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Jens Mühling lernt Türkisch: „Viyana“ heißt „Wien“

Hätte ich in dieser Angelegenheit etwas zu sagen, ich würde einen sofortigen Einwanderungsstopp verhängen. Es kann doch nicht angehen, dass sich Zugereiste derart breitmachen!

Bevor jetzt Missverständnisse entstehen: Ich rede von der türkischen Sprache, in der sich eine Art Parallelgesellschaft französischer Gastwörter eingenistet hat. Das „Große Türkische Wörterbuch“ führt in seiner aktuellen Auflage knapp 5000 Lehn- und Fremdwörter französischen Ursprungs auf. Zum Vergleich: Aus dem Englischen sind gerade einmal 500, aus dem Deutschen nur klägliche 85 Wörter ins Türkische eingewandert.

Nachgeschlagen habe ich das, weil sich in meinen bisherigen Türkischstunden ein ganz ähnliches Bild ergeben hat. Unser Sprachlehrer Ergün hat uns, so weit ich mich erinnern kann, bisher nur ein einziges deutsches Lehnwort beigebracht, wenn auch ein bezeichnendes: „Otoban“ heißt „Autobahn“. Dagegen lernen wir ständig Ausdrücke, die erkennbar französisch sind, auch wenn sie sich oft anders schreiben: Fahrrad heißt „bisiklet“, Schminke heißt „makyaj“, Kellner heißt „garson“ (interessanterweise auch dann, wenn der Kellner eine Kellnerin ist). Ein Waschbecken ist ein „lavabo“, ein Musiker ein „müzisyen“, Hose heißt „pantalon“, die Haare lässt man sich beim „kuaför“ schneiden, eine Hochhaussiedlung nennen die Türken „site“, betont auf der Endsilbe.

Andere türkische Wörter kommen zwar erkennbar aus dem Lateinischen oder Griechischen, aber man hört ihnen an, dass sie beim Einwandern in die Türkei einen phonetischen Umweg über Frankreich genommen haben: „sempatik“ heißt sympathisch, „otobüs“ heißt Bus, „enflasyon“ heißt Inflation. Das schöne Wort „kilise“ hielt ich erst für eine misslungene klangliche Nachbildung von „Kirche“. In Wirklichkeit ist es eine misslungene klangliche Nachbildung von „église“.

Wie es zu diesen Gallizismen gekommen ist? Verkürzt gesprochen so: Als die Türken 1697 erfolglos Wien belagerten, kam ihr Sultan zu dem Schluss, dass nicht nur die osmanische Armee, sondern das ganze Reich reformiert werden müsse. Er entsandte Studenten ins wissenschaftliche Zentrum Europas: Paris. Als die jungen Männer heimkehrten, brachten sie neben vielen neuen Ideen und Technologien auch einen ganzen Haufen französischer Wörter mit, die in ihren Ohren nach Moderne und weiter Welt klangen. Selbst die Stadt Wien, vor deren Toren alles begann, bezeichneten die Türken fortan mit dem französisch geprägten Namen „Viyana“.

Umgekehrt sind übrigens nur wenige Wörter aus dem Türkischen ins Französische eingewandert. Das bekannteste Beispiel ist das osmanische Wort „kösk“, aus dem im Französischen „kiosque“ wurde. Aus Frankreich wanderte das Wort weiter nach Deutschland, wo seine sprachlichen Wurzeln in Vergessenheit gerieten. Nicht einmal die Türken dürften es wiedererkannt haben, als sie ihm nach Deutschland folgten und hier die ersten Kioske eröffneten. Die Wege der Migration sind unergründlich.

Ich frage mich, was wohl passiert wäre, wenn 1697 alles anders gekommen wäre. Die Modernisierung der Osmanen hätte dann womöglich nicht über den Umweg Frankreich stattgefunden, sondern einen österreichischen Beigeschmack gehabt. Kellner hießen dann auf Türkisch „öber“, ein Kaffee wäre eine „melonj“, dazu bekäme man eine kleine „melspayse“ serviert, kurz: Ich müsste mir im Unterricht keine malträtierten Gallizismen einprägen, sondern hätte es mit leicht erkennbaren deutschen Lehnwörtern zu tun. Ach, hätten die Türken doch bloß Wien eingenommen!

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