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Seit 22 Jahren in Schwarz: Marijan und Marta trauern um ihre zwei im Kroatienkrieg verstorbenen Söhne.

© Christoph Kellner

Kroatien: Vukovar und die Wahrheit

Diese Stadt wurde brutal zerstört. Ihr Widerstand machte sie zum Mythos. Noch immer leben dort Kroaten und Serben miteinander – wie gut geht das?

Vukovar ist an diesem Nachmittag menschenleer. Alle paar Schritte trägt ein Gebäude Narben aus dem Krieg: verbranntes Gebälk, Löcher von Granaten, so groß wie eine Faust oder ein Kopf. Am Stadtrand umrankt Efeu einen Backsteinbau, den Büsche von innen heraus verschlingen. Manche Häuser scheinen erst kürzlich verlassen. Von einstigem Leben zeugen umgekippte Kommoden, Kalender mit alten Jahreszahlen, Glasscherben, dazwischen ein verdreckter Pullover, bedeckt mit einer Schicht aus Staub. Die Stille ist ein schwerer Teppich, unter den zu viel gekehrt wurde.

Die Hafenstadt liegt an der Mündung der Vuka in die Donau. Regelmäßig bringen Kreuzfahrtschiffe Neugierige hierher. Nur einige hundert Meter Wasser trennen das kroatische Vukovar vom „Feindesland“ Serbien. Während des Kroatienkriegs Anfang der 90er Jahre tobten hier die schlimmsten Kämpfe. Vukovar wurde von der Jugoslawischen Volksarmee und serbischen Freischärlern belagert – und weitgehend zerstört. Der Widerstand, ganze 87 Tage lang, machte sie zur tragischen Heldenstadt, zum Symbol kroatischer Selbstbehauptung. Wie lebt es sich dort, 20 Jahre danach?

Politiker blasen Vukovar immer zu einer Tragödie auf“, sagt Lena Vrtarik und imitiert das Wimmern eines Babys. Njä, njä, njä. „Dabei hat sich die Situation verändert. Heute amüsieren sich junge Kroaten und Serben oft gemeinsam und gehen bis spät nachts tanzen.“ Die 63-Jährige, eine Sonnenbrille auf dem blonden Bubikopf, lehnt sich ins weiße Ledersofa des Cafés am Donauufer: Hier ist sie gern, weil es ein neutrales Lokal ist, nicht getrennt nach Serben und Kroaten wie die Cafés an der Vuka-Promenade.

Lena ist verabredet, zu einer Besprechung ihres Vereins „Vukovarci dobre volje“, Vukovarer des guten Willens. Die etwa 50 Mitglieder singen im Chor oder stellen Theaterstücke auf die Beine. Zur Zeit planen sie ein Musical, das in den verschiedenen Sprachen der Minderheiten Vukovars aufgeführt werden soll. Über Jahrhunderte haben hier Serben, Deutsche, Russen, Ungarn, Ukrainer und zahlreiche andere zusammengelebt.

Die Mehrheit in der Stadt bilden mit mehr als 57 Prozent die Kroaten, die Serben folgen mit schätzungsweise 35 Prozent. Jeder Vukovarer sei jedoch schon immer „etwas Vermischtes“ gewesen, sagt Lena. So wie sie selbst: Der Vater Herzegowiner, die Mutter geborene Russlandkroatin, die von einer Mazedonierin und einem Griechen aufgezogen wurde. Wenn ein kroatisches und ein serbisches Kind nicht nebeneinander in ihrem Chor singen wollen, „dann können sie nicht Mitglied in unserem Verein sein“. Versöhnung ist anstrengend.

Eine junge Frau mit braunen Kringellocken windet sich neben Lena auf dem Ledersofa, verschränkt die Beine, schiebt die Hände unter die Oberschenkel. „Du hast doch gesagt, wir reden nicht über dieses Thema“, flüstert sie Lena zu und kräuselt die Stirn. „Dieses Thema“ – das ist das getrennte Alltagsleben von Kroaten und Serben in Vukovar. „Mir hängt es mittlerweile zum Hals heraus“, sagt die junge Frau mit Nachdruck. Sie möchte weder ihren Namen noch ihre Nationalität preisgeben. „Ich hasse diese Frage: Was bist du? Ich bin nichts. Ich bin ein Mensch.“

„Aus Dialogen werden in dieser Stadt immer bloß Monologe“, sagt ein Serbe

Seit 22 Jahren in Schwarz: Marijan und Marta trauern um ihre zwei im Kroatienkrieg verstorbenen Söhne.
Seit 22 Jahren in Schwarz: Marijan und Marta trauern um ihre zwei im Kroatienkrieg verstorbenen Söhne.

© Christoph Kellner

Katja Petrovik, 27, halb Serbin, halb Kroatin und eine von Lenas Mitstreiterinnen bei den „Vukovarern des guten Willens“, sagt: „In Vukovar gibt es drei Typen von Menschen: die extremen Kroaten, die extremen Serben und die Normalen. Wir sind die Normalen.“ Es ist ihre Wahrheit. Aber in Vukovar gibt es viele Wahrheiten.

Die Wahrheit des 30-jährigen Serben, der an seinem Zaun werkelt, während die kleinen Zwillingssöhne im Garten spielen, steht in zwei Büchern: „Serbische Heimat“ und „Nehmt euch in Acht, dass euch niemand täuscht“. Er verschwindet im Haus, holt sie und liest daraus vor. „Es gab Massaker, die die kroatischen Nationalisten, Ustaša, im Zweiten Weltkrieg an Serben verübt haben. Sie werden bis heute verschwiegen“, sagt er. Und dass vor Ausbruch des Kriegs Anfang der 90er Jahre fast hundert serbische Vukovarer von Kroaten getötet wurden. „Daher rührt die tief sitzende Angst der Serben vor den Kroaten. Sie wollten ihr Volk nur schützen!“ Die Massaker serbischer Nationalisten, der Tschetniks, an Kroaten im Zweiten Weltkrieg erwähnt der Mann nicht.

Sein Nachbar, ein junger Kroate, grüßt ihn nie. Die Kinder wissen noch nichts von ihrer Herkunft, das sei besser so, findet der Vater. „Aus Dialogen werden in dieser Stadt immer bloß Monologe“, sagt er, nachdem er zwei Stunden am Stück geredet hat.

Auch der Franziskanerpater Gordan Propadalo, ein 73-jähriger Mann in dunkler Kutte, kennt die Wahrheit. Seine steht in der „Kroatischen Enzyklopädie“, die sich im Lesezimmer des Klosters findet. Sie besagt, dass die Serben ein großserbisches Imperium anstreben. Kriegsverbrechen der Kroaten? Kein Wort. „Die Kroaten wollten ihr Volk nur schützen.“ Jedem Besucher des Klosters zeigt Bruder Gordan im Vorführsaal einen Dokumentarfilm über den Krieg in Vukovar, als sei das die Voraussetzung für ein Gespräch. Aktivisten wie Lena findet er naiv: „Sie relativieren das Leid der Menschen.“

Er meint das Leid von Leuten wie Marijan Živkovik. Der 74-Jährige hält dem Gegenüber zur Begrüßung Bilder seiner beiden im Krieg gefallenen Söhne vor die Augen. Nikola und Marko sind immer bei ihm, in der Hosentasche, auch im Auto, wo ihre Fotos am Rückspiegel baumeln. Für Marijan und Marta Živkovik bringt jeder Tag aufs Neue den Schmerz darüber, dass ihre Söhne für immer verloren sind. Seit 22 Jahren trägt das Ehepaar Schwarz.

Marijan zeigt den Schrein im Wohnzimmerschrank, den Marta und er für ihre beiden Söhne errichtet haben. Für Bilder ihres lebenden Sohns Ðuro ist nur noch im Schlafzimmer Platz. Marta breitet ihre Arme aus: „Als seine beiden Brüder gestorben sind, war es unserem mittleren Sohn, als hätte man ihm seine beiden Flügel zum Fliegen genommen.“ Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Marijans und Martas größter Wunsch ist es, den verschollenen Leichnam ihres Jüngsten zu finden und zu bestatten.

Mit seinen Freunden der Vereinigung „Generalstab – Für die Verteidigung eines kroatischen Vukovar“ sitzt Marijan oft in einem kroatischen Café am Vuka-Ufer. Dann beratschlagen sie, wie man Vukovar vom Kyrillischen, das die Serben benutzen, rein halten könnte. Als wieder die ersten Schilder in der „Feindessprache“ aufgehängt wurden, holte Marijan als einer der Ersten einen Hammer aus dem Hosenbund und zertrümmerte sie. „Ich bin für Gerechtigkeit“, rief er dabei.

Auch Ružica Barbarik, 62, lebt in der Vergangenheit. Die Kroatin mit den trauergrauen Augen wurde im Krieg vergewaltigt, wieder und wieder. An diesem Morgen ist sie auf dem Weg ins Vereinshaus der „Frauen im Heimatkrieg“. Sie spaziert am Marktplatz entlang, wo Gemüse, Kleidung und Trauerblumen verkauft werden. Ein altes Männlein mit Fischermütze fährt auf dem Fahrrad vorbei und wünscht ihr einen guten Morgen. „Ich habe Ihnen gesagt, dass ich nicht mit Ihnen reden will!“, sagt Ružica „Sie haben Kroaten im Krieg verraten. Hören Sie auf, mich zu grüßen!“ Kommentarlos trottet das Männlein in die nächste Bäckerei.

Während des Kriegs wurde Ružica ins Velepromet verschleppt, eine Warenhalle am Stadtrand, die zu einem Konzentrationslager umfunktioniert wurde. Manchen Kroaten im Lager wurde ein U für Ustaša in die Stirn geschnitten, anderen wurden die Augen ausgehöhlt. Von den 1200 Insassen des Velepromet wurden 738 erschossen oder enthauptet, manche von ihnen in den Öfen der nahe gelegenen Backsteinfabrik verbrannt oder in die Donau geworfen, bis das Wasser dunkelrot war. „Am meisten gebe ich meinem serbischen Nachbarn Schuld. Er hat mich in den Lastwagen gelockt, der mich ins Lager brachte“, sagt Ružica. Ein Jahr lang trug sie ein Küchenmesser bei sich, in der Hoffnung, ihm über den Weg zu laufen.

Im Bunker hinter einer Metalltür scheint die Zeit im Jahr 1991 stehen geblieben

Serben – auch solche, die sich schuldig gemacht haben – sind heute überall, davon ist Ružica überzeugt: in öffentlichen Ämtern, in der Polizei – und in Integrationsvereinen. „Es ist eine Lüge, dass sich das Zusammenleben verbessert hat. Für die Serben vielleicht. Für mich nicht.“ Menschen, die sagen, man solle nach vorn schauen, hätten eben nichts Schlimmes im Krieg durchlebt, anders kann es sich Ružica nicht erklären. Sie betritt das Vereinsheim, nimmt an einem Tisch Platz und isst einen der Kekse aus der Schüssel. „Diese ,Vukovarer des guten Willens’“, sagt sie, „die sollen mal herkommen, die haben uns noch nie besucht.“

„Hier misst jeder, wessen Leid das größere ist“, sagt Lena, die Frau mit dem guten Willen – und blickt lieber in die ferne Vergangenheit. „Früher war Vukovar eine der reichsten Städte Jugoslawiens. Wir haben in Einheit miteinander gelebt.“ Einst gehörte das Städtchen mit seinen 28 000 Einwohnern zur Habsburgermonarchie. So schön ist es damals gewesen, dass man es wegen seiner barocken Baukunst „kleines Wien“ nannte.

Lena zeigt das Krankenhaus von Vukovar, heute fast so etwas wie eine Sehenswürdigkeit. Als die Stadt am 18. November 1991 fiel, stürmten die feindlichen Soldaten das Kriegsspital, verschleppten 261 Patienten und erschossen sie auf einem Acker. Der Keller, in dem die Verwundeten und Kranken litten, ist jetzt ein Museum. Der Flur ist kahl, Rohre liegen blank, an der Decke klafft das Loch eines Bombeneinschlags als Erinnerung. Auf weißen Kacheln stehen die damaligen Tagebuchnotizen der Krankenhausleiterin: „6. November, Mittwoch. Mindestens 55 Verwundete aufgenommen. Unter unmöglichen Bedingungen werden über 350 Verletzte versorgt.“ Ein Bildschirm zeigt Blutende, Gliederlose, die sich in diesem Keller drängten wie jetzt die Schulkinder. Sie tragen Soldatenmützen der kroatischen Verteidiger. Jede Besucherklasse bekommt sie am Eingang geschenkt.

Im Bunker hinter einer Metalltür scheint die Zeit im Jahr 1991 stehen geblieben. Kranke, Ärzte, Schwestern werden dort von lebensgroßen Puppen nachgestellt, die in Feldbetten liegen, verarzten, trösten.

Als gelernte Krankenschwester half Lena während des Kriegs – auch in diesem Spital. Nachdem Vukovar gefallen war, wurden sie, ihre beiden Kinder und ihr Mann getrennt und in Konzentrationslager deportiert. „Ich versuche, vieles zu vergessen, weil ich sonst verrückt werde“, sagt sie. Trotzdem ist Lena nicht einverstanden mit der Ausstellung, die an das damalige Leid erinnert. „Mit dieser Art von Bildung belastet man neue Generationen. Wenn die Kinder aus dem Krankenhaus raus sind, werden sie nur wieder alle Serben hassen.“

In der „Märtyrerstadt“ darf die Vergangenheit nie ganz ruhen, denn sie hält die kroatische Identität zusammen.

Ein Weg führt hinaus aus Vukovar, kilometerweit, an Maisfeldern entlang. Am Ende befindet sich das Massengrab Ovamara. Auf dem Acker einer Schweinefarm wurden einst die 261 Verschleppten des Krankenhauses erschossen und verscharrt. Dort sind nun 200 Sträucher gepflanzt, einer für jeden, dessen Überreste nach der Exhumierung identifiziert werden konnten. Gedenktafeln und Kreuze liegen im Gras. Regelmäßig müssen sie erneuert werden, weil sie verschwinden oder verunstaltet werden. Lena blickt auf umgetretene Kerzen. „Würden die Leute doch bloß miteinander reden.“

Im Auto auf dem Rückweg nach Vukovar schaut sie über die endlosen Felder zum Horizont. „Wenn ich das Geld hätte“, sagt Lena, „ich würde noch heute Nacht von hier verschwinden.“

Ariana Zustra

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