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Tagesspiegel-Kolumnistin Katja Demirci.

© Mike Wolff

Katja Reimann macht sich locker: Wie mit Yoga die Nase frei wird

Seit einiger Zeit sehe ich gelegentlich einen Mann mit Brille im Yogastudio. Er trägt sie bei allen Übungen – allen. Ich kenne sonst niemanden, der beim Yoga eine Brille trägt. Mir scheint der Sport so brillenträgerunfreundlich zu sein wie Schwimmen oder Boxen.

Neulich turnte er schräg vor mir, und ich beobachtete mit Erstaunen, dass die Brille in der ganzen Zeit nicht nennenswert verrutschte. Dann war die Stunde vorbei. Wir standen alle im hinteren Teil des Raumes, um uns umzuziehen, als ein kleiner kompakter Kerl auf ihn zusteuerte. Offensichtlich hatte auch er die Brille bemerkt.

Man soll sich selbst beobachten beim Yoga, hineinlauschen in den eigenen Körper. Nur funktioniert das oft nicht. Es ist ja auch so voll. Man kann nicht anders, als auch mal wen anzusehen. Den Po, der vor einem turnt, zum Beispiel. Unvermeidbar, ich schwöre. Ich bin diskret. Der kleine Mann aber sagte: „Du bist wohl der Intellektuelle unter den Yogis.“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich verstand, dass dies die bösartigste Beleidigung ist, die ein kleiner, muskulöser Mann zu einem großen, wenig muskulösen Mann mit Brille hinaufrufen kann.

Ich habe ein Buch zu Hause, das mir Freunde schenkten, als ich mit dem Yoga begann. „The Complete Illustrated Book of Yoga“, die erste Auflage wurde 1960 in New York gedruckt, geschrieben hat das Buch – das hielten sie für besonders vertrauenswürdig – ein Inder. Swami Vishnu-devananda, geboren 1927 in Kerala, Experte des Hatha Yoga, war erst 30, als ihn sein Guru in die westliche Welt schickte mit den Worten: „Die Menschen warten.“

Ich nehme an, dass es der Autor selbst ist, der, in Unterhose, auf zahlreichen schwarz-weißen Bildern die wichtigsten Positionen nachturnt und dabei entspannt in die Kamera schaut. Ich fürchte, dass es der Autor ist, der auf den ersten Seiten zeigt, was im Weiteren als „nasal cleaning“ bezeichnet wird: das langsame Einführen eines breiten Fadens durch die Nase, hinunter in den Rachen und das vorsichtige Herausziehen desselben durch den Mund. Ähnliches Prozedere soll noch mit ganz anderen Körperteilen funktionieren, ich habe das nicht alles gelesen.

Vishnu-devanandas Yoga-Zentren sind inzwischen auf der ganzen Welt vertreten, ihr Gründer war außerdem ein engagierter Aktivist. Im Herbst 1983 überflog er mit einem Segelflugzeug gen Osten die Berliner Mauer. Aus dem Himmel warf er Blumen und Flugblätter herab. „Swami Vishnu-devananda“, so steht es in meinem Buch, „verpflichtete sich dem Weltfrieden und der Brüderlichkeit.“

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Swami Vishnu-devananda sowohl für das Yoga als auch für den Westen einiges getan hat. Denn man mag vom Yoga halten, was man möchte, vom Reinigen der Nase mittels getränkter Fäden ohnehin, Friede ist und bleibt ein nobles Ziel.

Ich muss zugeben, dass ich an Swami Vishnu-devananda an jenem Tag nicht wegen des Friedens dachte, sondern tatsächlich wegen meiner Schnupfennase. Als direkt neben mir die schlimmste Beleidigung unter Männern fiel, die ich je gehört hatte, suchte ich in meiner Sporttasche nach einem Taschentuch.

Entrüstet fingerte ich die Packung Tempos aus der Tasche. Hatten wir nicht gerade 90 Minuten lang alles dafür getan, ins Gleichgewicht zu kommen? Balanciert. Entschlossen den Blick nach innen gerichtet und dort im Idealfall ein bisschen Frieden gefunden. Den aufs Spiel setzen wegen ein paar Dioptrien?

Der Mann mit der Brille blickte auf den Mann ohne Brille hinunter. Dann ging er aufrecht und mit einem einzigen großen Schritt an ihm vorbei. Ich zückte ein Taschentuch und schnäuzte mich laut.

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