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Pummel zwischen Supermodels - aber sympathisch: der Windbeutel.

© whiteflower - Fotolia

Patisserie: Windbeutel: Der große Fluff

Er ist ein Omaklassiker und hat Verwandte in halb Europa: der Windbeutel, König der knusprigen Luftigkeit.

Ein bisschen wirkt er wie der Gast, den keiner eingeladen hat. Mindestens im Vergleich zu den anderen filigranen Kunstwerken, die in der Vitrine der Patisserie Jubel neben ihm stehen, eins schöner als das andere. Zwischen dem Maracujatörtchen mit Estragon und Süßholz, von kleinen Cremetupfern umrandet, und der fein ziselierten Mohnschnitte, gekrönt von einer Haube aus Baiser, auf dem eine Zitronenzeste drapiert ist, wirkt der Windbeutel irgendwie pausbäckig. Wie ein Pummel zwischen Supermodels.

Dabei ist er der heimliche Star im Sortiment – und ein echter Sympathieträger. Denn er hat fast allen Teilchen und Törtchen etwas voraus: „Den Windbeutel haben wir immer im Programm“, sagt Kai Michels, die Patissière im Jubel. „Von Anfang an.“ Das will schon was heißen. Michels denkt sich nämlich dauernd was Neues aus.

Die Füllungen wechseln mit der Saison

Seit 2014 betreiben Lucie Babinska und Michels, die beide aus der Sternegastronomie kommen, im Rutz und im Lorenz Adlon gearbeitet haben, die Patisserie in Prenzlauer Berg. Mit der Akribie der Spitzenküche haben sie auch dem etwas angestaubten Klassiker neues Leben eingehaucht. Klein ist ihr Windbeutel, nicht so feist, wie man ihn in der typischen Konditorei mit Gardinen vor den Fenstern zum Filterkaffee aus der Maschine bekommt. Seine Füllungen wechseln mit der Saison. Jetzt, im Winter, ist es eine Frischkäsecreme mit Orangenfilets und karamellisierten Mandeln. Im Frühling kommen Rhabarber mit Himbeeressig rein, im Sommer Erdbeeren mit Basilikum und im Herbst Pflaumen mit Estragon. Nur eins machen sie nicht: herzhafte Varianten. Das ist Geschäftsprinzip – bei Jubel in der Hufelandstraße ist alles süß.

Die knusprige Luftigkeit verdankt sich dem "Abbrennen"

Der Wind, oder sagen wir eher: die leichte Brise, die den Beutel auflockert, ist keine Mogelei, sondern ganz im Gegenteil ein Stück Konditorkunst. Was den Brandteig einzigartig macht, ist seine knusprige Luftigkeit. Die verdankt er dem sogenannten „Abbrennen“. „Davor haben sogar Köche manchmal Angst“, sagt Kai Michels, einen großen Holzlöffel in der Hand. Mit diesem rührt sie in die aufgekochte Mischung aus Wasser, Milch und Butter das Mehl, bis sich ein Teigball bildet und – ganz wichtig – auf dem Boden des Topfes eine so dicke Kruste klebt, dass man ihn anschließend einweichen und mit einem Drahtschwamm bearbeiten muss. Erst dann ist es wirklich genug mit dem Abbrennen. Denn erst durch die Hitze entsteht der Kleber, der die Hohlräume im Teig ermöglicht und diesem beim Backen seine Leichtigkeit verleiht.

Trotz seines Namens: Der "goldene Windbeutel" verheißt nichts Gutes

Jubel. Kai Michels spritzt den Teig aufs Blech.
Jubel. Kai Michels spritzt den Teig aufs Blech.

© Thilo Rückeis

Eigentlich ist der Windbeutel ein Omaklassiker, mit einer weit verzweigten Verwandtschaft durch halb Europa. In Österreich nennt man ihn Brandteigkrapferl, in der Schweiz Ofenküchlein, auf Englisch Cream Puff. Ursprünglich stammt er aus Frankreich. Die Profiteroles sind ebenfalls aus Brandteig, werden aber gefüllt, ohne dass man sie aufschneidet und wie eine Klappstulle behandelt. Weil Essen in Frankreich ja immer ein Fest ist, gibt es die Profiteroles auch zu einer imposanten Pyramide aufgetürmt. Die „Croquembouche“ („kracht im Mund“) ist eine typische Hochzeitstorte in Frankreich, misst gerne mal einen halben Meter.

Zur weiteren Verwandtschaft zählen die Eclairs. Hier wird der Brandteig auch gefüllt, normalerweise mit Creme, Sahne oder Pudding. Oder die Churros, das ist frittierter Brandteig, wie er in Spanien typisch ist; die länglichen Krapfen werden nicht gestopft, sondern in heiße Schokolade getunkt.

Erst Luft macht aus einem Klumpen lockeres Brot

Der goldene Windbeutel übrigens ist entgegen seines verheißungsvollen Namens nichts Gutes. Er wird von Foodwatch vergeben für die größte Mogelpackung in der Lebensmittelindustrie. Die letzten Preisträger: Milchschnitte, Baby-Früchtetee von Hipp und die Alete-Trinkmahlzeit.

Um Luft ins Essen zu bekommen, hat sich die kochende Menschheit schon einiges ausgedacht. Oft genug ist dies der entscheidende Schritt zur Veredelung. Wie bei den Löchern im Käse und den Poren in der Krume. Denn erst Luft macht aus einem klebrigen Teigklumpen ein lockeres duftiges Brot.

Diese erstaunliche Entdeckung wurde vor einigen tausend Jahren in Ägypten gemacht. Mutmaßlich geschah dies so: Ein Batzen Teig blieb liegen und entwickelte nach ein paar Tagen ein Eigenleben. Er wuchs. Irgendwann merkte man, er wächst noch mehr, wenn man ihn in einen Ofen tut. Freilich war das nur Luft, die da reinkam. Doch was heißt da „nur“ – in den Poren, die sich durch die Gärung bilden, steckt das meiste Aroma. Millionen Bakterien sind an diesem Prozess beteiligt. Was die da genau tun, das hat die Wissenschaft bis heute nicht vollständig entschlüsselt.

Die Ägypter litten Jahrtausende unter Zahnschmerzen

Selbst wenn die Ägypter mit dem Sauerteig die Urform der Teiglockerung entdeckt haben, bei dem wilde Hefen und Milchsäurebakterien für Elastizität sorgen, hatten sie noch ganz schön zu kauen an ihren Broten. Das ganze Volk inklusive ihrer Herrscher litt Jahrtausende lang an ziemlichen Zahnschmerzen, wie die englische Zahnärztin und Ägyptologin Judith Miller herausfand. Dass man auch gezielt Hefe zusetzen könne, um dem Teig etwas Luftigkeit zukommen zu lassen, damit wurde wohl erst später experimentiert. Das Verfahren war in der Antike bekannt, im Mittelalter wurde es systematisiert und auch ein Geschäft daraus. Brauereien und Schnapsbrennereien verkauften an Bäckereien die untergärige Hefe, die bei ihrer Produktion abfiel. So entstand das Gebäck aus reinem Hefeteig.

Ein französischer Physiker forscht über die Bläschen im Champagner

Aber bitte mit Sahne: ein ganz besonderer Burger.
Aber bitte mit Sahne: ein ganz besonderer Burger.

© Thilo Rückeis

Auch die Bläschen im Champagner sind so ein Phänomen. Mit ihnen steht und fällt die Qualität des Schaumweins. Bis zu 10 000 von ihnen sind in einer Flasche. Wie sie da genau reinkommen? Das hat ebenfalls etwas mit der Gärung zu tun, die durch den Zusatz von Hefe und Zucker entsteht und durch das tägliche Rütteln der Flaschen begünstigt wird. Es gibt einen Physiker in Reims, der Hauptstadt der Champagne, der über die Bläschen forscht. Spannungsaktive Moleküle lösen das Prickeln aus, die Kohlensäurerezeptoren auf der Zunge wiederum lösen positive Gefühle aus. Ein zu sauberes Glas verhindert das Prickeln, was den Schampus schal schmecken lässt. Dafür rauen manche Glashersteller den Grund der Champagnerflöten mit Laser ein wenig auf.

Über den Brandteig wiederum haben Historiker herausgefunden, dass er schon 1540 in einem Kochbuch erwähnt wird. Ein Florentiner Meister, der entweder Pantarelli oder Pantanelli geheißen haben soll und am Hof der französischen Königin Catherina von Medici arbeitete, buk einen Gâteau aus einem Teig, den er zuvor abbrannte. Aus dieser Technik entstanden im 18. Jahrhundert die Profiteroles und dann die vielen anderen Gebäcksorten, die aus dem pâte à choux, wie der Brandteig in Frankreich heißt, gemacht werden.

Soufflé ist ein weiterer Verwandter des Windbeutels

Wie der im Ofen aufgeht, das kann man fast in Echtzeit sehen. Nach gut 20 Minuten sind aus den flachen Kringeln, die Kai Michels mit der Spritztüte geformt hat, goldene Bälle gewachsen. Sind sie ausgekühlt, aufgeschnitten und gefüllt, erinnern sie an kleine Hamburger. „Das ist das einzige Teilchen, das wir ohne Gabel servieren. Den isst man mit der Hand.“

Natürlich ist dieser süße Burger nicht ansatzweise so empfindlich wie ein Soufflé, auch so ein Verwandter des Windbeutels, der aus Brandteig und geschlagenem Eiweiß gemacht wird. Dem kann man nicht nur beim Aufgehen, sondern auch beim Zusammenfallen zusehen. Denn Luft ist eine empfindliche Zutat.

Besonders gut lagern lässt sich der Windbeutel nicht. Er schmeckt zwar noch am nächsten Tag, aber da ist der Teig schon ein wenig pappig. Allerdings behält er seine Knusprigkeit, wenn man ihn einfriert. Am besten isst man ihn einfach gleich.

Felix Denk

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