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Jens Mühling lernt Türkisch: „Patates“ heißt „Kartoffel“

Es ist etwas Trauriges zu melden aus der Kreuzbergstraße. Pissnelke ist tot.

Der kleine, süße Hund, den alle im Kiez kannten, weil er mit seinem Herrchen immer vor dem türkischen Backladen gegenüber vom Viktoriapark saß, wurde von einem Auto überrollt, auf dem Zebrastreifen Ecke Möckernstraße. Er starb, weil er so klein war, dass die Fahrerin ihn einfach übersah.

Pissnelke hieß in Wirklichkeit natürlich nicht Pissnelke. So nannte ihn nur die türkische Bäckerin, aber sie tat es so zärtlich und ausdauernd, dass der Name hängen blieb, er klang nicht mehr wie ein Schimpfwort, sondern wie ein Kosename.

Im Backladen liegt jetzt eine Unterschriftenliste aus. Erst dachte ich, es handele sich um eine Art Kondolenzbuch, und überlegte schon, wie man angemessen sein Beileid für einen Hund ausdrückt, zumal für einen Hund namens Pissnelke. Bei näherem Hinsehen merkte ich dann aber, dass die Unterschriftenliste an die Bezirksverwaltung gerichtet ist. Die Anwohner fordern anlässlich Pissnelkes Tod, den Zebrastreifen Ecke Möckern- und Kreuzbergstraße mit einer Fußgängerampel zu sichern, oder wenigstens mit einer Temposchwelle. Ich habe unterschrieben.

Pissnelkes Herrchen, ein beleibter Serbe namens Boban, ist seit dem Unfall sichtlich abgemagert, der arme Kerl hat mitansehen müssen, wie sein Liebling auf dem Zebrastreifen verblutet ist. Inzwischen hat er zum Glück ein neues Hündchen, einen kleinen, schwarzen Mischling mit spitzen Milchzähnen, Bobans Unterarm ist voller Bissspuren. Zusammen sitzen die beiden nun wieder vormittags vor dem Backladen, und Boban wirkt einigermaßen kuriert. Heute Morgen zeigte er mir grinsend sein Handy, auf dem ein Youtube-Video lief, das ihn seit Tagen erheiterte.

Im Video sieht man einen Straßenmusiker, vermutlich südosteuropäischer Herkunft, der vor einer Caféterrasse steht und ein klagendes Lied singt, dazu spielt er Akkordeon. Es klingt nicht besonders gut. Irgendwann läuft von rechts ein kräftiger Mann ins Bild, der dem Musiker wortlos einen Stuhl über den Schädel haut. Der Musiker geht zu Boden, der andere Mann kehrt in der plötzlich eingetretenen Stille an seinen Tisch zurück, wo er ungerührt ein Handy-Telefonat fortsetzt, bei dem ihn die Musik offenbar gestört hat.

Er sagte Z***

Boban lachte sich tot. „Geschieht dem Kerl recht!“, gluckste er. „Was müssen diese Z*** auch alle mit ihrem Geheule nerven!“

„Boban“, wandte ein älterer Trinker aus der Nachbarschaft ein. „Det sacht man nich mehr.“

Boban sah ihn verständnislos an. „Was sagt man nicht mehr?“

„Z***. Det is ne Beleidigung. Die heißen Roma. Oder Sinti.“

„Quatsch, wieso ist das eine Beleidigung? Die heißen Z***. Ich sag zu N*** doch auch N***.“

„Det sacht man ooch nich mehr, Boban. Die heißen Afrikaner. Oder Afro-Amerikaner.“

„Quatsch!“

Ich wollte Boban gerade sagen, dass „Türke“ ja eigentlich auch keine Beleidigung ist, dass es aber weder die Türken noch die Kosovo-Albaner mögen, wenn die Serben die Kosovo-Albaner als „Türken“ beschimpfen – aber dem Trinker fiel eine viel bessere Analogie ein.

„Det is wie mit Kartoffel, Boban. Kartoffel is keen Schimpfwort, für sich jenommen, aber wenn die Türken mir so nennen, denn is et eben doch eens.“

Danach sagte Boban nicht mehr viel. Die Worte des Trinkers schienen ihn nachdenklich gemacht zu haben.

Auch ich war in grüblerischer Stimmung, denn ich fragte mich, wie es wohl Bobans seliges Hündchen gefunden hatte, ein ganzes Hundeleben lang Pissnelke genannt zu werden – wie zärtlich auch immer.

An dieser Stelle wechseln sich ab: Elena Senft, Moritz Rinke, Esther Kogelboom und Jens Mühling.

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