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Tereza Onã ist eine moralische Instanz in ihrer Heimatstadt. Rechts im Hintergrund der Zuckerhut.

© P. Lichterbeck

Karrierefrau in Brasilien: Die heilige Tereza der Gosse

Schwarze Frauen habe sehr wenige Chancen für einen gesellschaftlichen Aufstieg. Tereza Onã hat ihn geschafft. Eine Begegnung.

Der Samba-Abend in Rios Stadtteil Santa Teresa plätschert müde vor sich hin, da wird Tereza Onã unter den Zuschauern gesichtet. In der alten Villa schiebt man sie unter „Tereza!“-Rufen auf die Bühne, sie greift sich das Mikrofon und grüßt die Menschen mit kräftiger Stimme: „Boa noite, gente!“ – Guten Abend, Leute! Sofort ist Aufmerksamkeit da, einige hundert Augenpaare taxieren die hoch aufgeschossene Schwarze mit dem Turban. Sie stimmt einen Jongo an, eine afro-brasilianische Musik, die Perkussionisten gehen mit, die Zuschauer singen, die Menge wogt im Rhythmus. Onã hat die Runde gerettet, der Bandleader verbeugt sich.

Es gab eine Zeit, da hätte Tereza Onã es für verrückt gehalten, dass sie einmal auf einer Bühne gefeiert werden würde. „Es war wahrscheinlicher“, sagt die 47-Jährige, „dass ich Putzfrau oder Prostituierte geworden wäre. Oder eines frühen gewaltsamen Todes gestorben.“ Onã wurde in einer Favela geboren, sie ist schwarz und weiblich. In Brasilien sind Geburtsort, Hautfarbe und Geschlecht die besten Indikatoren für die soziale Stellung eines Menschen und seine Chancen im Leben. „Wir leben in einer Kastengesellschaft“, sagt Tereza. „Besonders für schwarze Frauen ist sie extrem undurchlässig.“

Sie hat es geschafft, der statistischen Wahrscheinlichkeit zu entkommen. Sie ist gefragte Mediatorin in einigen der gefährlichsten Favelas von Rio, arbeitet mit misshandelten Kindern und schwangeren Mädchen, koordiniert das Kulturprogramm bei einer renommierten NGO und ist Menschenrechtsvermittlerin bei Amnesty International. „Aber in erster Linie“, sagt sie, „bin ich schwarze Frau und Mutter“.

Tereza Onã läuft, als sie ihre ungewöhnliche Geschichte erzählt, durch die Gassen von Santa Teresa, einem der grünsten und wegen seiner alten Häuser auch schönsten Stadtteile Rio de Janeiros. Tereza lebt seit einigen Jahren hier. Manche scherzen, sie sei die Heilige des Viertels. Vielleicht braucht man etwas von einer Heiligen, um bei dem, was Onã erlebt hat, nicht zu verbittern.

Als sie 13 Jahre alt war, hatte sie genug von der Hölle, die sich Zuhause nennt. Es ist das Jahr 1979. Sie wusste nicht wohin, nur, dass es überall woanders besser sein musste als hier an der Peripherie Rios. Als Älteste von drei Geschwistern kümmerte sie sich um den Haushalt, so ist es Tradition in den armen Familien. Sie tat das gewissenhaft, aber ihrer Mutter, einer Alkoholikerin, war nichts recht. Sie schlug Tereza: ins Gesicht, auf die Ohren, mit dem Kopf auf den Tisch. „Oft habe ich im Krankenhaus gelogen, ich sei gegen eine Laterne gerannt“, erinnert sie sich.

Ihr Vater betrog die Mutter mit einer Frau, die er im Haus einquartiert hatte, und behauptete, es sei seine Schwester. Er verbot Tereza vieles, was ihr Freude machte: romantische Musik hören, Telenovelas schauen, mit anderen Kindern spielen. „Er fürchtete, ich könnte mich verlieben und schwanger werden“, sagt Tereza. Einmal erwischt er sie mit einem Radio unter der Bettdecke und zerschlägt es.

Mit 13 Jahren steht sie an einem Bahnhof im Vorort der Millionenstadt. Sie nimmt einen Zug Richtung Zentrum. Als sie den Turm einer katholischen Kirche sieht, steigt sie aus. Zum ersten Mal schläft sie auf der Straße, deponiert ihre Sachen in einem Imbiss, bettet sich auf Pappkartons. Tagsüber bettelt sie um Essen, abends geht sie in die Kirche und betet. Sie arrangiert sich mit den „Herren der Straße“, einer Jugendbande, für die sie Drogen ausliefert. Wenn Tereza Hunger hat oder friert, schnüffelt sie Klebstoff. Als sie einmal nach Hause fährt, um Kleidung zu holen, bittet ihr Vater sie unter Tränen zu bleiben. Sie geht fort.

In Santa Teresa kommt sie nun an einem Graffito vorbei. Es zeigt ein stolzes schwarzes Mädchen, auf deren Hemd der Satz steht: „Schön ist die Frau, die kämpft.“ Tereza Onã will ein Foto, posiert neben dem Spruch. Das Mädchen könnte so alt wie sie sein, als sie von zu Hause fortlief.

Mit den Monaten erweitert Tereza ihren Radius, gelangt ins Zentrum von Rio de Janeiro. Im Vergnügungsviertel Lapa lässt sie sich mit Männern ein. Nicht für Geld, sondern für ein Abendessen. „Aber ich behielt meine Jungfräulichkeit, das war wichtig für mich“, sagt Tereza Onã. Sie entdeckt noch etwas anderes: die Nationalbibliothek. Seit sie weggelaufen ist, war sie nicht mehr in der Schule, nun verbringt sie ganze Nachmittage unter edel-hölzernen Bücherregalen, liest „Hundert Jahre Einsamkeit“, „Schöne neue Welt“, „Die Herren des Strandes“. Sie sagt: „Die Bücher wärmten mich.“

Auf dem Hügel von Santa Teresa, wo die Luft kühler weht als unten in der stickigen Innenstadt, drehen sich die Ladenbesitzer nach Tereza Onã um. Sie grüßt sie mit Vornamen wie auch einen Obdachlosen und die Motorradtaxifahrer an der Ecke. Ihre afrikanischen Wurzeln stellt Tereza offen aus, trägt einen Rock aus Mosambik und Armreifen. Passanten kommen auf sie zu, umarmen sie, zwei Küsse. „Ach, Tereza, du bist die Schönste!“

„Mit 17 passierte etwas Furchtbares“, fährt sie fort, sie spricht etwas leiser, damit es nicht jeder auf der Straße hört. Eines Nachts stoppt ein Auto neben ihr, der Fahrer stellt sich als evangelikaler Prediger und Radiomoderator vor. Er hätte einen Job für sie im Sender. Als Tereza am nächsten Tag vorbeischaut, nimmt er sie anschließend in seinem Wagen mit. Er gibt ihr Orangensaft zu trinken. Kurz darauf ist Tereza wie gelähmt. Der Prediger versucht, sie zu vergewaltigen, aber sie schafft es, mit letzter Kraft zu entkommen und bricht zusammen. Als sie wenige Tage später zum Sender fährt, erzählt ihr ein Tontechniker, dass sie nicht das erste Mädchen sei, das der Moderator betäubt habe – und sie keine Chance mit einer Anzeige hätte. Wer glaubt einem Straßenkind?

„Der Rassismus steckt im System“, sagt Onã. „Es macht schwarze Frauen zu Opfern.“ Tatsächlich haben sie die niedrigste Einschulungsrate und bilden eine kleine Minderheit auf den Universitäten. In der brasilianischen Politik kommen sie so gut wie nicht vor. Stattdessen schuften sie zu Millionen, um ihre Familien zu unterhalten. Sie bilden das Rückgrat Brasiliens. Jeden Morgen drängen sie sich in die Züge aus Rios armer Nordzone in den Süden, wo sie in den Appartements der Reichen putzen und kochen. Gleichzeitig sind sie überproportional von Gewalt und Mord betroffen. „Sie sind die wahren Heldinnen Brasiliens“, sagt Onã.

Der Techniker, den sie im Sender getroffen hat, verschafft ihr einen Job als Pflegerin bei einer bettlägerigen Frau und ihrem Mann. Sie bekommt ein Zimmer bei dem Paar. Einmal legt der Mann sich nachts zu Tereza und streichelt sie. Sie stellt sich schlafend, sie will ihren Job nicht verlieren. „Das typische Dilemma vieler Hausmädchen“, sagt sie. Nach einigen Wochen hat sie die Nase voll und verlässt die Familie.

Jeden Sonntag geht sie in die katholische Kirche, wo der Pfarrer die Befreiungstheologie predigt. Er versteht das Evangelium als Aufforderung zum Kampf gegen Armut und Ungerechtigkeit. Tereza engagiert sich in der Gemeinde und organisiert Bibelkreise und Basisgruppen. Mit 20 Jahren lernt sie ihren ersten Mann kennen, einen Ingenieur, halb Weißer, halb Indio. Kurz darauf bekommt sie eine Tochter. Die Ehe zerbricht, weil die Familie ihres Mannes keine Schwarze in der Familie will. Einmal sagt eine Verwandte zu ihr: „Du bist sehr schlau, Negra. Hast dich in unsere Familien reingeschlafen.“

Zur selben Zeit wird sie auf einer Musikakademie angenommen, bildet ihre Stimme aus und begeistert bei einem Auftritt Augusto Boal, den Begründer des Theaters der Unterdrückten. Fortan steht sie mit seiner Truppe auf der Bühne. „Ich bin durch alle Türen hindurchgegangen, die sich mir öffneten“, sagt sie, „ohne zu wissen, was mich dahinter erwartet.“

Über das Theater lernt Onã Politiker der jungen Arbeiterpartei PT kennen, die sie als Beraterin engagieren. Sie legt sich einen Kampfnamen zu: Dandara, eine entlaufene Sklavin, die gegen die Kolonialherren kämpfte und sich nach ihrer Gefangennahme das Leben nahm. „Mit Dandara wurde ich zur Schwarzen. Ich wurde mir meiner sozialen Stellung bewusst. Unser krauses Haar gilt als böse, man betrachtet uns als Nutten und Sexbomben. Wir müssen jeden Tag um unsere Rechte kämpfen.“ Auf ihrem unwahrscheinlichen Lebensweg schließt Tereza Freundschaft mit dem Gouverneur von Rio de Janeiro. Der konservative Politiker lädt sie zu Familienfeiern ein und schreibt ihr E-Mails. Als linke Demonstranten einmal tagelang vor seiner Wohnung Stellung beziehen, fragt er sie, was er falsch mache. Onã sagt: „Ihr lebt eure Leben in einer kleinen weißen abgeschotteten Welt. Ihr kennt Brasilien nicht.“

Es ist dunkel geworden. Onã erhält einen Anruf. Sie ruft ein Taxi, lässt sich zum 20 Minuten entfernten Complexo da Maré fahren, Rios größter Favela. Die Bope, eine Elite-Einheit der Polizei, ist eingerückt. Es heißt, sie wolle Rache nehmen für einen getöteten Kollegen. Onã arbeitet seit Jahren in der Maré, sie kennt die Bewohner, die Crack-Zombies, die Prostituierten, die Drogenchefs. Bis in’s Morgengrauen ist sie unterwegs, tröstet verängstigte Menschen. Die Bilanz der Nacht: neun ermordete Bewohner. In den Medien herrscht kurz Aufregung, dann ist die Sache vergessen.

Rio de Janeiro hat mehr als 900 Favelas. In der größten, Rocinha, leben laut Zensus mehr als 69 000 Menschen – übrigens in Sichtweite des Strandes von Ipanema.

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