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Weißer Strand, tiefblaues Meer. Sanddünen bei Nida. Der Naturpark Kurische Nehrung gehört zum Unesco-Weltnaturerbe.

© imago/Rainer Weisflog

Litauen: Literarische Nehrung: Wo Thomas Mann sein Refugium fand

Der Dichter errichtete hier sein Sommerhaus, ließ seine Gedanken frei über die Dünen fliegen. Bis ein verkohltes „Buddenbrooks“-Exemplar eintraf.

Eine Riesin kam und schüttete eine Sandbank ins Meer, um die Menschen vor Sturm und Wellen zu schützen. Neringa war ihr Name, und nun konnten die Küstenbewohner im Haff sicher fischen, auch wenn der Meeresgott darüber tobte. So entstand nach der Legende die Kurische Nehrung. Eine Menge anderer, nicht so freundlicher Riesen – Wikinger, deutsche Ordensritter, schwedische Soldaten, zaristische Truppen, die deutsche Wehrmacht, die Rote Armee – haben seither am Strand ihre Burgen, Bomben und Mythen abgeworfen. Und jetzt wieder geht die Angst vor den Russen um, Nato-Soldaten sind im Baltikum stationiert.

Kurische Nehrung: Da will man doch schon immer mal hin, da schwingt Verdrängtes mit, Tabuisiertes, das Gefühl einer exotischen Heimat. Ostpreußen, aus dem im Zweiten Weltkrieg in langen Trecks die deutschen Flüchtlinge kamen, war lange Zeit das Terrain skurriler Vertriebenenverbände. Und die Memel, in der ersten Strophe des Deutschlandlieds als Ostgrenze des Reichs besungen, ist dann erst einmal auch kein Fluss wie jeder andere.

Ein Ausflug an die litauische Ostsee gleicht einem Crashkurs in nordmitteleuropäischer Geografie und Geschichte. Es ist unsere eigene, nie richtig gelernte. In sowjetischer Zeit, bis 1961, war die Nehrung militärisches Sperrgebiet. Seit 1990 gehört sie wieder zu Litauen, wenn auch nur zur Hälfte. Seit 2004 liegt sie in der EU und seit 2015 in der Eurozone. 2018 feiert Litauen das 100-jährige Jubiläum der ersten staatlichen Unabhängigkeit, ein Land mit nicht einmal drei Millionen Einwohnern und der doppelten Fläche Brandenburgs.

Das Gleiche überall

Da kommt man jetzt also wirklich mal hin. Der Flug von Berlin nach Vilnius dauert anderthalb Stunden, wie in die so viel vertrautere venezianische Lagune. Vier Stunden braucht man mit dem Auto oder Bus durch flaches, kaum besiedeltes Land von der litauischen Hauptstadt an die Küste nach Klaipéda. Das entspricht ungefähr der Entfernung von Berlin nach Usedom oder Rügen.

Klaipéda dient Litauen als Hafen, das alte deutsche Memel. Stadt und Fluss und Memelland trugen denselben Namen. Viel zu sehen gibt es nicht, ein Rest Altstadt und gläserne Industriearchitektur der 90er Jahre, die heute schon veraltet wirkt, außerdem die typischen Bernstein- und Leinengeschäfte. Die turmhohen Fähren aus Kiel legen hier an und auch Kreuzfahrtschiffe. Eine Shopping Mall amerikanischen Stils zieht Kundschaft und innerstädtische Betriebsamkeit ab; das Gleiche überall. Deutsche Supermarktketten bestimmen das Bild. Auf der anderen Seite der Ausfallstraße steht eine Arena für Litauens Nationalsport Basketball.

In Klaipéda nimmt man die Fähre auf die maximal 3,8 Kilometer breite Nehrung. Das Thomas-Mann-Haus in Nida ist die berühmteste Immobilie von Nidden – so lautet der deutsche Name – und ein Fixpunkt auf der Strecke.

In diesen Wänden lässt sich denken

Kreativer Geist. Thomas Manns Feriendomizil.
Kreativer Geist. Thomas Manns Feriendomizil.

© imago/Martin Bäuml Fotodesign

Nida markiert die Hälfte der 100 Kilometer langen Halbinsel, dann beginnt russisches Gebiet, die Exklave Kaliningrad, das alte Königsberg. Als Thomas Mann und seine Frau Katia in den Jahren 1929/30 ihr Haus in Nida errichten ließen, war der Badeort für eine kurze Zeit ebenfalls litauisches Territorium, knapp hinter der damals deutschen Grenze.

In dieser europäischen Weltgegend verwirren sich die inneren Koordinaten, und das kann sehr angenehm sein. Die Farbpalette des changierenden Lichts hat die expressionistischen Maler Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff begeistert.

Weißer Strand, scheinbar so weit wie der Himmel, und das Haff, das breit genug ist, ein Meer vorzuspiegeln, sodass die schmale, lange Haarspangenform der Nehrung zwischen zwei Ozeanen zu liegen scheint: märchenhaft, mit einem Wort. Man liest die Hymnen auf diese Natur und kann es nachvollziehen. Und weil Reisen auch Vergleichen heißt – hier kommt man in ein viel größeres, wilderes, aber auch viel schwerer erreichbares Hiddensee.

„Wir fuhren also für einige Tage nach Nidden auf der Kurischen Nehrung und waren so erfüllt von der Landschaft, daß wir beschlossen, dort Hütten zu bauen, wie es in der Bibel heißt. Dies ist zwar bei uns nichts Neues, denn wir beschließen es phantasieweise fast überall, sei es bei St. Moritz oder Assuan. Aber diesmal war es ernster.“ So schwärmte Thomas Mann.

Mann fühlte sich hier „wie auf einem Schiff“

Es hatte den in Lübeck, in Ostseenähe Geborenen gepackt: „Der Eindruck war tief. Man findet einen erstaunlich südlichen Einschlag. Das Wasser des Haffs ist im Sommer bei blauem Himmel tiefblau. Es wirkt wie das Mittelmeer. Es gibt dort eine Kiefernart, Pinien ähnlich. Die weiße Küste ist schön geschwungen, man könnte glauben, in Nordafrika zu sein.“ Mit dem Geld des Literaturnobelpreises, den er 1930 bekommt, leistet er sich den nördlichen Spleen.

Thomas Mann hat „diesen Landflecken immer als eine Art Refugium“ empfunden, er habe sich dort „wie auf einem Schiff“ gefühlt, „das vor Anker lag – wie eine Zwischenstation in seinem politisch unruhig bewegten Leben“, schreibt Manns Enkel Frido Mann in seinem Buch „Mein Nidden“, erschienen 2012 im S. Fischer Verlag. Er hat das Niddener Sommerhaus zu einem kleinen internationalen Kulturtreffpunkt ausgebaut, für Konzerte, Konferenzen, Lesungen. Man tritt ein und spürt: In diesen Wänden lässt sich denken, träumen, hier kann kreativer Geist einziehen.

Originale Einrichtungsstücke sind nicht erhalten, das Thomas-Mann-Haus, oft mit Reisegruppen prall gefüllt, bietet die für Dichterdomizile typischen Schautafeln und viel Lesestoff. Aber der Blick aus dem Arbeitszimmer über das Haff, das Panorama, das sich von dem kleinen Aussichtsplateau mit den erwähnten Kiefern bietet, wärmt das Herz. Nida ist auch heute ein Ort, an dem man sich erholen mag: großzügig angelegt, gediegen und gepflegt, bezahlbar für deutsche Verhältnisse. Im Supermarkt lässt sich ordentlich einkaufen; auffällig das riesige Alkoholangebot. Voll hängt der Mond über dem plätschernden Wasser.

Da liegt etwas in der Luft

Die Gedanken fliegen frei über Neringas Dünenlandschaft. Motorboote tragen den Besucher übers Haff in das Naturschutzgebiet des Memel-Deltas, wo Adler über breite Seerosenfelder streifen. In der Luft liegt etwas, das lyrisch stimmt.

Nur drei Sommer lang genießen die Manns ihr blau dekoriertes Haus. Auf dem deutschen Teil der Nehrung tummeln sich junge Nazis, das Klima schlägt um. Thomas Mann findet ein verkohltes Exemplar der „Buddenbrooks“ in der Post. 1932 verbringt er seinen letzten Arbeitsurlaub in Nidden.

Er schreibt in diesen Jahren an dem vierbändigen Romanopus „Joseph und seine Brüder“, einem grandiosen Gegenentwurf zu der Zeit, die er durchleidet. Bald wird der alternde Schriftsteller im Exil sein, wie sein junger Held Joseph. Thomas Mann taucht hinab in die jüdische und christliche Mythologie und Glaubenswelt, an die Wurzeln unserer Zivilisation. Der Roman dreht sich um Gottesfindung und Gotteserfindung; ein Buch für Gläubige wie für Agnostiker.

Monster, Trolle und Kormorane

Märchenhafter Wald. Der Hexenberg von Juodkranté mit seinen Hunderten von Holzskulpturen.
Märchenhafter Wald. Der Hexenberg von Juodkranté mit seinen Hunderten von Holzskulpturen.

© imago/Martin Bäuml Fotodesign

Und hat man gerade noch über Thomas Mann und Joseph und den Pharao und die ägyptische Wüste nachgedacht, auf einer Wanderung durchs Dünenfeld bei Nida, da steht am eindrucksvollsten Aussichtspunkt, hoch über den Sandwellen, ein bronzener Jean-Paul Sartre. Im Sommer 1965, mitten im Kalten Krieg, hat er zusammen mit Simone de Beauvoir die Sowjetunion und auch die Ostsee besucht. Die Skulptur geht auf eine berühmte Aufnahme des litauischen Fotografen Antanas Sutkus zurück. Der Intellektuelle, der sein Mäntelchen in den Wind hängt? Oder stemmt er sich gegen den Sturm?

Dämonen können vielerlei Gestalt annehmen. Den Hexenberg von Juodkranté, Raganu Kalnas auf Litauisch, darf man deshalb nicht auslassen. Auf verschlungenen Waldwegen stehen über 100 baumhohe Holzskulpturen, heidnische Monster und Sagengestalten, Trolle und Teufel. Eine Orgie sogenannter Volkskunst. Wenige Kilometer weiter, an der Straße nach Klaipéda, lebt der Horror natürlich und real. Eine Kolonie der Kormorane empfängt den Besucher, der auf eine Plattform steigt, mit dschungelartigem Geschrei, Rauschen und Flattern. Hoch in den kahlen Bäumen nisten die Vögel, ihr Kot ist so ätzend, dass er Wälder abtötet, und ihr Appetit so groß, dass sie das Haff leer fressen. Einige tausend dieser mächtigen Vögel haben sich hier niedergelassen.

Simon Dach kam in Memel zur Welt

Eine apokalyptische Szenerie: Sie weist zurück auf Joseph und die biblischen Katastrophen. Thomas Mann musste auf der Flucht aus Hitler-Deutschland weiterziehen, zuerst in die Schweiz, dann in die USA. Er fand in Pacific Palisades in Los Angeles ein neues Haus nahe am großen Wasser; die Bundesrepublik Deutschland hat es 2016 gekauft und dort jetzt eine Begegnungsstätte eröffnet.

Kaum einer aber kennt diesen Dichter: Simon Dach (1605–1659) verbrachte die meiste Zeit seines Lebens an der Ostsee, vor allem in Königsberg. Er war populär, schrieb für Feste und feierliche Anlässe. Berühmt wurde – als Chorlied – sein „Ännchen von Tharau“, eine bittersüße Liebesgeschichte. Ihre Skulptur steht auf dem Theaterplatz von Klaipéda, in einem Brunnen. Und da ist auch Simon Dachs Relief, der in Memel zur Welt kam, kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg.

Ja, das ist der Mann, nach dem die Simon-Dach-Straße in Friedrichshain benannt wurde. Ein größerer Kontrast lässt sich wahrscheinlich kaum denken: hier das Berliner Touristenpartygedröhn, dort die Stille der Kurischen Nehrung, die so trügerisch sein kann, so einladend und tief. So rätselhaft wie die mit dem Sanskrit verwandte litauische Sprache.

Reisetipps für Nida

Hinkommen

Mit Air Baltic von Tegel nach Vilnius, hin und zurück Anfang September ab etwa 140 Euro (airbaltic.com). Dann weiter mit dem Bus nach Klaipéda ab 19 Euro.

Unterkommen

In Nida zum Beispiel im Hotel „Nidos Banga“. Einfache Zweibettzimmer gibt es ab 60 Euro pro Nacht (hotelbanga.lt)

Rumkommen

Ein Besuch im Bernsteingalerie-Museum (Pamario 20, Nida) lohnt sich, ebenso wie Bernstein-Touren (Igoris Osnac, Telefon: +370 650 21337) und Bootstrips (Soteras Armalis, Telefon: +370 63838999).

Einkehren

Empfehlenswerte Restaurants: das „Nerija“ in Nida (Pamario 13) und das „Erlio Namas“ in der Altstadt von Vilnius (Sv. Jono Str. 7).

Infos

Die Tourismusinfo in Vilnius befindet sich in der Odminiu gatvé 11: lithuania.travel/de/

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