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Moritz Rinke sammelt Erinnerungen an die Gegenwart: Drei Milliarden Euro in Schuhkartons?

Als die Bundeskanzlerin noch im Oktober vergangenen Jahres nach Istanbul reiste, getrieben vom Druck des eigenen Machtverfalls und dem beginnenden Zerfall Europas, ließ sie der türkische Präsident auf einem goldenen Thron Platz nehmen.

Das sah seltsam aus, diese auf Schlichtheit bedachte Kanzlerin auf so einem Thron. Merkel selbst sah unsicher nach rechts, nach links, als sei sie in einem fremden, riesigen Bett aufgewacht. Der türkische Präsident, der gerade einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die kurdischen Mitbürger begonnen hatte, um für seine eigene Partei bessere Wahlergebnisse zu erreichen, saß noch höher und lächelte an ihr herunter, so als amüsiere er sich darüber, dass die Kanzlerin schon fast nicht mehr mit den Füßen den Boden berührte. Man hätte an Charlie Chaplin denken können, an Machtspiele aus dem Film „Der große Diktator“ – oder an die seltsam verschmitzten, nach innen lächelnden Blicke Putins, wenn er westlichen Politikern gegenübersitzt.

Drei Milliarden Euro aus Brüssel versprach die Kanzlerin dem türkischen Präsidenten für den Flüchtlingspakt, und ich erinnerte mich an den Mitschnitt eines Gesprächs, das genau in jenem Istanbuler Amtssitz geführt worden sein soll. Im Dezember 2013 rief der Präsident, damals noch türkischer Ministerpräsident, seinen Sohn Bilal früh morgens an, kurz vor dem Telefonat waren drei Söhne von Erdogans Ministern wegen Korruption verhaftet worden. Das folgende Gespräch hatte in der Türkei sogar Kultcharakter.

Erdogan: Bist du zu Hause, Sohn?

Sohn: Ja, Vater.

Erdogan: Ich habe dir etwas zu sagen, Sohn: Schaffe alles, was du im Haus hast, hinaus.

Sohn: Auch dein Geld, Vater?

Erdogan: Darum rufe ich an!

Sohn: Wo soll ich aber mit 30 Millionen Euro hin, Vater? Ich hab sie in Schuhkartons.

Erdogan: Zu einem anderen Ort! Tu es, Sohn! Und sprich nicht über Geld am Telefon!

Man hat von diesen 30 Millionen Euro in Schuhkartons nie wieder etwas in der Türkei gehört. Weder wurden Sohn und Vater verhaftet noch eine Untersuchung eingeleitet, ganz im Gegenteil: Der Ministerpräsident wurde Staatspräsident, zog in seinen Regierungssitz in Ankara, einen Palast für 270 Millionen Euro mit 40 000 Quadratmetern und 1000 Zimmern, die er sich schon als Ministerpräsident hatte einrichten lassen.

Seit in der Flüchtlingsfrage nun vom neuen „europäisch-türkischen Ansatz“ (Merkel) gesprochen wird, stelle ich mir fast jeden Tag vor, wie der Erdogan-Sohn die drei Milliarden aus Brüssel in Schuhkartons steckt, ich bekomme das Bild überhaupt nicht mehr aus dem Kopf. Wie viele Schuhkartons braucht man für drei Milliarden Euro?

Das griechische Nachrichtenmagazin „Euro2Day“ hat kürzlich Dokumente veröffentlicht, die belegen, wie der türkische Präsident anlässlich des G-20-Gipfels in Antalya im November mit EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und EU-Ratspräsident Donald Tusk sprach. Es ging um Geld. Die von der EU zugesagten drei Milliarden Euro empfand Erdogan als zu wenig, um kurz danach klarzumachen, dass er jederzeit die Schleusen nach Bulgarien und Griechenland öffnen und die Flüchtlinge in Busse zu setzen könne. 10 000 bis 15 000 Flüchtlinge könne er jederzeit losschicken.

Mitte Februar flog die Kanzlerin wieder in die Türkei, nach Ankara. Ich weiß nicht, ob man auf goldenen Thronen saß, aber der türkische Präsident sprach da schon von 20 Milliarden. Von Menschen- und Völkerrechtsverletzungen sprach niemand mehr. Das westliche Schweigen hat der Präsident dazubekommen, das kostet auch am wenigsten.

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