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Autor Harris in London.

© Ulf Lippitz

Krimi-Autor Oliver Harris: Londoner Verschwörung

Thriller-Autor Oliver Harris entdeckte in seiner Jugend einen seltsamen Bau: einen Bunkereingang in Nord-London. Seitdem ist er fasziniert vom Untergrund der britischen Metropole. Er recherchierte und stieß auf ein Tunnelsystem – wie geschaffen für geheime Machenschaften.

Was in den vergangenen Jahren alles in die Höhe geschossen ist: The Shard, das Leadenhall Building oder der Broadgate Tower. London, so scheint es, kennt im Moment nur eine Richtung – himmelwärts. Was selbst Londoner oft nicht wissen: Auch unter der Erde wurde jahrelang gegraben, gebuddelt und gebaut. In den 40er und 50er Jahren errichtete die Regierung Bunker, Schutzräume und möglicherweise ganze Einrichtungen, um die Stadt erst vor deutschen Luftangriffen, dann vor eventuellen Atombomben zu schützen.

Oliver Harris hat an diesen teils geheimen Orten nun einen Thriller angesiedelt. „London Underground“ erzählt von einem ganzen Tunnelsystem, einer Stadt unter der Stadt, in die Menschen abtauchen, in der Verdächtige verschwinden und natürlich eine Regierungsorganisation mitmischt. Erst vor zwei Jahren hat der 36-jährige Londoner seinen Erstlingsroman veröffentlicht, „London Killing“ wurde von der „Zeit“ als „rasantes Debüt“ gelobt. Es ist wie sein Nachfolger ein Buch, in dem die britische Hauptstadt nicht bloß Tapete, sondern Teil der Geschichte ist.

Die Bücher von Oliver Harris haben einen simplen Ausgangspunkt: Hinter jeder Fassade lauert ein Geheimnis. Zum Beispiel an der Tottenham Court Road, 20 Minuten Fußmarsch von der geschäftigen Oxford Street entfernt, nahe der U-Bahnstation Goodge Street. Oliver Harris will an dieser Stelle seinen Rundgang durch London beginnen, eine Tour, auf der es um Bunkereingänge, den Kalten Krieg und Verschwörungstheorien geht.

Die Tottenham Court Road ist der Ausgangspunkt

Am Treffpunkt steht ein halbrunder Ziegelsteinbau, zurückgesetzt von der Straße, keine Fenster, keine Schilder, eine schmale Rampe führt zu einer Stahltür. Ist das nicht? „Ja, das ist ein Bunkereingang“, bestätigt Oliver Harris ein paar Minuten später. Er trägt ein weißes T-Shirt, Jeans, ein Rucksack hängt an einem Gurt über seine Schulter. Es ist einer der letzten warmen Tage in diesem Jahr, hunderte Menschen eilen vorbei, ohne den Bunker zu bemerken. Als wäre er unsichtbar. Die perfekte Tarnung. Wer wohl sonst über diesen Weg in die Tiefe hinabsteigt?

Oliver Harris hat die Tottenham Court Road als Ausgangspunkt ausgewählt, weil das Bunkergebäude so typisch ist. Es wurde im Stil des Brutalismus gebaut, eine Art Trafohäuschen mit halbrundem Betonanbau, oben anstatt eines Schornsteins ein Lüftungsschacht, keine Fenster, nur Schlitze. So wie dieser Eingang sehen auch andere Bunkerzugänge aus den 40er Jahren überall in der Stadt aus. Nur kennt kaum noch jemand deren Geschichten. „Wir besitzen ein Halbwissen über unsere Stadt“, sagt Harris.

Zeit für ein paar Fakten. In den frühen 40er Jahren wurden überall Schutzräume in London gebaut, um Regierung und Bevölkerung schnell in Sicherheit bringen zu können. Nach dem Zweiten Weltkrieg liefen die Arbeiten weiter, weil mit der Atombombe eine neue Gefahr aufgetaucht war – nur waren sie dieses Mal geheim. Niemand sollte wissen, wie Regierung und königliche Familie im Notfall evakuiert werden könnten.

Um die Kommunikation in Kriegszeiten aufrechtzuerhalten, beschloss die britische Regierung, unterirdische Telefonvermittlungen einzurichten. Jeder der vier hatte einen Codenamen: Zitadelle lautete der für die Vermittlung im Faraday Building (Nordosten), Fortress in Moorgate (Osten), Rampart nahe der Waterloo Station (Süden) und Bastion in Covent Garden (Zentrum). „Alle sind durch Tunnel miteinander verbunden“, sagt Oliver Harris. Möglicherweise existierte sogar eine unterirdische Eisenbahnlinie raus aus London. Da diese Anlagen nach wie vor nicht öffentlich zugänglich sind, führt Oliver Harris notgedrungen überirdisch durch die Stadt – und spekuliert, was dort unten eigentlich vorgefallen ist oder nach wie vor geschieht.

Er nennt sich selbst einen "Untergrund-Nerd"

Autor Harris in London.
Autor Harris in London.

© Ulf Lippitz

Hat sich das auch Nick Belsey, der Protagonist in den Büchern von Oliver Harris, gefragt? Der Londoner Polizist, ein höchst verkommenes Exemplar seines Berufsstandes, das kokst, säuft und Verdächtige vögelt, hat aus Versehen den Eingang zu einem Nachkriegsbunker im Norden Londons entdeckt. Dorthin entführt ein Unbekannter Belseys Gelegenheitsfreundin. Belsey sieht erst mal nur schwarz – wortwörtlich. Nach einer wilden Verfolgungsjagd durch ewig lange Tunnel landet er schließlich in der Bibliothek von St. Pancras, ein paar Kilometer entfernt von der Stelle, von wo er in das Dunkel hinabgestiegen ist.

Oliver Harris kann nicht mit Sicherheit sagen, dass es diesen Tunnel zwischen Belsize Park und dem Bahnhof St. Pancras gibt. Es gab Pläne, eine Express-U-Bahn neben der bereits existierenden Northern Line zu bauen. Die Luftschutzbunker wurden so angelegt, dass man sie später mit Tunneln verknüpfen konnte, allerdings sollen die Pläne nach dem Zweiten Weltkrieg auf Eis gelegt worden sein. „Manche behaupten, die Bunker wurden doch mit Tunneln verbunden“, sagt Oliver Harris. Und lässt die Figuren seines Thrillers durch diese Unterwelt laufen und straucheln

Der Schriftsteller ist der Erste, der zugibt, ein „Untergrund-Nerd“ zu sein. Seit er für das Buch recherchiert hat, kann er durch keine U-Bahn-Station gehen, ohne nach möglichen Verbindungstüren zu geheimen Tunneln zu spähen. Seine Freundin kann seine Theorien nicht mehr hören, Oliver Harris lächelt, als er das erzählt. Er fügt hinzu, dass er nicht glaube, dass in der Unterstadt Londons Verbrechen begangen wurden, aber dass sie aus gutem Grund von der Öffentlichkeit abgeschirmt worden sei. Ob es nur die ganz normale Paranoia des Kalten Krieges war? Harris zuckt mit den Schultern.

Harris ist in Belsize Park, nördlich des Zentrums, aufgewachsen

Der Eingang in Belsize Park, in dem der Polizist Nick Belsey im Buch hinabsteigt, der existiert. In dem Viertel nördlich des Zentrums, eingequetscht zwischen das quirlige Camden und das exklusive Hampstead, ist Harris aufgewachsen. Als er ein Teenager war, fragte er einmal seine Eltern, was denn dieser komische Bau hinter dem Café sei, an dem sie jeden Tag vorübergingen. „Der Eingang zu einem Bunker“, sagte seine Mutter und ging weiter.

Als Harris vor zehn Jahren englische Literatur am University College of London studierte, entdeckte er diesen Bunkerbau an der Tottenham Court Road und erinnerte sich an jenes Gebäude in Belsize Park. Er forschte nach und fand heraus, dass das Gebäude der Nebeneingang zu einem Komplex war, in dem General Eisenhower in den 40er Jahren die Invasion des europäischen Festlands plante. Keine 100 Meter weg von der Goodge Street Station, hinein in das Universitätsviertel mit seinen schnieken viktorianischen Gebäuden, steht in der Chenies Street der Haupteingang. Viel größer und überhaupt nicht versteckt, sondern mitten auf einem Platz, hübsch weiß gestrichen, drumherum parken Autos, an den Wänden lehnen Menschen aus den umliegenden Büros, um zu rauchen.

„Von unten hatte Eisenhower eine Hotline zu Churchill“, erzählt Oliver Harris. Einem Artikel des „Guardian“ zufolge führt der Bunker etwa 32 Etagen in die Tiefe, an den Wänden Graffiti von US-Soldaten. Im Inneren lagert alles Mögliche – von BBC-Dokumenten bis zu unveröffentlichtem Material von John Lennon. Die Firma Recall hat die Anlage gemietet und auf Harris’ Anfrage behauptet, Disketten und Dateien in den Katakomben einzulagern. Es gibt eine Verbindung zur U-Bahn der Northern Line, was natürlich Futter für Spekulationen ist, sich aus diesem Irrgarten dorthin schnell verdrücken zu können.

Ein Objekt noch größerer Hypothesen ist ein Wolkenkratzer, ein paar Schritte die Tottenham Court Road Richtung Süden: der Centre Point Tower. An der Kreuzung zur berühmten Oxford Street, wo Shoppingtouristen wie aufgescheuchte Teenager vor den unbarmherzigen Taxis auf die andere Straßenseite fliehen, baut die Stadt gerade einen neuen Bahnhof. Direkt an der Baugrube steht der Stahl- und Glasbau aus den 60er Jahren. Für Touristen ist es ein Wahrzeichen, für Oliver Harris ein Mysterium. Er erzählt von der Geschichte des Gebäudes, wie es der Immobilien-Milliardär Harry Hyams 1963 bauen ließ, 33 Etagen hoch, damals das höchste Gebäude der Stadt und ein Zankapfel wie heute die Wolkenkratzer in der City.

Als der Turm 1966 fertiggestellt war, blieb er für beinahe zehn Jahre ungenutzt. „Es hieß, Hyams wollte das ganze Gebäude nur an eine Firma vermieten – und nicht jede Etage an jemand anderes.“ Oliver Harris hält inne, ein Moment des Also-bitte. „Wer kann sich erlauben, ein Hochhaus so lange leer stehen zu lassen? Es gab Spekulationen, die Regierung würde ihm Subventionen zahlen, damit sie Centre Point nutzen könnten.“ Der Krimiautor weist auf ein entscheidendes Detail hin: „Das Gebäude liegt direkt über der U-Bahn. Es könnte also einen Zugang zu den Tunneln haben.“ Runter auf den Bahnsteig, rein in den Zug, raus aus London.

Kann es auch harmlos und die Geschichte eine urbane Legende gewesen sein? Oliver Harris nickt. „Aber eine, die auf zu vielen Fakten beruht.“ Inzwischen ist das Hochhaus übrigens voller Büros, es gibt Bars und Restaurants. Und keinen Kalten Krieg mehr, wie Oliver Harris anmerkt.

Er ist bereits vorangeschritten, diesmal geht es Richtung Westen, nach Holborn. Eine Viertelstunde später erreicht er die Chancery Lane, Busse, Taxis und Fahrradfahrer quetschen sich auf dem Asphalt. Harris biegt in eine Seitengasse ein, Gerüste verdecken den Durchgang, wenn jetzt jemand käme, um Harris von hinten in ein Auto zu zerren – es wäre ein passender Moment.

Bekannt sind die Tunnel unter dem Trafalgar Square

Autor Harris in London.
Autor Harris in London.

© Ulf Lippitz

Harris hält vor einem Gebäude in der Furnival Street, ein Backsteinkasten mit hohen Milchglasstreben, darunter ein Lastenzug. So wurde Material hinunter- und wieder hinaufgeschafft, die Regierung baute von dieser Stelle aus den Schutzbunker unter der Chancery Lane als Kommunikationszentrum aus. Tausende Dokumente lagerte sie unterirdisch, hunderte Menschen arbeiteten nach dem Krieg in einer riesigen Telefonvermittlung – mitsamt Bar und Teeräumen für die Angestellten. Oliver Harris holt einen Plan hervor, den jeder im Internet auf der Webseite Subbrit.org herunterladen kann, darauf ist der unterirdische Verlauf zu sehen: ein Tunnel die ganze Straße entlang, mehrere hundert Meter. Post, Public Record Office, alles Regierungsbehörden.

Ein Reporter des „Evening Standard“ durfte 1946 hinunter und sich den Tunnel ansehen. Er berichtete, wie er mit einem Vertreter des Public Record Office, einem Vorarbeiter, fünf Arbeitern, zwei Wachleuten, einem Aufzugführer und einem Elektriker in den Räumen stand. „Wir machten die ganze Bevölkerung dieser Untergrund-Zitadelle aus, die gebaut worden war, um 10 000 zu beherbergen.“ Natürlich liegt diese Anlage gleich neben einer Röhre der U-Bahn, diesmal ist es die Central Line. So langsam versteht man, warum sich Harris ein Szenario wie das von „London Underground“ ausdenken konnte.

Was da unten heute geschieht? Offiziell steht der Tunnel seit Jahren zum Verkauf. „Was genau davon oder wie viel Fläche, ist jedoch nicht bekannt“, sagt Harris. „Ganz sicher sind die Verbindungstunnel blockiert. Gott weiß, was in denen passiert.“ Folterkeller? Gen-Experimente? Oder gar nichts? Oliver Harris klagt die Regierung nicht an, er ist, sagen wir mal, nur misstrauischer als andere. Schließlich durfte er nicht hinuntersteigen, ergo glaubt er: Es gibt etwas zu verbergen.

Wartet unter St. Paul's ein Geheimnis auf seine Entdeckung?

Am nächsten Morgen geht die Spurensuche weiter. Vor der St. Paul’s Cathedral posen bereits Dutzende italienische Teenager für ein Selfie mit dem Mobiltelefon. Gar nicht so einfach, den richtigen Winkel zu finden, damit auch der monumentale Eingang mit etwas Kuppel darauf zu sehen ist. Die Teenager tragen geriffelte Kunststoffjacken und treten zufällig auf Gullydeckel. Ob sie ahnen, dass unter ihren Füßen das größte Geheimnis Londons auf seine Entdeckung warten könnte?

Spekuliert jedenfalls Oliver Harris. Ein Bunker wurde hier bereits 1940 geplant. Als die Grabungen ein Jahr darauf begannen, stießen die Arbeiter auf das Fundament der Kirche – und beendeten die Arbeiten. „Das ist die offizielle Version.“ Harris verweist auf das ehemalige Gebäude der Post mit einem Untergrundbahnhof und die Zentrale der British Telecom mit einer unterirdischen Vermittlung, beide zwei Gehminuten entfernt, beides zwei wichtige Kommunikationsstellen, beide bis in die 80er Jahre in den Händen der Regierung. „Da muss es einfach etwas unter St. Paul’s geben.“ Davon ist Harris überzeugt.

Bekannt sind dagegen die Tunnel unter dem Trafalgar Square, einer der Verkehrsknotenpunkte im Zentrum. Auf dem Pflaster thront die Säule mit der Statue von Lord Nelson, darunter treffen verschiedene U-Bahn-Linien aufeinander. Von hier aus sind es fünf Minuten zur Downing Street, wo der Premierminister sitzt. In der Nähe liegen die einzigen Bunker, die Touristen besuchen können: die Imperial War Rooms, der Luftschutzkeller von Winston Churchill und seinem Stab. Oliver Harris hat ihn besucht. „Klaustrophobisch“, fand er. „Die Mitarbeiter lösten sich damals nach Zwölf-Stunden-Schichten ab, es gab ein hot bed system – jedes Bett wurde mindestens drei Mal hintereinander benutzt, bevor die Laken gewechselt wurden.“

Einer der versteckten Eingänge zu diesem Netzwerk an Tunneln befindet sich übrigens auf dem Weg vom Trafalgar Square zum Buckingham Square. Touristen gehen jeden Tag daran vorbei, weil das Institut für zeitgenössische Kunst, das ICA, gleich um die Ecke ist. Der Eingang ist eine schlichte Holztür im Sandsteinmauerwerk, an der Seite hängt eine Klingel. Oliver Harris drückt sie. Wartet zwei Minuten. Niemand öffnet. Vielleicht schaut gerade jemand per Satellit auf ihn herunter.

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