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Schlagersängerin Helene Fischer wurde beim DFB-Pokal-Finale in Berlin minutenlang ausgepfiffen.

© imago/MIS

Moritz Rinke sammelt Erinnerungen an die Gegenwart: Der Vogel über dem Olympiastadion

Seit den post truth politics schaltet unser Autor seinen Fernseher lieber stumm. Dann singt auch noch Helene Fischer wie durch ein Wunder ohne Ton.

Es passiert immer so viel. Vielleicht weiß man auch zu viel – auch, dass man nicht allzu viel glauben soll, wegen des Postfaktischen und so. Vielleicht würde es reichen, wenn ich ein Viertel von dem aufnähme, was an Welt und Nachrichten ständig und überall verfügbar ist.

Den Nato-Gipfel in Brüssel habe ich auf N24 gesehen und den Ton ausgeschaltet. Ungeschnittene Gruppenbilder interessieren mich am meisten. Seit den post truth politics muss ich nur noch auf die Körper schauen, die lügen bestimmt nicht. Schon beim ersten Gruppenbild passierte es: Der amerikanische Präsident schob den Präsidenten Montenegros mit einer Armbewegung weg, die ich eigentlich nur vom Zweikampf beim Laufduell im Fußball kenne. Mehr muss man über einen amerikanischen Präsidenten gar nicht wissen.

Mich wird nichts mehr wundern. Der Präsident Montenegros schien zutiefst eingeschüchtert. Jens Stoltenberg, Nato-Generalsekretär, der immer auf alles vorbereitet sein will, bemühte sich, nicht konsterniert zu wirken. Sogar der türkische Präsident fiel gar nicht mehr auf und stand zivilisiert am Rand.

Es gibt ein Gruppenfoto aus meiner Schulzeit, 9. Klasse, nach den Sommerferien. Noch heute kann ich ablesen, was sich damals abgespielt hat.

Wir hatten einen Neuen in die Klasse bekommen, der am ersten Tag den kleinen Klassensprecher auf dem Pausenhof verprügelte, und das in der Waldorfschule, der neue Schüler passte da gar nicht hin. Danach wurde das Foto aufgenommen. Der Klassensprecher sah aus wie Martin Schulz von der SPD ohne Schulz-Effekt, und der Neue stand wie Trump in der Mitte, rote Haare. Später kam heraus, dass er ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom hatte.

Wie durch ein Wunder sang Helene Fischer ohne Ton

Obama und Merkel im Kirchengespräch vor dem Brandenburger Tor habe ich auch ohne Ton gesehen, angeblich sprachen sie über Gott und Drohnen. Wenn man Merkel und Obama zusammen sieht, ohne Ton, denkt man, Merkel sei verliebt und Obama ein charmanter Mann, der ihr Hoffnungen macht. Ähnliches beobachtete ich einmal mit Merkel und Bastian Schweinsteiger.

Beim DFB-Pokalfinale war ich im Stadion mit Professor Hans Ulrich Gumbrecht, dem Komparatisten von der Universität in Stanford. Als Helene Fischer in der Halbzeitpause auftrat, fragte Gumbrecht, wer Helene Fischer sei. Gumbrecht sagt von sich selbst und über Stanford, dass er dort lebe, wo sich das 21. Jahrhundert ereigne. Vielleicht ist Gumbrecht schon da, wo ich hinwill. Eine Welt, in der man nicht wissen muss, wer Helene Fischer ist … Wie durch ein Wunder sang sie in Gegenwart von Gumbrecht ohne Ton, sie wurde von den Eintracht-Fans durch ein Pfeifkonzert quasi ausgeschaltet.

Ich beobachtete den BVB-Boss Watzke und den BVB-Trainer Tuchel, ob sie sich umarmen und wenn ja, wie sie sich umarmen, denn deren Verhältnis wird in der Fußballwelt mit einer völlig übertriebenen und absurden Bedeutsamkeit verfolgt. Das Tischtuchel ist zerschnitten! Bei der Pokalübergabe durch den Bundespräsidenten kam mir Tuchel vor wie Generalsekretär Stoltenberg, der sich auf keinen Fall etwas anmerken lassen will.

Am Ende schaute ich in den Himmel. Ich sah einen Vogel, der über das Stadion flog. Vielleicht war er auch schon so über den Kirchentag und Obama hinweggeflogen. Nun flog er über das Finale, den Präsidenten, Helene Fischer und Tucheltheater. Gumbrecht hatte mir imponiert, der Vogel wäre ich gerne gewesen.

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