zum Hauptinhalt
Die Fernsehserie „Six Feet Under“ ist stark von Jessica Mitfords Klassiker inspiriert.

© Cinetext Bildarchiv

Jessica Mitfords Bestseller: Das letzte Make-up

Sie ist Aristokratin, Rebellin, Schriftstellerin: 1963 mischt Jessica Mitford mit einem Bestseller die Bestattungskultur in den USA auf. Dem gängigen Pomp begegnet sie mit groteskem Humor.

Jessica Mitford hat ihren Lesern nichts erspart. Aber sie hat sie gewarnt! Auf Seite 67. „Für dienigen, die einen starken Magen haben:    Lassen Sie uns den Formaldehyd-Vorhang lüften“, frohlockte sie in ihrem Bestseller „The American Way of Death“, mit dem sie vor 50 Jahren die amerikanische Bestattungsbranche aufwirbelte. „Die anderen sollten auf Seite 74 vorblättern.“ Das allerdings wäre ziemlich dumm. Denn in ihrer Beschreibung der hohen Kunst des Einbalsamierens lief die Autorin zu ironischer Hochform auf.

In einem OP-ähnlichen Raum, so erfahren die mutigen Leser, wird die Leiche mithilfe einer großen Palette an Folterinstrumenten präpariert. Erst wird das Blut abgezapft, dann der Körper mit einem chemischen Cocktail vollgepumpt, die Zähne mit farblosem Nagellack übertüncht. Fehlende Nasen werden aus Wachs nachgeformt, abgetrennte Köpfe geschickt wieder aufgesetzt, Lippen mit Sicherheitsnadeln zum ewigen Lächeln fixiert. Nach Haarewaschen, Maniküre und Make-up ein letzter persönlicher Touch, eine Pfeife in den Mund, dann wird „The Loved One“, wie die Leiche schön euphemistisch heißt, in den „Schlummerraum“ des Bestattungsinstituts gerollt und zur Besichtigung freigegeben. „Besuchszeiten: 10 bis 21 Uhr“.

Die schillernde Journalistin mit dem britischen Upper-Class-Akzent, Exkommunistin und Autodidaktin (nicht mal eine Schule hatte sie besucht, ihre aristokratischen Eltern fanden, Mädchen brauchen das nicht) ließ in ihrem Buch keinen Zweifel daran: Der American Way of Death war wie der American Way of Life, nur noch doller. Größer, teurer, geschmackloser. Auch komischer.

Fans von „Six Feet Under“ sind groteske Szenen aus der Einbalsamierungskammer bestens vertraut. Kein Wunder, ließen die Macher der 2001 gestarteten Fernsehserie über ein kalifornisches Bestattungsunternehmen sich in ihrem schwarzen Humor doch deutlich von Mitford inspirieren. 1963 grenzte das noch an einen Skandal: Die Veröffentlichung des heutigen Klassikers wäre fast an diesem Kapitel gescheitert. Der englische wie der amerikanische Verlag waren entsetzt. Zu lustig, zu eklig. Musste das sein, all die widerlichen Details, das wollte doch kein Mensch lesen.

Aber da kannte die Autorin keine Gnade. Das Einbalsamieren war das Herzstück der Branche. Profaner ausgedrückt: Es war das, was die US-Beerdigung so teuer, so profitabel machte. 90 Prozent der Verstorbenen, so Mitford, wurden in den USA im offenen Sarg präsentiert.

Beim renommierten Verlag Simon & Schuster fand ihre Agentin dann einen begierigen Junglektor am Anfang einer steilen Karriere (an deren Ende er Chefredakteur des „New Yorker“ wurde). Bob Gottlieb, scharf, schnell und ironisch, sah sofort das Potenzial in dem Stoff, der anderen nur obskur erschien. Das umstrittene Kapitel gefiel ihm besonders. Es wurde Mitfords erfolgreichster Text, nachgedruckt in unzähligen Anthologien.

Mit 20 000 Exemplaren ging Simon & Schuster an den Start. Die Nervosität der Bestatter stieg. „Who’s Afraid of the Big Bad Book?“, fragten sie sich aufgeregt.

Im August 1963 kam „The American Way Of Death“ heraus und schoss auf der Bestsellerliste nach oben; allein von der Paperbackausgabe wurde eine halbe Million verkauft. Es regnete hymnische Besprechungen, als „Bombe von einem Buch“ feierte der Kritiker der „New York Times“ die Enthüllungen. Gerade die Mischung aus praller Information und Unterhaltung hatte es dem Publikum angetan. Die Autorin ertrank in Leserbriefen, die Londoner „Times“ war bald überzeugt, dass der Einfluss der Engländerin in Amerika größer war als der der Beatles.

Über Nacht war die Linke zu „Amerikas führender Autorität für Beerdigungen“ geworden, wie sie scherzte. Die Hausfrauenzeitschrift „Good Housekeeping“ druckte einen Auszug ab, alle wollten Interviews. Sie hatte ein Thema öffentlich gemacht, das jeden betraf, über das aber bis dahin niemand redete. Für das Gespräch mit einem deutschen Sender lernte sie ihre Antwort mithilfe phonetischer Rechtschreibung auswendig: „Ein teures begrabenesse ist ein status symbol, wie ein luxus auto, ein schwimming-pool im garten, oder en weekend in Miami beach for funfzig dollar am tag!“

Zu Mitfords großer Freude ging die Branche hoch wie eine Horde HB-Männchen. Einige Gegner zogen wieder die Kommunisten-Keule, mit der man in den 50er Jahren in Amerika noch jeden erschlagen konnte. Nun fiel sie den Verleumdern selbst auf die Füße.

Wenn in ihrem Haus in Oakland nachts das Telefon klingelte, erklärte Jessica Nitford dem anonymen Anrufer, sie müsse jetzt aber ins Bett. Ihre armen Gegner konnten mit der schlagfertigen Polemikerin rhetorisch nicht mithalten. Aber statt den Mund zu halten, fütterten sie sie weiter mit unfreiwillig komischen Zitaten. Wo immer sie zusammen mit Bestattern auftrat, hatte sie die Lacher auf ihrer Seite.

Jessica Mitford war eine Alice im Wunderland der Leichen, die viele verbotene Türen öffnete (das hatte sie schon als freches kleines Kind gern getan) und amüsiert staunte. Was viele ihrer Fans nicht wussten: Die Türen zum Einbalsamierungslabor hat sie nicht selbst geöffnet. Das war ihr dann doch ein bisschen zu plastisch. Sie hat einfach ihren Mann vorgeschickt. Während der arme Bob Treuhaft, der sich als Anwalt fast ein Jahr für das Projekt seiner Frau freinahm, im College of Mortuary Science zugucken musste, wie Leichen in Wachsfiguren verwandelt wurden, trieb sie sich auf Friedhöfen, bei Sargschreinern, Floristen und Bestattern herum. Oft und gern inkognito. Denn freiwillig rückten die Vertreter des Gewerbes nur ungern Informationen heraus.

Das Ehepaar war ein kampferprobtes Team. Als Mitglieder der Kommunistischen Partei (aus der sie 1958 austraten) hatten sie gegen Rassismus und Kapitalismus in all seinen Formen gestritten. Nun also „Das Geschäft mit dem Tod“, wie die deutsche Ausgabe des Buchs hieß. Eigentlich wollte die Autorin es unter ihrer beider Namen veröffentlichen. Aber das redete der Verlag ihr aus: schlecht fürs Marketing. Mitford war nämlich bekannt, durch ihre 1960 erschienenen Erinnerungen an ihre exzentrische Jugend, „Hons and Rebels“ (auf Deutsch bei Berenberg).

Ihr Mann war auch derjenige, der sie überhaupt auf das Thema gebracht hatte. Der Aktivist gehörte zu den Gründungsmitgliedern der lokalen Funeral Society, die sich der Aufklärung über die Branche verschrieben hatte und ihren Mitgliedern Billig-Beerdigungen zum Selbstkostenpreis anbot. Anfangs hatte Mitford sich noch lustig gemacht über das Engagement ihres Gatten. Bis dieser anfing, von den Vereinstreffen Fachzeitschriften mitzubringen. Allein die Titel! „Casket and Sunnyside“, „Concept: The Journal of Creative Ideas for Cemeteries“ ... Sie liebte ihr neues Wunderland, pflasterte ihr ganzes Gästeklo mit einschlägiger Werbung zu, blätterte mit Vergnügen in Bestatter-Katalogen, die vollmundig verführerische Dessous anpriesen: „New Bra-Form, Post Mortem Form Restoration“.

Viele ihrer Freunde, die Mitfords Lust am Fabulieren kannten, glaubten, sie hätte das alles erfunden. Hatte sie aber nicht. War alles echt. So echt, wie das in einer Branche möglich ist, die sich dem schönen Schein verschrieben hat. Nicht zufällig war sie in Kalifornien, dem Lande Hollywoods, besonders mächtig.

The American Way of Death, das Thema war Jessica Mitford nicht in die Wiege gelegt. Die stand in den malerischen Cotswolds, in einem englischen Herrenhaus. Immerhin, der Blick aus dem Kinderzimmer fiel auf den Dorffriedhof. Das Freifräulein ergötzte sich am Schauspiel der Beerdigungen.

Die Adelsfamilie gehört zu Englands berühmtesten, auf jeden Fall berüchtigtsten. Von den sechs Schwestern wurden zwei Faschistinnen, eine Schriftstellerin, eine Pferdenärrin, eine Herzogin – und Jessica brannte mit ihrem Vetter, einem Churchill-Neffen durch, um in den Spanischen Bürgerkrieg zu ziehen. Empört über die englische Appeasement-Politik, ging das Paar ’39 nach Amerika, wo Jessica auch nach dem Tod ihres ersten Mannes blieb.

In ihrer protestantischen Heimat wurden Leichen einfach in einen billigen Sarg gesteckt und ohne großes Gedöns unter die Erde gebracht. Man pflegte einen nüchternen Umgang mit dem Tod, den man auch stets beim Namen nannte, gerade in der Aristokratie. Menschen schieden nicht dahin, sondern starben. Euphemismen aber gehörten zum Erfolgsrezept der US-Branche: Die Loved Ones waren gar nicht tot, sondern schlummerten nur in der guten Stube des Bestattungsinstituts, das sich funeral home nennt.

Schon über die Floskeln der Kommunistischen Partei hatte Jessica Mitford sich öffentlich lustig gemacht. Die Bestatter waren genauso pompös, nur noch verlogener. Heuchelei aber war für Mitford eine der Todsünden, vor allem, wenn sie dem Profit dienten. Es hat sie empört, dass Unternehmer aus der Trauer anderer Kapital schlugen, ihnen im Moment des geringsten Widerstands seidengefütterte Edelholzsärge aufschwatzten und das dann noch als Altruismus verbrämten. Dass Bestatter sich „grief therapists“ nannten, war für sie der Gipfel der Schamlosigkeit. Gegen die Trauer gab es eh keine Therapie, das wusste sie genau. Ihr erstes Baby war an Masern gestorben, die Liebe ihres Lebens fiel im Krieg, ihr zehnjähriger Sohn wurde vom Bus überfahren. Gesprochen hat sie darüber nie.

Trauer und Tod waren für die Engländerin Privatsache. Ihr ging es um etwas anderes. Das Titelbild ihres Buches zierte ein Trauergebinde in Form eines Dollarzeichens. Menschen unter die Erde zu bringen, war ein Riesengeschäft: Nach einer Schätzung des Wirtschaftsministeriums, so Mitford, gaben die Amerikaner im Jahr 1960 1,6 Milliarden Dollar für Beerdigungen aus.

Mitford war nicht die erste Britin, die sich über die amerikanischen Sitten amüsierte. Schon 1948 hatte Evelyn Waugh seine Satire „The Loved One“ veröffentlicht, über den Friedhof in Los Angeles, dem sie nun ein eigenes unterhaltsames Kapitel widmete: Forest Lawn Memorial Park, der für viele andere Modell stand.

Dessen Gründer Dr. Hubert Eaton konnte Friedhöfe offenbar nicht leiden. Deswegen machte er einen Freizeitpark daraus. „Depressing symbols of death are banned“, heißt es auf einem Forest-Lawn-Postkartenset (erhältlich im friedhofseigenen Souvenirshop), nicht mal kahle Äste sind erlaubt. Grabsteine als sichtbarste Monumente des Todes wurden durch flache Platten im Rasen ersetzt. Wer mit dem Auto den grünen Hügel hinauffährt, wähnt sich im Country Club. Im Disneyland des Todes, auf dem Michael Jackson und viele Hollywoodstars liegen, gibt es alte englische Kirchen, in denen die Lebenden heiraten dürfen (was Ronald Reagan auch tat), ein eklektisches Museum und ein Schlosstor, doppelt so groß wie das des Buckingham Palace. Bigger is better.

Jahrelang war Jessica Mitford auf die Straße gegangen, hatte protestiert gegen alles, was sie als Unrecht empfand, und meist doch nur ein Dutzend Überzeugter erreicht. „The American Way of Death“ dagegen war eine echte Revolution. „Funeral directing would never be the same again“, schreibt Gary Laderman in seiner 2005 erschienenen Kulturgeschichte der US-Bestattungen. Plötzlich gingen die Preise runter und die Zahl der (sehr viel billigeren) Einäscherungen hoch. Hinterbliebene überlegten es sich jetzt genau, ob sie ein paar tausend Dollar für einen Sarg ausgeben wollten, wehrten sich gegen zu viel Blumenschmuck, verlangten Preisauskünfte. Hatten sie vorher Angst, geizig zu wirken, fürchteten sie jetzt, sich mit zu viel Extravaganz lächerlich zu machen. Keep it simple, hieß die Devise.

Auch als John F. Kennedy im November in Dallas erschossen wurde, entschied die Familie sich gegen die offene Aufbahrung des Präsidenten. Amerika sah nur den mit einer Fahne zugedeckten schlichten Sarg. Bobby Kennedy hatte „The American Way of Death“ gelesen.

Jahrzehntelang hielt Jessica Mitford, mit Demonstrationen am eigenen Körper, Vorträge zum Thema, jedes Mal so frisch und lebendig, als wäre es das allererste und nicht das 185ste Mal. Das Publikum tobte. Mit Mitte 40 war Mitford das, was sie schon als Kind sein wollte: ein Clown. Ein kapitalismuskritischer. Sie selber hat ordentlich proftiert: „I milked the subject for all it was worth.“

Als die Kettenraucherin und Wodkatrinkerin 1996 nach einem prallen Leben mit 78 Jahren starb, würdigte sie auch der „Funeral Monitor“ mit einem Nachruf unter der Überschrift „A Farewell to Arms“. Auch das hatte das Gewerbe offenbar von ihr gelernt: Humor. Fast hymnisch lobte der Autor ihre Verdienste um die amerikanische Beerdigung, ihren Beitrag zur Qualitätssteigerung. Nur für ihren mangelnden Respekt „for the underlying function of death“ wurde sie leise gerügt. „Trotzdem, sie hat es immer mit so viel Charme und Intelligenz gesagt.“ Langweilig sei sie nie gewesen.

Zur Startseite