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Tagesspiegel-Kolumnistin Katja Demirci.

© Mike Wolff

Katja Reimann macht sich locker: Die Ruhe und der Sturm

Das Schönste am Yoga ist manchmal, dass es vorbei geht.

90 Minuten lang hat man sich gequält und verbogen, um dann endlich, rücklings ausgestreckt, ganz ruhig liegen zu bleiben. Ausatmen. Shavasana.

Totenstellung, so ungefähr heißt Shavasana übersetzt – und vielleicht sehen wir am Ende des Kurses tatsächlich aus wie abgedeckte Leichen in einer Turnhalle, wie wir dort liegen unter unseren Fleece-Yoga-Decken. Ich hab noch nie den Kopf gehoben, um mir das anzuschauen. Ich habe genug mit meiner Entspannung zu tun.

Mein Lehrer sagt, wir sollen „loslassen“, und ich bemühe mich. Alles an mir ist so losgelassen, dass es loser gar nicht mehr geht. Sogar die Haare sind lose, nirgendwo eine Klammer. Nur: Sie will sich nicht einstellen, die Entspannung.

Eineinhalb Stunden lang habe ich mich so sehr darauf konzentriert, dass meine Zehen gespreizt sind und meine Schulterblätter zusammengepresst, die Fußballen angehoben und der Kiefer locker, alles nach Anweisung. Sogar geatmet habe ich auf Kommando. Entspannen, ganz allein, überfordert mich.

Sobald ich auf dem Rücken liege wie eine Wasserleiche, die Arme links und rechts, überschwemmen mich Gedanken. Nur an Entspannung ist nicht zu denken.

Nachdem ich sehr lange sehr angestrengt zu entspannen versucht hatte, gab ich auf. Man soll ja beim Yoga sowieso nur das machen, was einem guttut, und vielleicht ist diese Entspannung nichts für mich. So wie auch der Kopfstand nichts für mich ist oder der Spagat. Geht nicht. Punkt. Seitdem ist es besser.

Neulich hörten wir während des Shavasana Musik. Plötzlich erklang eine Stimme vom Band. Sie sprach Englisch. „Appreciation“, sagte sie, und sofort begann ich zu überlegen, ob Wertschätzung wirklich die richtige Übersetzung sei. Appreciation also sei der Schlüssel zur Liebe. Sie sagte natürlich: „the key to love“. Leise quietschte die U-Bahn, die vor den Fenstern des Studios in eine lang gezogene Kurve fährt. Ich dachte an draußen, an appreciation und love und kam zu der Feststellung, dass es weder vom einen noch vom anderen besonders viel gebe in dieser großen Stadt.

Ich versuchte mich an Situationen zu erinnern, in denen ich in der vergangenen Woche jemandem die Tür aufgehalten hatte (zwei Mal). Oder jemandem den Weg gewiesen (ein Mal). Ich kam auf insgesamt drei Euro gegebenes Trinkgeld für zwei Besuche im Café, 50 Cent für den Punk an der Commerzbank und ein Lächeln für die entzückende Verkäuferin der Bäckerei um die Ecke. Eine magere Bilanz.

Ich merkte, wie mein Kiefer verspannte. Vorsichtig schnitt ich eine Grimasse.

Etwa eine Viertelstunde später verließ ich leichtfüßig das Yoga-Studio, zum Äußersten entschlossen. Ich nahm mir vor, meinen Mitmenschen mit mehr Liebe zu begegnen, mochte der Tag auch noch so stürmisch sein. Einfach mal ein bisschen Wertschätzung in diesen Berliner Alltag tragen. Es würde kein leichter Weg sein, aber einer musste schließlich anfangen. Sieg der Sanftmut. So stellte ich mir das vor.

Als ich wenige Meter weiter an einer roten Ampel stand, trafen mich zusammengeschleimte Papierklümpchen an der Schulter, abgeschossen vom Bürgersteig gegenüber, aus den Spuckrohren zweier kleiner Jungs. Die standen da und lachten. Rannten nicht mal weg, rotznasige kleine Biester. Ich betrachtete die Sache als ersten Test meiner neu gewonnenen Entspanntheit, schritt, selbstverständlich demonstrativ bei Grün, über die Straße und ging lächelnd an ihnen vorbei. Das nächste Kügelchen traf mich im Genick.

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