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Erinnerungen an die Gegenwart: Zwei Päpste und ein Mädchen

Marcel Reich-Ranicki habe ich das erste Mal gesehen, da war ich 22.

Er stand auf der Probebühne der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen und hielt eine Laudatio auf seinen polnischen Freund Andrzej Wirth, der mein Professor war und die Angewandten Theaterwissenschaften erfunden hatte. Was Reich-Ranicki in dieser freigesprochenen, 90 minütigen Laudatio vollbrachte, war das beste Theaterstück, das ich im Raum Hessen bis dahin auf der Bühne gesehen hatte.

Wie dieser Mann in 90 Minuten auf einer Probebühne die ganze Zeitgeschichte umfasste: Warschauer Ghetto, der Aufstand, die Erschießungen, der Holocaust, Hitler und immer wieder, trotz allem, diese unfassbare Liebe: Goethe, Thomas Mann, Brecht. Er zitierte Fontane, Heine, Koeppen, Hermann Burger, Max Frisch, sogar Handke, Walther von der Vogelweide, kreuz und quer, oft mehrere Minuten, frei, ansatzlos, mit stechender, alle erreichender Stimme und rollendem „R“.

„Von welcher Bühne kommt dieser Schauspieler?“, flüsterte ein Kommilitone. – „Von der ,Faz’!“, murmelte ein anderer.

Der Mann auf der Bühne vermischte die Literatur mit Berichten von gemeinsamen Fluchten mit meinem Professor auf Pferdeanhängern, gestohlenen Motorrädern ohne Führerschein; er berichtete vom polnischen Geheimdienst, der Gruppe 47, von Ulrike Meinhof und Willy Brandt; er dozierte über Friedrich Schlegel, Gombrowicz, Mrozek, Tschechow, dessen „Dame mit dem Hündchen“, Tolstoi, Schiller, Richard Wagner, Homer, Sophokles, Ulla Hahn, also eigentlich über alle, auch über Tadeusz Kotarbinski, den Repräsentanten der polnischen Logik-Schule, dem beide nahestanden.

Ja, logisch war uns Studenten in diesem rasanten Reich-Ranicki-Stück

alles, es ging rauf und runter, kreuz und quer inklusive Sarah Kirsch, aber es war wunderbar logisch, anti-elitär, anti-professoral und so erfrischend undeutsch. Und dann kam das, was wir Theaterstudenten von Shakespeare schon wussten: ein wirklich großes, lebendiges Stück besteht aus dem „Mingle-Mangle“, dem Mischmasch, das ich an diesem Probebühnenabend zum ersten Mal begriff: aus Hohem, Niederem, Tragischem, Komischem, Pastoralem, Profanem. Also erzählte Reich-Ranicki aus der Studienzeit in Warschau und der Weiberjagd mit meinem Professor und dem Papst, jawohl!, Karel Wojtyla, der ja Theaterdichter werden wollte – und noch heute höre ich Reich-Ranickis herrlichen, lebensschönen Satz und seine wundervolle Stimme über die Erfolgswerte des bunten Trios in den Wiesen um Warschau: „Und der Papst, liebe Studenten von Gießen, war nicht der schlechteste!“ Jetzt machte er einen kleinen Satz, einen Sprung, er tanzte vor Freude über diese unerhörte Wendung.

„Ich und der Papst küssten dasselbe Mädchen und Gott wird es bezeugen!“, dabei ließ er seinen Finger erhoben mitschwingen, so als halte er eine Predigt an das Heiligste, das eben begreifen müsse, dass nichts, gar nichts auf dieser Welt unfehlbar sei. Der Rest war Jubel.

„Lieber Herr Reich-Ranicki, stimmt denn das alles, auch mit dem Papst?“, fragte ich danach, ganz vorsichtig, als wir aus Pappbechern getrunken hatten.

„Wenn Sie später gute Geschichten schreiben wollen, die vom Leben handeln und lebendig sind, müssen Sie Ihrer Fantasie vertrauen!“, entgegnete Reich-Ranicki, seine Frau nickte ebenfalls mit dem Kopf.

Ich weiß bis heute nicht, ob es wirklich stimmt mit ihm, dem Papst und dem Mädchen, aber der Satz über den Zusammenhang von Lebendigkeit und Fantasie hat mir immer sehr viel bedeutet.

An dieser Stelle wechseln sich ab: Elena Senft, Moritz Rinke, Esther Kogelboom und Jens Mühling.

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