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In dieser Woche hat die Ausstellung in der "Galerie Zönotéka" in Neukölln eröffnet.

© www.facebook.com/MuseumfuerWerte/

Kunst: Was sind eigentlich Werte?

Der Neuköllner Student Jan Stassen eröffnet ein „Museum für Werte“. Er ist Archäologe der Musikkassetten, Feuerzeuge und Lichtschalter. An den kleinen Dingen hängen große Geschichten.

Wo unsere Werte geblieben sind? Sie haben jetzt eine feste Adresse. Respekt, Freundschaft und Lebensfreude sind derzeit in Neukölln anzutreffen, nur ein paar Schritte vom U-Bahnhof Schönleinstraße entfernt.

Dort hätte man sie nicht unbedingt als Erstes vermutet. Der U-Bahnhof war Ende vergangenen Jahres tagelang in den Schlagzeilen, weil sieben Jugendliche in der Weihnachtsnacht versucht hatten, einen auf dem Bahnsteig schlafenden Obdachlosen anzuzünden. Die Beiläufigkeit der Gewalt und die Willkür, die sich in der Tat ausdrückten, lösten allgemeines Entsetzen aus. Viele sahen darin ein Symptom der zunehmenden Verrohung und des Werteverfalls unserer Gesellschaft. „In diesen Tagen sollten wir Nächstenliebe erwarten. Stattdessen erleben wir Menschenverachtung“, sagte damals etwa Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD).

Andere forderten eine Rückbesinnung auf unsere Werte. Der Freiburger Philosoph Andreas Urs Sommer attestiert unserer Gesellschaft ein unstillbares Bedürfnis, über Werte zu reden und sich als Wertegemeinschaft zu bestimmen. In Zeiten, in denen die Kirchen, aber auch Parteien oder Gewerkschaften an Bindekraft verlieren, sollen Werte den Kitt des gesellschaftlichen Zusammenhalts liefern.

Wie den Respekt in die Vitrine kriegen?

Auch Jan Stassen hörte diesen Begriff ständig und überall. Ob es um Pegida ging, die Ergebnisse der Bundestagswahl 2017 oder um das Niveau der Kommentare im Internet, „irgendwas mit Werten“ wurde immer gefordert. Stassen, 29, dunkler Bart und Hornbrille, konnte damit nicht viel anfangen: „Respekt, Gerechtigkeit, Freiheit, das sind so große Begriffe. Was ist damit gemeint?“ Respekt zum Beispiel. Fordern alle gern ein. Nur: Die Konservativen meinen damit vielleicht, jemandem die Tür aufzuhalten, die Sozialdemokraten denken an Respekt für die hart arbeitende Bevölkerung. Doch geht es dabei nicht auch um ungeborenes Leben oder „Black Lives Matter“?

Stassen glaubt: In diesen Dimensionen kommen wir nicht weiter. Wir müssten zwar unbedingt über die grundlegenden Werte unseres Miteinanders reden. Aber wenn das etwas bringen soll, muss man sich die Sache genauer angucken. Ganz nah rangehen, bis die Details sichtbar werden. Wie in einem Museum, wo man lange vor einem Schaukasten stehen bleiben kann, um dem ausgestopften Wolf in seine gelben Augen zu blicken, oder die einzelnen Farbschichten auf Monets Heuhaufen zu studieren. Genau so etwas müsste es auch für unsere Werte geben, fand Stassen. Nur: Wie den Respekt in die Vitrine kriegen?

Im Co-Creation-Loft scheint alles gut gelaufen zu sein

Das Konzept für sein Werte-Museum hat Stassen sich im zweiten Hinterhof einer ehemaligen Neuköllner Schokoladenfabrik ausgedacht. In dem Backsteinbau teilt sich der Student der Universität der Künste mit anderen Kreativen ein Gemeinschaftsbüro. Die Fabriketage unter dem Dach ist allerdings nicht irgendein Coworking Space, man sitzt hier in einem Co-Creation-Loft zusammen.

Im Reich der Co-Creation scheint alles ziemlich gut gelaufen zu sein. Die Menschen hier sind jung und schön, kosmopolitisch sowieso, sie springen selbstverständlich und ständig zwischen Englisch und Deutsch hin und her. In der offenen Küche blubbert ein Topf Pasta vor sich hin. Später kommen hier alle zum Lunch zusammen.

Der Raum ist von Tageslicht durchflutet, die Decken sind etwa sechs Meter hoch, in die Wand ist ein Kamin eingelassen. Die Holzschreibtische wurden, über den Raum verteilt, zu kleinen Inseln zusammengeschoben. Am liebsten würde man mit der Hand über die perfekt geschliffenen Oberflächen fahren und sich gleich am nächsten freien Tisch neue Projekte ausdenken. Dem würde nichts im Wege stehen – jedenfalls keine Diddl-Tassen oder Aktenstapel. Hier hat alles seinen PlatzDie Lebensfreude rechts, die Freundschaft in die Mitte

Dieses Schild ist eine schöne Erinnerung an wunderbare Begegnungen und ein Sinnbild für die Gastfreundschaft im Iran.
Dieses Schild ist eine schöne Erinnerung an wunderbare Begegnungen und ein Sinnbild für die Gastfreundschaft im Iran.

© www.wertemuseum.de

Genauso ordentlich wollte Stassen das mit den Werten hinkriegen. Er ist dabei vorgegangen wie andere Museen: Erst zusammentragen, dann sortieren und ausstellen. Nur dass er dafür keine Ausgrabungsstätten besucht, sondern alle seine Freunde und Bekannten gefragt hat, was ein Wert für sie persönlich bedeutet, wann sie Respekt, Freundschaft oder Lebensfreude konkret erfahren haben. Er forderte sie auf, ihre Geschichten aufzuschreiben und sie ihm zusammen mit einem Gegenstand zu schicken, der mit diesem Erlebnis verbunden ist.

Seit Stassen seinen Aufruf startete, hat der Paketbote viele Male im Co-Creation-Loft geklingelt. Stassen hat mehr als 60 Päckchen ausgepackt und den Inhalt ordentlich in sein Museum geräumt: den Respekt links, die Lebensfreude rechts und die Freundschaft in die Mitte. In dieser Woche hat die Ausstellung in der nicht-kommerziellen „Galerie Zönotéka“ in Neukölln eröffnet.

In der Abteilung Respekt steht zum Beispiel ein Buch von Marc Aurel, das Victor-Emanuel eingeschickt hat. Den Einband ziert eine lange Widmung. Geschrieben hat sie Victors früherer Internatserzieher. Da war der damals 16-Jährige gerade aus einer Erziehungsanstalt in Süddeutschland rausgeflogen, weil er mit Gras gedealt hatte. Dass Victor weg musste, war klar, die Reputation der Schule stand auf dem Spiel. Als er seine Sachen packte, steckte sein Erzieher ihm das Buch zu. Er schrieb dem Jungen, dass er ihn gern noch ein Stück seines Lebensweges begleitet hätte. Victor hatte gegen die Gesetze der Gemeinschaft verstoßen – aber da war jemand, der weiter an ihn glaubte und ihm Respekt entgegenbrachte.

Ein Ohrring ließ sie den Respekt vor ihrem Vater verlieren

Manche Gegenstände erzählen auch von Verlusten und Enttäuschungen. Der Perlenohrring zum Beispiel. Als die Absenderin, die nur ihre Initialen A.W. preisgibt, den Ohrring auf dem Fußboden der elterlichen Wohnung fand, wusste sie, dass ihr Vater eine Geliebte hatte. Es war, so schreibt sie, der Moment, in dem sie den Respekt vor ihrem Vater verlor. Bis dahin hatte der für sie wie kein Zweiter Moral und Ehrlichkeit verkörpert.

Andere Museen warten mindestens mit einem Picasso, dem T-Rex oder der Original-Landshut-Maschine aus dem Deutschen Herbst auf. Die großen Einrichtungen setzen sich gern mit den Highlights ihrer Sammlungen in Szene, denn auch Museen stehen zunehmend unter Konkurrenzdruck.

Gerade haben sich die Londoner Häuser auf Twitter eine Schlacht darüber geliefert, wer die spektakulärsten Exponate in seinen Wunderkammern hat. Mehrere namhafte Institutionen wie das Natural History Museum mischten dabei mit und versuchten, sich gegenseitig mit ihren Robotern, Drachen und Vampirfischen zu übertrumpfen.

"Du Feigling, rede mit mir!"

Einer für alle, alle für einen. Dieses Pfadfinderhemd steht für Toleranz, Akzeptanz und Respekt.
Einer für alle, alle für einen. Dieses Pfadfinderhemd steht für Toleranz, Akzeptanz und Respekt.

© www.wertemuseum.de

Jan Stassen hat weder Dino noch Boeing 737 im Angebot. In seiner Ausstellung gibt es einen Lichtschalter, ein Feuerzeug und eine Kassette mit Bravo-Hits. Dafür muss man dort auch nicht auf Abstand bleiben. Man darf, soll sogar, ganz nah rangehen, bis man sieht, wie der Kugelschreiber des Erziehers sich in die Seiten von Victor-Emanuels Buch gedrückt hat.

Stassen glaubt, dass wir viel ernsthafter über Respekt diskutieren, wenn wir so ein Buch in der Hand halten, als wenn wir uns den nächsten Facebook-Film dazu anschauen. Die Besucher können die Ausstellung als Einladung verstehen, die unterschiedlichen Facetten und Deutungen der Werte zu vergleichen und zu diskutieren. Beispielsweise: Ist das Anerkennung oder Sexismus, wenn man einer attraktiven Frau hinterhersieht? Dadurch, hofft Stassen, setzt man sich eher mit Vorstellungen auseinander, die von den eigenen abweichen.

Der Reuterkiez, in dem die Galerie liegt, ist das optimale Umfeld dafür. In der Hobrechtstraße treffen grundverschiedene soziale Milieus aufeinander, der Naturkostladen „Biosphäre“ und das Café „Schaumschläger“ befinden sich hier direkt neben türkischem Kulturverein und dem Dart-Club „Hajo’s 60er“.

Einen Mangel an konträren Standpunkten gibt es da nicht. Das bezeugen die vielen Zettel, die in großen Formaten auf den Fensterscheiben der Ladenlokale kleben. Darauf werden die Konflikte verhandelt, die entstehen, wenn die Gewohnheiten der Alteingesessenen und die der neuen Klientel aufeinanderprallen.

Wie wollen wir zusammenleben?

Auf einem der Zettel steht: „Laut Anfrage beim Ordnungsamt beinhaltet Ihre Genehmigung nur das Herausstellen Ihrer Trödeldinge in einem klar definierten Bereich. Wir geben Ihnen letztmalig die Gelegenheit, diese Missstände abzustellen.“ Andernfalls werde der Schreiber sie beim Ordnungsamt anzeigen. „Was bist Du denn für ein Vogel? Alteingesessene hier in unserem Kiez zu diskreditieren“ und „Scheiß Denunziant“ gehören zu den netteren Reaktionen.

Auch hinter dieser Auseinandersetzung steht die Frage, wie wir zusammenleben wollen und was ein Wert wie Freiheit bedeutet. Bei allem Frust und aller Zettelei: Das Bedürfnis, sich darüber auseinanderzusetzen, ist offensichtlich vorhanden. Auf einem Papierfetzen steht: „Du Feigling, rede mit mir!“ Nur: Wird man sich dazu im Wertemuseum treffen?

Die Galerie ist szenig, zur Eröffnung legte ein DJ auf. Dass Gäste der benachbarten Bar „Raumfahrer“ oder Besucher des Upcycling-Ladens vorbeikommen, kann man sich gut vorstellen. Aber dass die Mitglieder des Sparvereins „Lustiger Fünfer“ oder die Kunden des Schönheitssalons „Beauty de la Rose“ aus der Nachbarschaft den Weg in das Museum finden, ist wohl unwahrscheinlich.

Das ist Jan Stassen bewusst. Er will auch gar nicht gleich die ganze Gesellschaft verändern. Er wollte einfach mal irgendwo anfangen.

Die Pop-up-Ausstellung ist war in der „Galerie Zönotéka“, Hobrechtstrasse 54, zu sehen und dauerhaft unter wertemuseum.de

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