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Zwei Städter suchen das Glück in der Einsamkeit.

© dpa

Leben im Wattenmeer: Hallig Marsch!

Sie haben sich ihr Leben so romantisch vorgestellt – voller Natur, frischem Wind und Einsamkeit. Nun sitzen Nele Wree und Holger Spreer auf einem Stück Land in der Nordsee und staunen.

Eine einzige birnengroße Aubergine baumelt an dem mickrigen Strauch. Nele Wree, 31, sieht die Frucht erst, als sie sich über die Pflanze beugt und ein Blatt anhebt. Sie seufzt, erhebt sich. Salziger Wind bläst ihr eine Haarsträhne ins Gesicht. Die mickrige Frucht ist ein weiterer Beleg dafür, dass ihr Traum vom Selbstversorgerdasein nicht funktioniert. Zumindest nicht so, wie sie es sich vorgestellt hat. Belege sind auch: die Tomaten, die im Oktober noch hellgrün sind, weil das Material für das Gewächshaus beschädigt geliefert wurde. Die Birnen, die von Staren gefressen wurden. Die Tatsache, dass sie keine Zeit gefunden hat zum Imkern und Käsemachen. Und natürlich die verdorrten Kirschbäume, die schon vor Monaten eingegangen sind, weil sie den salzigen Boden und ständigen Wind nicht ertrugen.

Wree lebt alleine mit ihrem Freund Holger Spreer, 34, auf einem Haufen aufgeschütteter Erde mitten im Wattenmeer. Auf der Hallig Süderoog, der kleinsten bewohnten Insel Deutschlands, 60 Hektar groß, fünf Kilometer Luftlinie vor Pellworm. Halligen sind Inseln ohne Deich, bei Sturmfluten werden sie überschwemmt. Ausnahme: die Warften, künstlich aufgeschüttete Hügel, auf denen Häuser stehen.

Schnell mal zum Supermarkt, Milch holen, geht nicht. Zum Supermarkt auf Pellworm sind die beiden mit dem Boot anderthalb Stunden unterwegs. Nur alle paar Wochen machen sie einen Großeinkauf, meist wenn sie noch anderes zu erledigen haben, Arztbesuche, Ämtergänge ... Es gibt niemanden, der ihnen Lebensmittel vorbeibringt. Nur der Wattpostbote, der zwei Mal die Woche kommt, bringt manchmal Mehl zum Backen mit.

Süderoog, Nele Wrees neues Zuhause, liegt im Nationalpark, Schutzzone I, Vogelschutzgebiet. Das Land Schleswig-Holstein stationiert dort seit mehr als 30 Jahren einen Ranger, offiziell heißt die Stelle Wasserbauwerker. Gerade teilen sie sich Nele Wree und Holger Spreer. Ihre Aufgaben: die Ufer befestigen, die Schafe versorgen, die auf den Salzwiesen weiden, um sie kurz zu halten, Vögel zählen.

Spontan sein ist auf der Hallig schwierig. Spontan geht höchstens mal was kaputt. Wie im Sommer, als die Bewohner der Nachbarhallig sie zum Grillen einladen wollten und der Motor ihres Boots nicht ansprang, wieder mal. Sie verlassen die Insel sowieso nur, wenn keine Springflut angekündigt ist. Denn dann muss jemand da sein, um die Tiere – 31 Schafe, 42 Hühner, 17 Enten und 20 Gänse – im Ernstfall auf die Warft zu treiben. Einer von beiden hört jeden Abend den Wetterbericht. Wollen sie mal länger als einen Tag wegbleiben, brauchen sie einen Einhüter. Die Tiere wollen schließlich gleich nach Sonnenaufgang fressen.

Immerhin führt ein Telefonkabel durch das Watt zur Hallig. Und eine Süßwasserleitung. Die Internetverbindung läuft langsam übers Handynetz.

„Die größte Herausforderung hier ist, gelassen zu bleiben, auch wenn es mal nicht so läuft, wie ich es mir vorstelle“, sagt Nele Wree, ein wenig genervt. Sie sitzt auf einer Bierbank im windgeschützten Innenhof des reetgedeckten Dreikanthofs, auf der Warft von Süderoog.

Bevor Wree vor einem guten Jahr auf die Hallig zog, hat sie auf einem Bio-Bauernhof das Käsemachen gelernt. Sie hat sich „Das große Buch vom Leben auf dem Land“ gekauft und ein Buch über vom Aussterben bedrohte alte Nutztierrassen. Sie plante auf der Hallig einen Archehof einzurichten. Auf der Hallig leben schon Coburger Fuchsschafe und Rameloher Hühner, bedrohte Rassen. Und sie wollte den Generator durch Windkraft und Solarenergie ersetzen. Doch Windkraft ist auf der Hallig nicht erlaubt. Bestimmungen für den Nationalpark, Schutzzone I. Eine Solaranlage ist teuer. Nur die beiden Kühltruhen sind bisher solarbetrieben. Und eine Alternative zum Koks, mit dem sie im Winter heizen, ist auch nicht in Sicht.

Nele Wree blickt in Richtung Meer. Rosarot und weinrot leuchtet das Heidekraut auf den Salzwiesen. Dazwischen grasen langhaarige Schafe. Kühler Wind treibt dicke Wolken vor die Sonne. Der Horizont verschwindet im Dunst. Wree atmet tief die salzige Luft ein. „Es fühlt sich absolut richtig an, hier zu sein.“

Während sie erzählt, setzt sich ihr Freund Holger Spreer neben sie, legt einen Arm um ihre Schulter. Er sieht ein wenig aus wie ein Seemann – blonder Vollbart, breites Kreuz –, sie wirkt noch zarter neben ihm. „Hast du schon von der Flaschenpost erzählt?“, dröhnt er vergnügt. Sie lächelt.

Von Flaschenpost und Wattarbeitern

Die Hallig Süderoog nahe der Insel Pellworm.
Die Hallig Süderoog nahe der Insel Pellworm.

© Nele Wree

An einem Sommertag lief Nele Wree am Ufer entlang, um angespülten Müll einzusammeln. In einer grünen Plastikflasche war etwas Weißes zu erkennen. Flaschenpost: Drinnen steckte ein Zettel, Absender war die kleinste norwegische Inselgemeinde. Der Finder könne dort eine Woche kostenfrei im Leuchtturm leben. Also machte sich das Paar auf den Weg nach Norwegen. Ihr erster Urlaub.

Als sie zurückkamen, sprang das Schiff nicht an, das sie im Hafen von Nordstrand, der nächsten Festlandgemeinde, vertäut hatten. Das Auto war voller Lebensmittel und Gepäck. Wree und Spreer packten so viel wie möglich in ihre Rucksäcke, fuhren mit der Fähre nach Pellworm, liefen eineinhalb Stunden durchs Watt nach Hause. Am nächsten Tag brach sich Holger Spreer beim Arbeiten den Daumen, also lief er zurück nach Pellworm, nahm die Fähre, fuhr zum Amtsarzt. Als der Gips dran war, war wenigstens auch das Schiff repariert.

Auch das Wetter ist ein Abenteuer. Als das Tief Xaver vergangenen Dezember heranrollte, verbarrikadierten sie alle Fenster, versiegelten die Türen mit Silikon. Die Nacht verbrachten sie im Schutzraum unterm Dach des Bauernhauses – dort, wo Nele Wree die Vögel zählt – und guckten aus dem Fenster. Der Dachstuhl ächzte im Sturm. Auf der Warft, dem letzten trockenen Fleck auf der Hallig, krähten hunderte Vögel.

Vor mehr als zehn Jahren haben sich Nele Wree und Holger Spreer am Hafen von Pellworm kennengelernt, sie war 17, er 20. Er arbeitete dort als Fischer. Sie verbrachte, wie jedes Jahr, den Sommerurlaub mit den Eltern in der Ferienwohnung. Die beiden wurden kein Paar, hielten aber Kontakt. Zum 29. Geburtstag sagte er ihr am Telefon: „Wir haben uns zehn Jahre nicht mehr gesehen, lass uns mal wieder treffen.“ Er lebte wieder als Fischer auf Pellworm, sie arbeitete als Assistentin der Geschäftsführung in einem Architekturbüro in Hamburg. Ostern verabredeten sie sich auf der Insel.

Zwei Wochen später lud Holger Spreer Nele Wree wieder ein, er hatte eine Überraschung vorbereitet: eine Wattwanderung zur Hallig Süderoog, inklusive Übernachtung. Am Abend erzählten die Matthiesens, die damaligen Bewohner, den beiden, dass sie in Rente gehen wollten und einen Nachfolger suchten. Sie sagten auch, dass sie in den 23 Jahren nur zwei Mal im Urlaub waren. Dass sie die Hallig nie alleine gelassen haben. Dass das Leben dort vor allem viel Arbeit bedeutet.

Jenes Wochenende fand Nele Wree wunderschön. Und die Vorstellung, alleine mit ihrem Partner auf dieser einsamen Insel zu leben, wahnsinnig. Trotzdem malten sich die beiden bald ein gemeinsames Leben im Wattenmeer aus.

Ein paar Monate später, während die Matthiesens auf dem Festland waren, verbrachten sie ein zweites Wochenende auf der Hallig. An jenem Wochenende endete die Frist für die Bewerbung um die Nachfolge. Zwei Monate später unterschrieben sie den Arbeitsvertrag. Sie hatten sich gegen 29 Mitbewerber durchgesetzt.

„Ich habe dann auf den Moment gewartet, in dem ich Angst vor der eigenen Courage bekomme“, sagt Wree, die mal ein Café in Jerusalem geleitet und in Rom studiert hat, immer in die weite Welt wollte. „Doch der Moment kam einfach nicht.“

Im Sommer 2013 wohnten die beiden ein paar Wochen mit den Matthiesens auf der Hallig, zum Einlernen. Seit Ende September leben sie dort allein. Allerdings: „Allein sind wir selten. Und immer guckt dich die Arbeit an“, sagt sie, geht in die weiß-blau geflieste Küche mit der niedrigen Decke und stellt einen riesigen Topf mit Kartoffelsuppe auf den Gasherd. Holger Spree hilft ihr mit dem Geschirr.

Sie müssen die Hallig-Arbeiter bewirten. Sechs Leute vom Küstenschutz sind gerade da, die Holzpflöcke ins Watt treiben, zur Landerhaltung. Außerdem zwei Männer, die das Reetdach entmoosen. Und am Vormittag 35 Wattwanderer, auch sie wollten essen. Von Mai bis Oktober können Interessierte mit dem Postboten die Hallig besuchen.

„Ich freue mich auf den Winter“, sagt Wree später, als die Arbeiter gegessen haben. „Dann komme ich endlich wieder mal zum Lesen.“ Sie fügt ein „vielleicht“ an. Im zurückliegenden Winter blieb dafür keine Zeit. Sie waren damit beschäftigt, drei Wagenladungen Sperrmüll aus dem 300 Quadratmeter großen Hof zu transportieren, Wände von Tapeten zu befreien, zu streichen, Fliesen zu verlegen, ständig waren Freunde, Familie und Arbeiter da. Nur wenn der kommende Winter so hart wird wie der vor zwei Jahren, könnte Nele Wree Zeit und Ruhe haben, im Wohnzimmer auf dem Ledersofa zu liegen, in der einen Hand ein Buch, die andere im Fell ihrer Katze. Damals war die Hallig wochenlang vom Festland abgeschnitten, wegen Eisgang. Vielleicht hat sie dann auch wieder Lust, mit Freunden und Familie zu telefonieren. Bisher will sie am Abend einfach ihre Ruhe haben.

„Wir sind nicht für ein paar Jahre auf die Hallig gezogen“, ruft Wree später tapfer gegen den Wind. „Das hier ist ein längerfristiges Projekt.“ Und was ist, wenn sie mal Kinder haben wollen? Sie schweigt, dazu will sie nichts sagen. Aber seit sie auf Süderoog lebt, weiß sie ja sellbst, dass es oft anders kommt, als sie denkt.

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