruttoinlandsprodukt. Das stieg in Großbritannien, im Unterschied zur flachen Kurve des MDP, kontinuierlich steil nach oben. Der MDP bezieht andere Faktoren mit ein. Auf der Haben-Seite Dinge wie Gesundheitsversorgung, Bildungseinrichtungen, Wohnungsversorgung, auf der Sollseite die ökologischen und sozialen Kosten, langfristige Folgen wie den Klimawandel. Kriminalitäts- und Scheidungsraten etwa sind seit 1976 dramatisch gestiegen, Immobilienspekulation hat viele Briten zu Pendlern gemacht.

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„Mehr bedeutet nicht automatisch besser“, hieß es in dem Bericht der Studie. „Zu viel Essen machte die Nation übergewichtig, zunehmender Verkehr führt zu verstopften Straßen, mehr Waffen machen die Straßen unsicher, Berge von Abfall lassen die Müllhalden überquellen, exzessiver Kommerz raubt dem Leben echte Bedeutung.“

Mittags machte das Kaufhaus zu

Natürlich war auch Deutschland anno 1976 ein anderes Land als heute. Doch der Unterschied ist in Großbritannien noch extremer. Das Land wirkte altmodischer als der Kontinent. Dass 1976 auch das Geburtsjahr des britischen Punk war, Gruppen wie die Sex Pistols ihre Landsleute mit wilder Musik, Anarchie und wüster Sprache schockierten, fällt da noch kaum ins Gewicht. England hatte was leicht Schäbiges, erinnert sich die Historikerin Burk, die 1973 aus Kalifornien auf die Insel kam. Das Kaufhaus Marks & Spencer, der größte Einzelhändler im Land, erzählt sie, machte in der Mittagspause zu. Die angesagte Mode waren angeblich Strickjacken in Beige oder Braun, das Dezimalsystem war gerade erst eingeführt worden. Unabhängig von der landesweiten Trockenheit tröpfelte das Wasser nur aus den Hähnen, heiß oder kalt, Mischbatterrien waren weitgehend unbekannt.

Die Nation aß Fish & Chips und trank Tee. Vor zwei Wochen veröffentlichte ein Marktforschungsinstitut die neuesten Zahlen. Verbrauchte ein Inselbewohner 1974 im Schnitt 68 Gramm Tee pro Woche, sind es heute gerade mal 25 Gramm. Und den trinken vor allem die Alten. Die Jungen haben Angst vor verfärbten Zähnen. Außerdem schmeckt ihnen der Latte aus dem Coffee-Shop besser. Aus den Briten ist ein Volk der Kaffeetrinker geworden. Und der Fernreisenden. Viele Küstenstädte, von einheimischen Urlaubern geschmäht, verkommen zu gefährlichen Slums; in leer stehende Pensionen, etwa in Margate, werden Sozialhilfeempfänger, Drogenabhängige und entlassene Häftlinge aus London abgeschoben.

Eine unschuldigere Zeit

Kaum Platz an der Sonne. Die britischen Strände, wie hier in Brighton, waren während der Hitzewelle alle überfüllt.
Kaum Platz an der Sonne. Die britischen Strände, wie hier in Brighton, waren während der Hitzewelle alle überfüllt.

© dpa / empics

Am krassesten kann man den Wandel Großbritanniens vielleicht am Sonntag erleben. In den 70ern war er tot, Theater blieben geschlossen, selbst in London war es schwer, was Gescheites zu essen zu bekommen, Busse stellten vielerorts den Verkehr ein, und Pubs durften nur stundenweise öffnen. Inzwischen scheinen die Briten sich am Tag des Herrn besonders hemmungslos dem Konsumrausch hinzugeben.

Heute, erzählt der Schriftsteller Will Self, Jahrgang 1961, nerve er seine Kinder damit, dass er ihnen von der Unschuld jener Zeit vorschwärmt. „Natürlich war sie nicht unschuldig“, fügt er schnell hinzu, allein die ganzen Missbrauchsskandale, die in jüngster Zeit herauskamen. Und doch, findet er: Das Leben fühlte sich unschuldiger an. Freier. Die Menschen entspannter. Durchs ganze Land ist Will Self als Teenager getrampt. Wenn sein Nachwuchs das heute täte, würde er rasend vor Angst. „London wirkte leerer, großzügiger.“ Es lebten Millionen weniger Menschen dort, viele Ruinengrundstücke aus dem Krieg lagen noch brach.

Allerdings, so der Autor, dessen aktueller Roman "Shark" in den 70ern spielt, war das Königreich auch eine sehr viel homogenere Gesellschaft; die ethnischen Minderheiten waren in der absoluten Minderheit. (Was nicht heißt, dass es keine Konflikte gab: Beim Notting Hill Carnival kam es Ende August 1976 zu Krawallen.) Vor allem aber: „Es herrschte mehr Gleichheit.“

Zu diesem Ergebnis kam auch Jacksons Studie. 1976 klafften die Einkommen nicht annähernd so krass auseinander, wie sie es heute tun, die Londoner City spielte noch keine so dominante Rolle. Die Arbeiterklasse, zu der sich viel mehr Menschen zählten, war von Stolz beseelt, hatte bessere Aufstiegschancen.

Und dann kam die Eiszeit, der legendäre Winter of Discontent, der Unzufriedenheit. 1978/79 eskalierten die Exzesse der Gewerkschaften, ihre aberwitzigen Lohnforderungen, die Streiks, die dazu führten, dass die Städte in Müll versanken. Bald darauf machte Maggie Thatcher mit all dem Schluss. Auch mit vielem, was 1976 zur Lebenszufriedenheit gehörte, wie dem sozialen Wohnungsbau.

In jenem eisigen Winter bekam Ex-Dürre-und-Flut-Minister Howell einen neuen Job: als „Minister für Schnee“.

Was 1976 noch geschah

Brüder und Schwestern: Mit ihrem Song "Save Your Kisses for Me" gewann „Brotherhood of Man“ 1976 den Eurovision Song Contest.
Brüder und Schwestern: Mit ihrem Song "Save Your Kisses for Me" gewann „Brotherhood of Man“ 1976 den Eurovision Song Contest.

© picture alliance / empics

Überflieger: Im Januar begann der kommerzielle Flugverkehr der Concorde von Paris und London nach New York. Drei bis dreieinhalb Stunden brauchte das Überschallflugzeug für die Strecke. 2003 wurde der Linienenverkehr eingestellt.

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Apfel mit Biss: Steve Jobs und Steve Wozniak gründeten mit Ronald Wayne die Apple Computer Company. Ihr „Apple I“ kostete 666,66 Dollar.

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