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Lydia Lunch wurde am 2. Juni 1959 geboren und wuchs im Schwarzen-Ghetto von Rochester auf.

© imago/UIG

No-Wave-Ikone Lydia Lunch: "Ich bin die Leber Amerikas"

Sie steckte fremden Männern Lippenstifte ins Gepäck und stahl das Mittagessen für ihre Band. Lydia Lunch über Donald Trump und den Klang der Stille.

Von Barbara Nolte

Künstler wie Stephen King, Neil Young, Miley Cyrus, Samuel L. Jackson und Whoopi Goldberg haben gesagt, sie würden womöglich das Land verlassen, wenn Trump gewinnen sollte. Frau Lunch, Sie haben das 2004 tatsächlich getan.

Ja, als George W. Bush die zweite Wahl stahl, habe ich mich nach Barcelona evakuiert.

Damals kursierten Betrugsvorwürfe, die auf einer Analyse der Berkeley-Universität basierten. Sie wohnen mittlerweile nicht mehr in Barcelona. Hat es Ihnen nicht gefallen?
Doch, aber nach acht Jahren wollte ich weiter. Ich dachte damals verschiedene Optionen durch und kam zu dem Schluss, nirgendwo mehr wohnen zu wollen. Seitdem bin ich Nomadin.

Wo haben Sie Ihre Sachen?
Verkauft. Das einzige Materielle, das für mich von Wert ist, ist mein Archiv. Ich besitze alles, was ich jemals künstlerisch geschaffen habe. 30 Kisten, eingelagert in New York. Sonst bedeutet mir Besitz nichts. Ein Auto wollte ich nie. Lieber hätte ich einen Zwergesel. Mit dem könnte ich von Stadt zu Stadt ziehen, und der Esel schleppt meine Merchandising-Artikel.

Haben Sie den Wahlkampf in Amerika verfolgt?
Klar, in aller Ausführlichkeit. Ich bin die Leber Amerikas. Ich nehme den ganzen Dreck und mache künstlerisch etwas daraus.

Viele Europäer sind fassungslos, dass Trump die Wahl gewonnen hat. Sie auch?
Trump ist ein fremdenfeindlicher, frauenverachtender Idiot, aber immerhin hat er noch niemanden auf dem Gewissen: Clinton war als Außenministerin in jeden Krieg der letzten Jahre involviert.

Clintons Sieg hätte einen hohen Symbolwert für die Gleichberechtigung gehabt. Der mächtigste Mensch der Welt, eine Frau.
Aber Hillary Clinton steckt doch mit den ganzen Schurken dieser Erde unter einer Decke. Nur weil sie einer Frau ist, heißt es nicht, dass sie eine Frau ist. (Lydia Lunch deutet auf ihre Brüste.) Man darf sich nicht so einfach täuschen lassen!

Die Nomadin. Besitz bedeute ihr nichts, sagt die Künstlerin. 30 Kisten mit ihrer Kunst sind das einzig Wertvolle für sie.
Die Nomadin. Besitz bedeute ihr nichts, sagt die Künstlerin. 30 Kisten mit ihrer Kunst sind das einzig Wertvolle für sie.

© Thilo Rückeis

Sie haben nicht etwa für Trump gestimmt?
Selbstverständlich würde ich niemals einen der beiden wählen! Amerika ist das Land der Konzerne, die einzelnen Menschen zählen nichts. Ich konnte nicht erkennen, dass einer der Kandidaten irgendetwas daran ändern wollte. Der letzte, dem ich meine Stimme gab, war Larry Flynt vom „Hustler Magazine“, als der in Kalifornien antrat. Flynt war immer derjenige, der Geld dafür ausgab, politische Skandale aufzudecken: von Leuten, die so tun, als seien sie heiliger als Gott, und grausame Taten begehen. Das Problem von Amerika ist: Sex ist tabu, aber Töten ist ok.

Es ging am Ende des Wahlkampfes doch dauernd um Sex.
Es ging um Machtmissbrauch mit sexuellen Mitteln, die negativste Variante von Sex.

Als eine alte Aufnahme von Trump mit anzüglichen Prahlereien auftauchte, schien er geliefert. Die Amerikaner haben ihn trotzdem gewählt. Was sagt das über das Geschlechterverhältnis in den USA aus?
Viele Männer in Amerika glauben, das Recht zu haben, Frauen zu betatschen. Deshalb müssen Frauen früh lernen, einem Angreifer ins Gesicht zu schreien: „Verdammter Sex-Maniac, lass das bleiben!“ Ich spreche jetzt nicht über Vergewaltigung, sondern über sexuelle Belästigung. Wir können nicht so tun, als ob Amerika kein gewalttätiges, sexbesessenes, machtfixiertes Land ist. Wir Frauen müssen uns darauf einstellen. Im Wahlkampf meldete sich eine Frau, die von Trump vor Jahren während eines Fluges bedrängt wurde. Wenn man in einem Flugzeug neben so einen übergriffigen Typen sitzt, ist es doch nicht zu viel verlangt, dass man losschreit.

Wann waren Sie zuletzt länger in den USA?
Dieses Jahr bis zum Sommer. Ich hatte freie Logis im Roxy Hotel in New York – wie die alten Diven. Als Gegenleistung kuratierte ich Performances, die von Frauen aus dem New York der 60er, 70er und 80er handelten. Aus den 60ern berichtete Bibbe Hansen, die Mutter des Musikers Beck. Sie war mit 14 Jahren Warhols jüngster Star. Für die 80er hatte ich Zoe Hansen geladen, die als Minderjährige heroinabhängig und Prostituierte war und später Bordelle besaß. Mein Part waren die 70er.

"Meine Generation war anti-warhol"

Andy Warhol kam zu ihren Shows. "Ich habe ihn mal rausgeworfen", sagt Lunch.
Andy Warhol kam zu ihren Shows. "Ich habe ihn mal rausgeworfen", sagt Lunch.

© imago

Sie kamen Mitte des Jahrzehnts ins East Village, wo sich die Kunstszene damals konzentrierte.
Ich war 16, und in meiner ersten Nacht ging ich in eine Bar, in der eine Band spielte. Ich guckte mir den relativ Hübschesten der Musiker aus und sagte zu ihm: „I am homeless. Take me home!“ Ich setzte mich dann einfach in seiner Wohnung fest.

Der Musiker Willy DeVille verpasste Ihnen damals angeblich den Namen Lunch.
Seine Band und er waren am Verhungern, ich klaute Essen für sie. Ein Arbeitsgebiet, das man so schnell nicht mehr loswird, wenn man es mal hat.

Und dann sind Sie selbst Musikerin geworden.
Ich bezeichne mich als Hysterikerin und Journalistin. Ich dokumentiere meine eigene Hysterie und die Hysterie meiner Zeit, und manchmal mache ich Musik dazu. Meine Hauptthemen sind Politik und Sexualität.

Sie haben mal geschrieben, dass Sie in den 70ern in New York als Zimmermädchen arbeiteten. Sie hätten nicht nur Gäste bestohlen, sondern zudem Männern Lippenstifte oder andere inkriminierende Gegenstände in ihre Koffer gelegt. Stimmt das?
Ich schreibe nichts als die Wahrheit.

Fies.
Kunst-Terrorismus.

Spielte damals Andy Warhol für Sie eine Rolle, der Star der New Yorker Kunstszene?
Er kam zu meinen Shows. Ich habe ihn mal rausgeworfen. Meine Generation war anti-warhol, weil wir seine Celebrity-Fixierung abstoßend fanden. Er umgab sich mit Brooke Shields, Liza Minnelli. Was sind das für Trottel? Ich erkenne durchaus an, was Warhol für die Kunst getan hat, immerhin ging Bibbe Hansen aus seiner Factory hervor, eine meiner Lieblingskünstlerinnen. Aber meine Generation war sehr gegen das Prominentenwesen.

Mittlerweile ist Amerika darauf fixiert.
Ja, ich arbeite gerade an einem Essay mit dem Titel: „Ich hasse eure Selfies, und euch hasse ich auch.“

Mögen Sie irgendetwas an Ihrem Heimatland?
Alte schwarze Männer. Ich mag die Tatsache, dass sie so lange überlebt haben – trotz Rassenunruhen, Armut, den vielen Inhaftierungen. Wenn ich in Europa bin, vermisse ich es, mich mit ihnen zu unterhalten, denn sie verstehen, wo ich herkomme. Ich bin im Schwarzen-Ghetto von Rochester aufgewachsen. Die Rassenunruhen von 1964 und 1967 fanden vor meiner Haustür statt.

Sind Sie noch manchmal in Rochester?
Vor einem Monat war ich für einen Auftritt da – zum ersten Mal nach 25 Jahren. Ich habe keine Verwandten mehr dort, alle sind tot. Später ist mir aufgefallen, dass ich einen Bruder in der Nähe habe. Den hatte ich ganz vergessen.

Wie war die Rückkehr?
Gut.

Ohne Sentimentalität?
Keine Gefühle. Bevor ich nach New York ausriss, verbrachte ich meine Freizeit im „House of Guitars“, einem riesigen Gitarrenladen, der drei Brüdern gehörte. Damals schaltete das Geschäft Fernsehwerbung. 13-jährig bettelte ich die Besitzer an: „Nehmt mich für euren Spot!“ Sie grinsten nur. Ich sah aus wie ein Vampir: schwarze Haare, rasierte Augenbrauen. Als ich vor einigen Jahren in der Nähe von Rochester spielte, stellte sich mir ein Junge als der Sohn eines der Ladenbesitzer vor. Er fragte mich, ob ich im Werbeclip für das Laden-Jubiläum mitmachen würde – endlich! Wir blieben in Kontakt. Bei meinem Auftritt kürzlich in Rochester wohnte ich bei dem Jungen und sah den Mann, der mich nicht in seiner Werbung haben wollte. Der ist über 70 und steht immer noch im Geschäft. Dort herrscht irrsinniges Chaos.

In den 70ern galt East Village mit dem legendären Klub CBGB als das Zentrum der Punkkultur. Und heute? "Ich hasse es dort", sagt Lunch.
In den 70ern galt East Village mit dem legendären Klub CBGB als das Zentrum der Punkkultur. Und heute? "Ich hasse es dort", sagt Lunch.

© imago

Haben Sie sentimentale Gefühle, wenn Sie durchs East Village gehen?
Nein, ich hasse es dort. Als ich hinzog, kostete meine Wohnung 75 Dollar, heute kann man dafür nicht mal ein Katzenklo mieten.

Man darf in New York fast nirgendwo mehr rauchen, was Sie gerne tun. Auch das muss Sie nerven.
Ich rauche überall, wo ich will. Aber Sie haben Recht: In Amerika wird man eher wegen Rauchens verhaftet als wegen Waterboardens.

Könnten Sie sich vorstellen, andernorts wieder sesshaft zu werden?
Schon, aber ich habe zurzeit einfach nicht das Gefühl, dass mich irgendeine Stadt ruft. Historisch gesehen übten Städte magnetische Anziehungskraft auf Menschen aus, wenn es dort wenig später zu Kriegen oder großen Verwerfungen kam – beispielsweise Berlin der 1920er und 1980er Jahre.

In den 80ern hatten Berliner einen großen Minderwertigwertigkeitkomplex gegenüber New Yorks Kultur- und Nachtleben.
Das kann ich nicht beurteilen, dafür war ich zu kurz in Berlin. Ich weiß nur noch, dass Blixa Bargeld eine Single meiner Band Teenage Jesus in einem Café auflegte, in dem er arbeitete. Außerdem habe ich in den Hansa Studios eine Platte aufgenommen, Nick Cave sang ein paar Lieder drauf.

"Durch meine Adern fließt Gewalt"

Lunch lebte lange Zeit in Spanien. In dem von Franco bombardierten Dorf Belichte nahm sie Klänge auf.
Lunch lebte lange Zeit in Spanien. In dem von Franco bombardierten Dorf Belichte nahm sie Klänge auf.

© imago

Vermissen Sie nicht, dass Sie durch das viele Umziehen nirgendwo wirklich zugehörig sind?
Nein, ich genieße das freie Leben, aber man braucht einen Sinn fürs Praktische. Gerade als Frau muss man ja irgendwelche Klamotten haben, ein Kleid alle sechs Monate. Zeitlich hat das Vagabundieren fast den Umfang eines Zweitjobs: Ich muss entscheiden, mit wem ich zusammenarbeiten will, wohin ich dafür gehen muss und bei wem ich wohnen kann.

Was haben Sie in Barcelona gearbeitet?
Vieles. Beispielsweise bereiste ich zwei Mal im Jahr mit Jacob Kirkegaard, einem Klang-Archivar, das Dorf Belchite, das Franco im Spanischen Bürgerkrieg bombardierte. Hier hat zum ersten Mal ein Staat Bomben auf seine eigenen Leute geworfen. Wir nahmen dort Klänge auf, die man nicht hören kann. Wie spielten unsere Aufnahmen in den Ruinen ab und nahmen das Ganze erneut auf. Die Stille verdoppelte sich. Im Grunde hörte man die Geister des Ortes. Ich schrieb Gedichte dazu, in denen es um Mord und Verfolgung geht.

Kennen Sie auch so etwas wie Freizeitaktivitäten? Sie gingen in Barcelona sicher nicht an den Strand.
Klar doch. Ich liebe den Strand bei Nacht.

Sie mögen das Dunkle.
Das täuscht. Als Ausgleich für das Negative, auf das ich mich fokussiere, habe ich extreme Lebenslust in mir drin.

Sie sagten mal, Sie stünden in engem Kontakt zu Ihrer männlichen Seite. Was meinten Sie damit?
Ich hatte einen Zwilling, der starb in der Gebärmutter. Ich habe das Gefühl, ihn mir einverleibt zu haben.

Weil Sie die klassische Frauenrolle unterlaufen, werden Sie oft als Feministin bezeichnet.
Ich sehe mich als Humanistin. Natürlich gibt es mehr schlimme Männer als Frauen. Aber einige Männer sind ganz anders, und die leiden unter diesen Tyrannen genauso. Auch diese Männer brauchen Unterstützung. Mich als Feministin zu bezeichnen, ist schon eine starke Untertreibung.

Als wie emanzipiert erleben Sie jüngere Frauen in den USA heute?
Das kann ich so pauschal nicht sagen. Was ich nicht mag, ist die Tatsache, dass die größten Pop-Superstars der USA Frauen mittleren Alters sind, die Leopardenmuster tragen und so tun, als hätten sie Sex, den sie nicht haben. So ein Quatsch!

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Sie spielten früher in pornografischen Filmen von Richard Kern mit.
Es gab in den Filmen pornografische Szenen, aber die Filme selbst waren keine Pornografie.

Was ist der Unterschied?
Dass niemand erregt werden sollte, sondern dass gewisse psychologische Dynamiken verständlich gemacht werden sollten.

Die Filme werden dem „Cinema of Transgression“ zugerechnet und im New Yorker Whitney Museum oder in den Kunstwerken in Berlin gezeigt.
Die Filme waren meine öffentliche Psychotherapie. Meine Wurzeln sind deutsch-sizilianisch-amerikanisch. Das heißt, durch meine Adern fließt Gewalt. Die Geschichte ist von Aggressionen durchzogen: Alles begann mit dem Urknall. Ich muss meine gewalttätige Seite auf künstlerische Weise einsetzen, um zu verhindern, dass ich sie physisch auslebe. Ich habe noch nie aus Wut einen Teller zerdeppert. Ich bin nie zornig auf jemanden. Meine Wut ist groß, ein einzelner Mensch ist dafür zu klein.

Ihre Wut gilt Amerika.
Amerika ist der große Betrüger. Es tut so, als stünde es für Freiheit, hat aber die höchste Gefangenenrate der Welt. Zweieinhalb Millionen Menschen sind im Knast, doppelt so viele auf Bewährung. Die Familien eingerechnet, heißt das: 40 Millionen sind vom Gefängniswesen betroffen. Jedes Land geht mal durch unglaublich kriminelle Phasen. Das brauche ich in Deutschland keinem zu sagen.

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