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Eine zerbrochene Buddhafigur in einer Tempelanlage.

© pa/dpa/Narendra Shrestha

Nepals Hauptstadt nach dem großen Beben: Was wird aus Kathmandu?

Sieben Weltkulturerbestätten beherbergt Nepals Hauptstadt. Auch sie wurden durch das Erdbeben schwer getroffen. Ein Schock. Denn nirgendwo sonst leben Götter und Menschen so eng beieinander, sagen sie hier.

Die Steintreppe mit ihren 365 Stufen endet nun an einer Barrikade aus Brettern und Eisenstangen.

Normalerweise strömen täglich hunderte Pilger auf den Hügel von Swayambhu, der über Nepals Hauptstadt Kathmandu thront. Sie kommen, um den Stupa zu umrunden, eines der ältesten buddhistischen Heiligtümer der Welt. Sein bauchiger weißer Sockel trägt ein Mittelstück, das auf allen vier Seiten mit Augen bemalt ist, die Augen des Buddha. Darüber befindet sich eine vergoldete Spitze. Der Stupa symbolisiert den Buddha und seinen Weg zur Erleuchtung. Er gehört zu den Wahrzeichen Kathmandus mit seinen insgesamt sieben Weltkulturerbestätten.

Doch jetzt ist der Hügel abgesperrt. Sechs Wochen nach dem großen Erdbeben, das rund 8800 Menschen tötete und hunderte Bergdörfer zerstörte, liegen auch Nepals außergewöhnliche Kulturstätten in Trümmern.

Der große Stupa selbst steht zwar noch, aber das Fundament hat einen Riss abbekommen. Statt von Tempeln, Souvenirläden und weiteren kleineren Stupas ist das Heiligtum von Ruinen umgeben. Staub aus den Trümmerhaufen legt sich auf die Haut der Besucher. Er vermischt sich mit dem Schweiß eines mühsamen Aufstiegs in der Hitze kurz vor dem Monsun.

Amrit Man Buddhacharya läuft in Sandalen zwischen den Trümmern umher. Der 27-Jährige wirkt müde, seit dem Erdbeben schläft er im Freien. Sein Laden, in dem er einst Souvenirs verkaufte, ist nur noch eine Ruine; die lehmfarbene Außenmauer ragt wie ein verfaulter Zahn in den Himmel, Wände und Decke sind kollabiert. „Wie durch ein Wunder wurde niemand von uns getötet“, sagt Buddhacharya. Er glaubt, dass die Götter seine Familie beschützen.

Die Buddhacharyas, ein Clan von rund 200 Mitgliedern, sind die Hüter dieser heiligen Stätte. „Seit 1600 Jahren kümmern wir uns um den Stupa“, sagt Amrit Man Buddhacharya. Als Laienpriester führen die Mitglieder seines Clans die buddhistischen Rituale durch. Sie klingeln die Glocke morgens bei Sonnenaufgang, bringen den Götterstatuen Gaben dar und versammeln sich bei Sonnenuntergang zum Gebet vor dem goldenen Tempel.

Sie glauben, das Erdbeben sei eine Warnung der Götter gewesen. „Mein Vater denkt, dass sie die Tempel verlassen und alles mit sich genommen haben, weil die Menschen so viel Schlechtes tun“, sagt Buddhacharya. „Deshalb sind bei dem Erdbeben nur die Tempel zerstört worden, aber kaum Wohnhäuser.“

Tatsächlich hat das Erdbeben zumindest viele der neueren Wohngebäude verschont. Vom Swayambhuhügel aus öffnet sich der Blick auf das ausgedehnte, dicht besiedelte Kathmandutal. Es wirkt idyllisch, fast so, als sei nichts geschehen. Grün, pink und gelb gestrichene Häuser schmiegen sich an bewaldete Berghänge, die bis zu einer Höhe von 2500 Meter aufragen. Zwischendrin gibt es terrassierte Reis- und Maisfelder. Bei guter Sicht sind die hundert Kilometer entfernten, schneebedeckten Gipfel zu sehen.

1,7 Millionen Menschen leben in Kathmandu, die Einwohnerzahl hat sich in den vergangenen 20 Jahren fast verdreifacht. Staub ist in den engen Straßen der Stadt allgegenwärtig, hinzu kommen die Abgase und das Gehupe von Autos und Motorrädern.

Im Kathmandutal befinden sich außerdem die zwei anderen ehemaligen Königsstädte. Kathmandu im Norden und seine Schwesterstadt Patan im Süden gehen heute ineinander über, getrennt nur durch einen Fluss. Bhaktapur, die dritte Königsstadt, liegt etwa zehn Kilometer weiter östlich.

Vom frühen 13. Jahrhundert bis Mitte des 19. Jahrhunderts waren alle drei eigenständige Stadtstaaten. Vom Glanz dieser Epoche sind nur die Tempel und Paläste übrig; Nepal gehört heute zu den 20 ärmsten Ländern der Welt. Die prächtigen Tempel mit ihren dreistöckigen Dächern stammen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, einer kulturellen Blütezeit. Im 19. Jahrhundert kamen weiß getünchte Prachtbauten im britischen Kolonialstil hinzu, obwohl Nepal nie kolonialisiert wurde. Die Einflüsse reichten aus dem Nachbarland Indien hierher.

Das Erdbeben hat große Teile dieser historischen Plätze zerstört, ebenso wie die Wohnhäuser der angrenzenden Altstadtviertel, in denen viele Gebäude schon nach dem letzten großen Erdbeben 1934 wieder aufgebaut werden mussten. Heute machen solche alten Viertel nicht einmal ein Fünftel der gesamten Fläche Kathmandus aus. Der größte Teil der Stadt besteht aus neueren Gebäuden, teils einfache Betonquader, teils fünf- bis sechsstöckig mit Dachterrassen und Balkonen. Da die Wirtschaft sich in den letzten Jahren gut entwickelt hat, wurde immer höher und aufwendiger gebaut. Die meisten der neuen Gebäude haben bei dem Beben nicht viel abbekommen.

42 000 Menschen sind in Kathamandu wegen des Bebens obdachlos geworden. Buddhacharyas Familie schläft nun unter einer großen Zeltplane auf einem engen Platz zwischen den Tempeln. Die Buddhacharyas wollen Swayambhu auf keinen Fall verlassen. „Ohne den Stupa hört unsere Familie auf zu existieren, und der Stupa kann nicht existieren ohne uns“, sagt Amrit Man Buddhacharya. Um auf andere Gedanken zu kommen, hilft er ehrenamtlich einem Team von Archäologen, die die Schäden dokumentieren.

Deren Leiter ist Debendra Battharai vom nepalesischen Amt für Archäologie. Battharai, Anfang 40, hat die Ärmel seines Hemds hochgekrempelt. Er trägt einen gelben Bauhelm und einen Mundschutz gegen den Staub.

Seit dem Ende des Bürgerkriegs 2008 gibt es keine handlungsfähige Führung

Eine Frau vor einem zerstörten Haus in Kathmandu.
Eine Frau vor einem zerstörten Haus in Kathmandu.

© pa/dpa/Diego Azubel

Rund zwei Dutzend gerettete Stücke hat sein Team vor dem goldenen Tempel ausgelegt. „Glücklicherweise haben wir sehr detaillierte Zeichnungen der Anlage“, sagt der Chef-Archäologe. „Damit werden wir es hoffentlich schaffen, sie wieder originalgetreu zu restaurieren.“ Anders als Buddhacharya sieht er die Tempel mit professionellem Blick und ist hin- und hergerissen zwischen Bedauern und Begeisterung. Denn für ihn als Archäologen bietet sich jetzt die einmalige Gelegenheit, alle Einzelheiten der Tempel zu studieren. Er kennt jedes Detail: Jahreszahlen, Namen von Königen und Fachbegriffe aus dem Sanskrit, die Sprache der alten buddhistischen Schriften.

Battharai erzählt von einem kleineren Stupa, der eingestürzt ist: „Wir haben Relikte darin gefunden, normalerweise bekommt die niemand zu sehen.“ Genaueres will er nicht sagen; Details könnten Antiquitätenräuber anlocken. Beim Bau eines Stupas werden heilige Schriften, Haare oder Knochen von buddhistischen Lehrmeistern und kleine Statuen eingemauert. Um die evakuierten Schätze zu schützen, haben die Archäologen sie in das noch intakte Nationalmuseum gebracht. „Bisher haben wir niemals irgendetwas von hier oben fortgegeben“, sagt Amrit Man Buddhacharya.

Um die Kulturschätze kümmern sich die Denkmalschützer. Was aber mit den Menschen passiert, die mit ihnen verbunden sind, wie die Buddhacharyas, ist unklar. „Nirgendwo auf der Welt leben Menschen und Götter so eng zusammen wie bei uns“, sagt Buddhacharya.

Stimmt die Prognose von Christian Manhart, Leiter des Unesco-Büros in Kathmandu, dann wird Buddhacharyas Familie so schnell nicht zur Normalität zurückkehren können. „Zehn Jahre wird es dauern, bis alle historischen Stätten restauriert sind“, sagt er. „Wenn wir genügend Gelder bekommen, können wir die sieben Welterbestätten binnen vier Jahren wieder aufbauen.“

Manhart trägt Anzug und Krawatte. Er stammt aus Bayern und lebt erst seit gut zehn Monaten in Kathmandu. Der 56-Jährige schaut auf seine Uhr, in einer halben Stunde steht ein Treffen mit dem nepalesischen Kulturminister an. Eben noch hatte er den Botschafter von Sri Lanka am Telefon. Der südasiatische Inselstaat ist wie Nepal sowohl vom Buddhismus als auch vom Hinduismus geprägt. Der Botschafter hat zugesagt, sein Land werde den Wiederaufbau eines Klosters auf dem Swayambhuhügel und eines Tempels südlich von Kathmandu finanzieren. Manhart ist zufrieden.

Sein Büro liegt in einer geräumigen Villa, in einem Viertel mit Botschaften, schicken Restaurants und Quartieren internationaler Organisationen. An den Wänden hängen historische Fotos, die den Durbar-Platz zeigen, wo zu früheren Zeiten die Herrscher residierten und bis zuletzt die schönsten Tempel standen.

80 Prozent davon sind nun zerstört oder schwer beschädigt. Die Fotos werden helfen, sie wieder originalgetreu zu restaurieren. Die Tempel sollen dann mit Gummi, Stahlringen oder flexiblen Kunststoffbändern verstärkt werden. Nepal liegt auf der Schnittstelle zweier Erdplatten. Statistisch gesehen bebt die Erde alle 70 bis 80 Jahre so stark wie dieses Mal.

Die rigiden Bauvorschriften des Landes untersagen allerdings, moderne Materialien in historische Gebäude einzubauen. Die Unesco muss mit der nepalesischen Regierung zusammenarbeiten und kann nicht einfach die Gesetze ignorieren, so wie es viele private Bauherren in Nepal tun. „Wir drängen schon lange darauf, dass die Regeln geändert werden“, sagt Manhart. Das Erdbeben war schließlich absehbar und die Regierung trotzdem nicht vorbereitet.

Nepal hat seit dem Ende eines Bürgerkriegs im Jahr 2008 weder eine Verfassung noch eine funktionierende Führung. Die Menschen klagen über Korruption, Vetternwirtschaft und Ineffizienz. Alle paar Monate würden Minister und Staatssekretäre ausgetauscht, sagt Manhart: „Da hat man mit dem einen gerade ein gutes Verhältnis aufgebaut und Projekte ausgearbeitet, da kommt der nächste mit neuen Ideen, und man kann wieder von vorn anfangen.“

In einem solchen System muss man sich manchmal über Regeln hinwegsetzen – das zeigt das Beispiel der Durbar- Plätze.

Auch in Bhaktapur, der dritten Königsstadt, gibt es einen Platz mit diesem Namen. Ein Teil der Tempel dort wurde vor einigen Jahren mit Geldern des Auswärtigen Amts restauriert. Die deutschen Architekten hätten mit dem Segen der Stadtverwaltung gegen die Bauvorschriften verstoßen und die Tempel innen mit Stahlgerüsten verstärkt, sagt Manhart: „Deshalb stehen die jetzt noch.“

In der Altstadt sind die meisten Läden im Moment geschlossen

Der Durbar Platz in Kathmandu.
Der Durbar Platz in Kathmandu.

© pa/dpa/Mast Irham

Auf dem Durbar-Platz von Kathmandu blieb beim Erdbeben dagegen kaum ein Stein auf dem anderen. 30 Meter hohe Tempel sind in sich zusammengeklappt wie Kartenhäuser. Ihre Sockel, auf deren Stufen die Menschen gern im Schatten der Dächer verweilten, sind bedeckt von Sand und Steinen. Helfer haben die Holzbalken herausgeholt und am Rand des Platzes aufgestapelt. Sie sollen für den Wiederaufbau verwendet werden.

Vor einem kleinen goldenen Tempel, der noch heil ist, haben Marktfrauen Tücher auf dem Pflaster ausgebreitet: Sie verkaufen Möhren, Gurken und Paprika.

In Kathmandus Altstadt sind die meisten Läden momentan geschlossen. Wenn man durch die schmalen Gassen spaziert, sieht man viele Ruinen. Es wirkt wie in einem Kriegsgebiet. Teams von Ingenieuren sind unterwegs und geben den Häusern farbige Siegel: grün bedeutet bewohnbar, gelb eingeschränkte Nutzung, rot nicht mehr betreten. Die meisten Wohnhäuser in der Altstadt haben rote Siegel bekommen.

Inzwischen streiten die Abgeordneten über Sinn und Unsinn dieser Siegel, denn verschiedene Teams kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen, und sie prüften meist nur nach Augenschein. Besitzer von Geschäftsgebäuden sollen gar für grüne Siegel bezahlt haben.

Bei Aman Dhoj Joshi hat sich noch kein Prüfer blicken lassen. Seine Familie lebt in einem der Altstadthäuser aus Ziegelstein. Sein Urgroßvater hat es gebaut. Es ist Nachmittag und heiß. Joshi, 42 Jahre alt, trägt Badeschlappen. Sein Atem riecht nach dem starken indischen Schnaps, der für ein paar Cent zu haben ist. Das Haus der Familie liegt in einem Innenhof. Die Fenster sind mit geschnitzten Gittern versehen. Ein Holzbalkon ragt in den Hof hinein. Joshi hat die Fassade mit Balken abgestützt.

Er schließt eine schwere hölzerne Doppeltür auf und muss den Kopf einziehen, um hineinzugehen. Die Augen gewöhnen sich nur langsam an die Dunkelheit. Das Haus wirkt wie aus einer Märchenwaldkulisse. Es geht eine steile Holztreppe hinauf, auf der kaum eine Person Platz findet. Jedes der drei Stockwerke beherbergt einen einzigen Raum, in den gerade ein Bett und ein Schrank passen. Neben Joshi, seiner Frau und seiner achtjährigen Tochter leben in dem Gebäude jeweils ein Bruder und eine Schwester mit ihren Familien.

Joshi zeigt auf die Risse: „Hier, und hier....“ Sie durchziehen tragende Wände. Seine Miene verrät, wie weh es ihm tut, das Haus seiner Vorfahren in diesem Zustand zu sehen. Er vermutet, dass es nicht zu retten sein wird. Joshi will es wieder im alten Stil aufbauen, aber so, dass es dann stabil sein wird . Wie das zu bewerkstelligen ist, das weiß er noch nicht. Bauvorschriften? Joshi schnaubt. „Um die hat sich bisher auch keiner geschert.“ Private Bauherren umgehen Vorschriften häufig, indem sie für eine Baugenehmigung Schmiergeld zahlen.

Immerhin hat die Regierung angekündigt, dass jeder, der wegen des Bebens neu bauen muss, umgerechnet etwa 23 000 Euro Beihilfe bekommt, dazu einen günstigen Kredit.

Aber niemand glaubt daran, auch Joshi nicht. Nach dem Bürgerkrieg sollte es auch Entschädigungen geben, aber sie sind längst nicht überall angekommen. „Ich werde es mit meinem eigenen Geld schaffen“, sagt Joshi, der mit seinen Brüdern einen Elektronikladen betreibt.

Die Nächte verbringen die Leute aus seinem Viertel unter einer Zeltplane und in einem kleinen Tempel. Davor haben sie mit Gaskochern und großen Töpfen eine Gemeinschaftsküche eingerichtet, „alles selbst finanziert“.

Jeden Abend versammeln sie sich neben einer Lautsprecherbox und singen Karaoke zu nepalesischen Volksliedern und Bollywoodschlagern. Dann fließt auch der dunkle indische Schnaps. „Wir brauchen jetzt ein bisschen Ablenkung“, sagt Joshi.

Nicole Graaf

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