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Der Feind im eigenen Haus

© dpa/Bildfunk

Nager im eigenen Haus: Die Ratten-Pest

Sie gelten als klug, sind zäh, haben lange Zähne und suchen die Nähe des Menschen: Ratten. Unsere Autorin ist angeekelt und fasziniert.

Mein ehemaliger Vermieter erzählte mir einmal, dass kein Mensch zu keinem Zeitpunkt, weder winters noch sommers, mehr als sieben Meter von einer Ratte entfernt sei. Das hatte er so gelesen. Wo, wusste er nicht mehr. Ich hoffe, es war keine vertrauenswürdige Quelle. Der Vermieter erzählte es mir in dem so rührenden wie widersinnigen Bestreben, mich zu beruhigen. In den Schuppen, den ich mit seinem Haus gemietet hatte, waren nämlich ein paar Ratten eingezogen. Gut 20 Meter von meinem eigenen Heim entfernt. Der Vermieter fand das eine erträgliche Distanz, gemessen an seiner Sieben-Meter-Theorie. Ich war anderer Meinung.

Abends stand ich am Fenster der Waschküchentür und beobachtete halbwegs gelähmt das Treiben im viel zu nahen Schuppen. Durch ein Fernglas. Und durch die Schuppentür, die die verflixten Kinder mal wieder offen gelassen hatten, und die ich nicht schließen konnte, weil die Tür zu schließen, hätte bedeutet, dass ich mich in unmittelbare Rattennähe hätte begeben müssen.

Als hätten sie Klebstoff an den Füßen

Stattdessen stand ich in der relativen Sicherheit meiner Waschküche und glotzte. Die Ratten liefen die Schuppenwand hinauf, mühelos, als hätten sie Klebstoff an den Füßen. Flitzten hin und her auf den Regalen. Balancierten entlang der Kabel. Turnten über die Farbtöpfe. Schnupperten, viel zu kurz, an der Röhre mit dem Giftköder. Turnten über alles und schnupperten wieder. Rückhaltlos, invasiv. Und ich stand da, Gänsehaut auf den Armen, Krabbelgefühl im Rücken, und konnte mich nicht von dem Fernglas und der Waschküchentür lösen.

Meine Ekelfaszination für diese Tiere begann als Kind. Sie war lange Zeit aus zweiter Hand. Ratten kannte ich aus Filmen, Büchern und den Erzählungen der Erwachsenen. Die Filmszene aus „Willard“, wo tausende Ratten ein paar Männer durch die Kanalisation jagen, sah ich ein einziges Mal, im Alter von acht Jahren. Die Erinnerung ist noch 40 Jahre später erstklassiges Gruselmaterial.

Beinahe so gut wie jene an die Geschichte meiner Tante, wie sie in ihrem Hühnerstall eines Morgens ein faustgroßes Loch in der Ecke über den Hühnernestern entdeckte. Da heraus hingen ein paar Fäden. Komisch, dachte meine Tante. Packte die Fäden und zog. Sie konnte später nicht sagen, wer lauter gekreischt hat. Sie oder die Ratten, an deren Schwänzen sie gezogen hatte. In den Hühnerstall ging sie nie wieder. Ich auch nicht. Ersatzweise verbrachte ich schon damals Stunden damit, von herrlichem Grauen gelähmt an der Stalltür zu stehen und auf die unheimliche Ecke zu starren. Es war nichts zu sehen. Das Loch hatten Arbeiter längst zugespachtelt.

Ratten leben im Kot. Ratten übertragen die Pest, oder doch wenigstens Flöhe, die ihrerseits die Pest übertragen. Ratten vernichten jedes Jahr bis zu 20 Prozent der Ernten weltweit und verschmutzen wer weiß wie viel weitere Prozent. Ratten huschen, wuseln, sie sind auf beunruhigende Weise geschäftig.

Rosige Schwänze, fette Bäuche

Die Tiere haben lange Zähne, rosige Schwänze und fette, flache Bäuche, die beinahe auf dem Boden schleifen, wenn sie auf kurzen Beinen hierhin und dorthin flitzen. In die Enge getriebene Ratten beißen nicht nur. Sie beißen sich fest. Ich las von einem Hund, in dessen Schnauze sich eine Ratte verbissen hatte. Der Hundebesitzer musste die Ratte erschlagen, bevor er ihre Kiefer brechen und seinen Hund befreien konnte.

Ratten sind „wahnsinnig intelligent“. Ein Umstand, mit dem mich Rattenfreunde von der Liebenswürdigkeit dieser Tiere zu überzeugen versuchen. Die Logik dahinter bleibt mir fremd. Warum sollte mir ein wahnsinnig intelligentes pozenziell tödliches, scheußlich aussehendes Wesen sympathischer sein als das gleiche Wesen in blöd? Au contraire, Rattenfreunde! Ratten haben die Atomtests der Franzosen auf dem Muroroa-Atoll überlebt, gewiss. Ebenso gewiss ist: Sie werden diese kuriose kleine Fähigkeit nicht zum Nutzen der Menschheit einsetzen.

Meine erste leibhaftige Ratte sah ich mit etwa zwölf Jahren. Ich stand an mein Fahrrad gelehnt und schleckte ein Eis, gleich neben dem Gulli. Eine Nase schob sich zwischen den Gittern hervor, sehr rosa Ohren, graubrauner Kopf. Ich starrte, das Eis tropfte ungeschleckt über meine Finger. Die Ratte hangelte sich aus dem Gulli heraus und stemmte sich auf ihre rosa Pfoten. Ihr graubraunes Fell wirkte rau und struppig. Aber was will man erwarten von einer, die aus einem stinkenden Zuhause kommt.

Sie witterte, links, rechts. Nasenlöchlein kräuselten sich. Schnurrhärchen zuckten. Das hätte possierlich aussehen können, ich weiß. Tatsächlich fand ich die Art, wie sie sich da aus ihrer Welt in die meine erhob, geschäftig, wissend, zielstrebig, zum Kotzen. Meine Anwesenheit war ihr egal. Schon das machte mich ihr unterlegen.

Eine Dame, die lange Zeit in New York gelebt hatte, erzählte mir von den dortigen Ratten, die auch überall und vor allem „typisch amerikanisch“ seien: „Die sitzen vor dir auf dem Bügersteig, ohne Scheu, und starren dich an mit diesem Blick, der sagt ‚Hast du ein Problem, Mann?’“. Ich fand das drollig. So aus der Distanz. Tatsächlich kurierte mich ihre Beschreibung auf unbestimmte Zeit von meinem einst dringenden Wunsch, einmal nach New York zu fahren.

Alberta, Kanada ist rattenfrei

Der Feind im eigenen Haus
Der Feind im eigenen Haus

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Meine zweite Ratte gehörte einem Kerl, der trug lange Haare zu wildem Bart und war immer und überallhin mit einem klapprigen Fahrrad unterwegs. Er hieß Kelly, seine Ratte Oskar. Kelly hatte Oskar das ursprünglich weiße Fell mit Henna rot gefärbt. Oskar wohnte in Kellys Pullover. Manchmal lugte er aus dem Kragen hervor und pflückte ein Stück Banane von Kellys Lippen.

Kelly kam oft in mein Teenager-Stammcafé und setzte Oskar den Mädchen von hinten ins Haar. Dann hangelte Oskar sich an den Strähnen hoch auf die Köpfe, und das Gekreische war groß. Was Kelly einerseits bestialisch freute und ihm andererseits Gelegenheit zum Dozieren gab. Über die wahnsinnige Intelligenz und Vielfältigkeit dieser Tiere. „Ratten sind Abenteurer. Sie waren mit die ersten Tiere, die in den Weltraum reisten“, sagte Kelly. Gerade so, als hätten sie ein Raketchen gebaut und seien auf eigene Faust damit hinaus ins All gebraust. Ich dachte: Wo sie schon einmal dort oben waren, hätten sie von mir aus auch gern dort bleiben können. Aber ich sagte nichts. Ich wollte Kellys Aufmerksamkeit nicht unnötig auf mich ziehen.

Ich wünschte mir sogar eine eigene Ratte, oder glaubte doch, dass ich mir eine wünschte. Ich dachte, ich könnte so Kelly und Oskar ein Schnippchen schlagen und mich therapieren. Zur Rattenbeschaffung ging ich nicht in den nächsten Tierladen, sondern fuhr 100 Kilometer weit mit der Bahn zum Max-Planck-Institut, um dem Laborleiter dort eine abzuschwatzen. Der Laborleiter guckte befremdet und sagte: „Nein!“ Ich fuhr enttäuscht zurück nach Hause. Dass es Ratten im Tierladen um die Ecke gab, konnte ich nicht glauben.

In Alberta sind Ratten selbst als Haustiere verboten. Die kanadische Provinz preist sich seit 50 Jahren als rattenfrei. Alberta ist siebenmal so groß wie Österreich. Entlang seiner Ostgrenze zur getreide- und rattenreichen Nachbarprovinz Sasketchewan erklärte Alberta einen 600 Kilometer langen und 70 Kilometer breiten Streifen zur Rattenkontrollzone.

Suchen und vernichten

Acht Ungeziefer-Spezialisten patroullieren hier. Ihre Mission ist, „zu suchen und zu vernichten“. Ratten, die in die Zone hineinwandern, werden vergiftet, vergast, erschossen. Im Norden Nadelwälder, im Westen die Rocky Mountains und die unendliche, kaum besiedelte Prärie im Süden schotten Alberta zusätzlich ab. Die Kulturfolgerin Ratte, die ihr Überleben optimiert hat, indem sie sich an den Menschen hing, kann ohne ihn nicht mehr leben.

In die Provinz verirrte Ratten zu melden und zu vernichten, ist in Alberta höchste Bürgerpflicht. Wer nicht meldet und vernichtet, wird vor Gericht gestellt. Darum melden alle, alles: Bisamratten, Mäuse, Eichhörnchen. Kaum huscht mal etwas Pelziges durch die Gärten und über die Straße, geben die Bürger gleich Rattenalarm! Mehrere hundert Mal im Jahr. Etwa ein Dutzend Mal davon sahen sie tatsächlich eine Ratte. In Alberta weiß kaum noch ein Mensch, wie eine Ratte aussieht.

In Dublin dagegen fingen im vergangenen April Kammerjäger auf dem Dachboden eines Hauses eine Ratte von 60 Zentimeter Länge. Größer als ein menschliches Neugeborenes. Die Normalratte misst rund 40 Zentimeter. Der Chef-Kammerjäger war entsprechend „geschockt“. Ich kann gar nicht sagen, was diese Nachricht in mir ausgelöst hat. Abgesehen von dem dringenden Bedürfnis unverzüglich nach Alberta zu ziehen.

Wenigstens wollte ich einen Terrier. Einen rauhaarigen, seelenlosen Schurken, gegen dessen behende Blutrünstigkeit jede Ratte chancenlos war. So stellte ich mir das vor. So sah der Jack-Russell, den ich dann eines Tages fand, aus: wie ein Killer. Als ich ihn das erste Mal in den Schuppen brachte, „Nun suche und vernichte du schön, Jessie!“, winselte er. Er jagte nie auch nur eine einzige Ratte. Nur Kühe und Schafe und Pferde. Und noch lieber lag er unter der Decke im Bett.

Der Mann einer Freundin, Jäger, etwas speziell, fing die Ratten in seinem Schuppen in Lebendfallen – einem länglichen Drahtkasten, dessen Tür zuschnappt, wenn die mittels eines Köders hineingelockte Ratte auf einen Auslöser tritt. Der Freund nahm darauf den Drahtkasten mit dem Tier darin und schüttelte ihn, bis die Ratte nahezu besinnunglos war. Orientierungslos auf jeden Fall. Er öffnete die Falle und ließ die Ratte auf den Boden fallen. Vor die speichelnden Schnauzen seiner drei Jagdhunde, den Bayerischen Dachsbracken. Meine junge Tochter, die diese Hunde schön, aber den Rassenamen sehr schwer zu merken fand, nannte sie mehrmals versehentlich „Wachsratten“. Das nur am Rande.

Mit Bullterriern auf Hatz

Der Feind im eigenen Haus
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Die wirre Ratte fiel also vor die drei Dachsbracken-Schnauzen und wurde umgehend von ihnen zerrissen. Der Bekannte lachte darüber jedesmal manisch. Er kriegte sich gar nicht wieder ein. Das machte ihn mir ein wenig unheimlich, aber so richtig Mitleid brachte ich für die Ratten nicht auf.

Im viktorianischen England bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war die Rattenhatz mit Terriern und Bullterriern ein beliebter Sport. Die Zuschauer schlossen Wetten ab, welcher Hund innerhalb von wie viel Minuten wie viele Ratten töten würde. Der städtische Rattenfänger lieferte Lebendratten in eine Grube. Dazwischen setzten sie dann den Terrier und die Zeit lief. Fünf Sekunden pro Ratte waren erstrebenswert, 15 getötete Ratten pro Minute galten als exzellentes Ergebnis.

Idealerweise töteten die Hunde mit einem einzigen Biss. Ihre Technik sollte der Technik der Hütehunde gleichen. Der Terrier trieb die Ratten zusammen und biss nach und nach jede, die aus der Gruppe ausbrach, tot. Langjähriger Champion der „Rattler“ war der Bullterrier Billy, zwölf Kilogramm schwer. Am 22. April 1823 tötete er 100 Ratten in fünfeinhalb Minuten. Er tötete bis ins hohe Alter, von seinen verzweifelt zurückbeißenden Opfern zum einäugigen Invaliden gemacht. Zuletzt biss er sie mit nur noch zwei Zähnen tot.

Als Wettsport ist das Rattlern heute verboten. Als Bekämpfung von Ratten in Feldern und Scheunen ist es weiterhin erlaubt. Solange die Ratte nicht eingesperrt ist und eine reelle Chance hat.

Eine der Ratten meines Bekannten mit den Dachsbracken bekam ihre Chance. Eines Tages sah seine Frau ihn durch die Esszimmerfenster im Hof herumspringen. Laut juchzend, Knie bis ans Kinn, dazu schlug er sich links und rechts auf die Beine und auf den Bauch. Seine Frau schüttelte den Kopf und dachte liebevoll: „Dieser Irre! Nun übertreibt er’s wirklich!“ Sie begriff erst, was vor sich ging, als er sich den Arbeitsoverall vom Körper riss und die Ratte, die sein Hosenbein hochgeflohen war, heraussprang. Am Ende bekamen die Hunde sie doch.

Und am Ende fraßen die Ratten in meinem Schuppen den Giftköder doch. Ich sah eine von ihnen draußen, im Gras. Oder glaubte doch, eine Ratte gesehen zu haben. Etwas graubraunes, pelziges. Es huschte nicht, wuselte nicht. Es torkelte langsam durchs Grün. Ich traute mich in Begleitung meines Nachbarn heran. Er schob mit dem Spaten die Halme zur Seite. Schnurrhärchen zitterten im Gras, Knopfäuglein starrten uns an. „Ja“, sagte der Nachbar angesichts des Tieres. „Du bist tatsächlich eine Ratte.“ Und er schlug zu.

Antje Joel

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