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Erinnerungen an die Gegenwart: Eine kleine Hymne auf Udo Jürgens

In der Heiligen Nacht bin ich mit einem Ohrwurm aufgewacht. Nicht „O du Fröhliche“ oder „Es ist ein Ros’ entsprungen“, sondern „Ich war noch niemals in New York“.

In der Heiligen Nacht bin ich mit einem Ohrwurm aufgewacht. Nicht „O du Fröhliche“ oder „Es ist ein Ros’ entsprungen“, sondern „Ich war noch niemals in New York“.

Ich war bei der Nachricht vom Tod Udo Jürgens nicht in Tränen ausgebrochen, ich war traurig, ja, aber gefasst. Ich mache es immer so, dass ich mir für jene verstorbenen Künstler Zeit nehme, deren Tod überall verkündet wurde, die mir aber nie so nah gekommen waren. Im vergangenen Jahr habe ich mir Folkmusik von Pete Seeger angehört („Songs of Hope and Struggle“); ich hörte auch Flamenco von Manitas de Plata, den man das „Silberhändchen“ nannte; ferner sah ich Filme mit Karlheinz Böhm („Martha“, „Sissi“).

Die Schauspielkunst von Gert Voss und Philip Seymour Hoffman kannte ich, ebenso Guntram Brattias epochale „Romeo und Julia“-Balkonszene, auch „Raumpatrouille“ mit Dietmar Schönherr als Kommandant des Raumkreuzers Orion oder „Die Deutschstunde“ von Siegfried Lenz, ganz zu schweigen von den Werken des geliebten Gabriel Garcia Marquez. Doch zurück zu Udo Jürgens. Wenn man also in der Heiligen Nacht aufwacht und offenbar schon im Schlaf „Ich war noch niemals in New York“ vor sich hin gesummt haben muss – dann muss es sich um einen großen Künstler gehandelt haben.

Das Lied hatte ich ein paar Tage vorher auf dem Balkon in Antalya gehört, ich bin seit Wochen bei meiner muslimischen Verwandtschaft. Unter dem Balkon ist ein Schlachter, mit dem ich seitdem auf Kriegsfuß lebe, weil er von frühmorgens bis spätabends ohne Ladenschlussgesetz permanent Fleischteile zerhackt, so dass der ganze Balkon vibriert, nur dann nicht, wenn der Schlachter gerade beim Muezzin nebenan zum Beten ist; das ist genauso laut, nur anders laut. Ich bin wirklich ein großer Anhänger des Islam, aber es gibt für Schlachter und Gläubige keine Lärmschutzverordnungen, meinetwegen können diese traurigen Pegidas in Deutschland ja dagegen demonstrieren, der Rest ist dumm, doch zurück zu Udo Jürgens.

Offen gestanden sollte Udo Jürgens meine Rache sein, ich drehte auf dem Balkon so laut, dass in der ganzen Schlachterei Udo Jürgens nicht zu überhören war. Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii, ging nie durch San Francisco in zeriss’nen Jeans.

Der Schlachter lief raus, schaute zu mir herauf auf den Balkon und rief, allerdings nicht wie Romeo: „Bunu kopyala, kuzuyu al!“, das heißt so viel wie: „Mach mir Kopie, dafür kriegst du Lamm!“

Es gibt offenbar Lieder, die sind so einfach und klar und streicheln die Seele einen Augenblick so, dass wir schon einen großen Kopf brauchen oder einen Muezzin oder einen deutschen Feuilletonkritiker, um uns diese Regung wieder auszutreiben. Die Deutschen sind Spezialisten dieser Austreibungen. Sobald ein Lied, ein Film oder ein Buch eine einfache Sehnsucht ausdrückt und für einen Moment das Antrainierte der undressierten Seele weicht, kommt sofort der deutsche Kunstverstand. Darf man das? Ist es nicht zu ungebrochen? Unreflektiert? Erst mal abwarten, was die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ dazu sagt.

Kein Wunder also, dass ich Udo Jürgens lieber schlafend singe.

Seit Jahren träume ich übrigens von folgender Interview-Situation:

– Herr Rinke, wie schreiben Sie?

– Mit Abba.

– Wie bitte?

– ABBA!

– Ah, Sie meinen mit dem ABER des Schriftstellers, das ABER als ein Schreiben, das gegen die Gesellschaft anschreibt?

– Ja, auch, aber mit ABBA! Usw.

Und ich weiß natürlich, warum meine deutschen Freunde an Silvester ABBA immer erst dann auflegen, wenn sie betrunken sind.

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