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Albert Camus auf einem Foto aus dem Jahr 1959, ein Jahr später stirbt er nach einem Unfall auf einer französischen Allee.

© AFP

Philosophie: Camus, der Sonnenmensch

Im November 1913 wird er in Nordafrika geboren. Der Fremde. Die Pest. Der Mythos von Sisyphos – diese Bücher bringen ihm den Nobelpreis. Vom Leben und Denken des Albert Camus.

Nun ist es also vorbei.

Sartre und er, die beiden populärsten Intellektuellen des Landes – manche hielten sie gar für Zwillinge –, stehen sich unversöhnlich gegenüber. Natürlich, er, Albert Camus, hatte immer schon darauf bestanden, kein „Existentialist“ zu sein. Aber was zählte das, gemessen an der Tatsache, dass er einer war?

Nur ein Existenzialist konnte einen philosophischen Essay, seinen ersten, so eröffnen: „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord.“ Ein Schlag ins Gesicht aller herkömmlichen Philosophie, gleich im allerersten Satz des „Mythos von Sisyphos“. Dabei war es nur die etwas aggressive, etwas hochtrabende Umschreibung seiner frühesten Einsicht, die auch seine letzte sein würde: „Es gibt keine Liebe zum Leben ohne Verzweiflung am Leben.“ Als er diesen Gedanken zuerst fand, ahnte er nicht, wie sehr er ihn würde durchleiden müssen.

Der Mensch fragt. Und was macht die Welt? Sie schweigt. Sie ist groß im Nichtantworten auf die wesentlichsten, die drängendsten Fragen. Ist das nicht – absurd? Kein anderes Wort schien dem jungen Camus geeigneter, unsere exzentrische, erdenklich unkomfortable Stellung im Kosmos zu erfassen. Der Mensch, das mit Selbstbewusstsein begabte Tier. Das einzige, das um seine Endlichkeit, um sein Sterbenmüssen weiß. Aber damit auch um seine Freiheit. Könnte das Herz denken, stünde es still. Das hat nicht Camus gesagt, der Satz ist von Fernando Pessoa, und doch: Er, Albert Camus, wäre der Erste gewesen, der ihn sich hätte ausborgen dürfen.

Sartres Anläufe waren schon immer ein wenig anders gewesen: Der Mensch ist ein Sein, „das nicht das ist, was es ist, und das ist, was es nicht ist“, sagte er. Camus hätte das kaum so formuliert, aber genau diese unbequeme Position alles Menschlichen füllte seinen Begriff des Absurden. Das größte Risiko: die Verzweiflung. Die größte Chance: die Freiheit. Sie dachten das Gleiche, nur ein wenig anders.

Eines Tages, überlegten Sartre und er, würden sie eine kleine Annonce aufgeben, in der die Unterzeichnenden erklären, „nichts miteinander gemein zu haben, und sich weigern, für die Schulden aufzukommen, die ein jeder von ihnen gemacht haben würde“. Damals waren sie sich ganz nah gewesen. Und wer hätte seine frühen Bücher besser verstanden als Jean-Paul Sartre? Wer hätte wie Camus über „L’Étranger“ schreiben können? „Der Fremde“, dieser schmale Band, machte ihn 1942 gleichsam über Nacht berühmt.

Und nun, genau zehn Jahre später, verstand Jean-Paul Sartre die Bücher von Albert Camus nicht mehr, zumindest nicht das neue. „Der Mensch in der Revolte“?

Es war Camus schwergefallen, dieses Buch zu beenden, es hatte ihn schon beim Schreiben einsam gemacht, sehr einsam. Es war ein Selbstopfer, aber er wusste, dass er es sich schuldig war.

„Ein denkender Mensch“, hatte er längst erkannt, „verbringt seine Zeit im Allgemeinen damit, seine Vorstellung von den Dingen den neuen Tatsachen anzupassen, die ihr widersprechen.“ Im September 1939, bei Kriegsausbruch, war er noch in Algier. Natürlich hatte er sich sofort freiwillig gemeldet. Aber mit dieser löchrigen Tuberkulose-Lunge, die kaum taugte, den Frieden zu überleben, hatte das Militär ihn sofort wieder nach Hause geschickt. War er so gerettet?

„Später kommt ohne Zweifel der Kot, das Blut und der ungeheure Ekel. Aber am heutigen Tag wird einem nur klar, dass es mit dem Ausbruch von Kriegen ähnlich bestellt ist wie mit dem Beginn des Friedens: die Welt und das eigene Herz bemerken ihn nicht.“ Zu blau war das Meer, das er liebte, zu unverändert der beruhigende, ohrenbetäubende Lärm der Zikaden. Der Krieg war nicht im Schwarz der Zypressen auf den Hügeln, und „auch nicht im jugendlichen Branden des Lichts in den Straßen von Algier“. Ja, es war absurd. Das Fernstliegende als Nächstliegendes und umgekehrt. Doch wusste er schon am ersten Tag des Krieges, dass fortan „jedes Urteil fehl geht, das ihn nicht einbeziehen kann“. Und der Begriff des Absurden, sein Begriff, konnte diesen Krieg nicht erklären.

In sein Leben bezog er ihn fortan sehr wohl ein, zumal als Camus nach Frankreich auswandern musste. Die Heimat hatte keine Arbeit für ihn. Nach Frankreich, ins Exil also. Das Leben unter den nördlich schweren Himmeln konnte er nie anders begreifen. 1943 kam er zur Pariser Widerstandszeitung „Combat“, deren Auflage zwischen 1943 und 1944 von 40 000 auf 300 000 Exemplare stieg. Doch der Schatten des Todes lag über jedem neuen Redaktionstag.

Ja, der Mensch Albert Camus war längst gerechtfertigt. Aber der Denker auch? War dieser Krieg ihm nicht noch immer wie ein Fremdkörper?

Mit „Der Mensch in der Revolte“ holte er ihn nach innen. Sein Denken konnte den Krieg – das Massenmorden, den Tod von Millionen aus Berechnung – nun einbeziehen.

Wir revoltieren, also sind wir.

Aber die Revolte darf sich nie materialisieren, sonst schlägt sie leicht ins Grauen um. – War das etwa falsch? Warum also standen fast alle vor dem Buch wie vor einer Verlegenheit?

Weil er wie im Vorübergehen noch die größten Philosophen des Abendlandes guillotiniert hatte, ohne ihnen, wie mancher argwöhnte, gewachsen zu sein? Keiner der Berufenen wollte eine Kritik schreiben, Sartre, der Berufenste, auch nicht. Einen seiner Schüler hatte Sartre schließlich beauftragt.

Einen Schüler!

Es war ein Verriss: Unhistorisches Denken, ohne Verständnis für die geschichtliche Situation. Am Ende Flucht in die Kunst und Natur, statt sich der Wirklichkeit zu stellen, also nicht zuletzt den Klassengegensätzen der Zeit.

War es denn ein Wunder? Sartre, fast schon Kommunist inzwischen, machte die Stellung zum Proletariat zum Maßstab von Humanismus und Antihumanismus. Aber zum Proletariat und seiner Mission hatte Camus nicht viel zu sagen, und zur Kommunistischen Partei schon gar nicht, seit er, fast ein Kind noch, in Algier eingetreten war und bald darauf wieder ausgeschlossen wurde. Nie mehr würde er sich einer Partei anvertrauen, schon gar nicht sein Denken. Und der Geschichte und ihren vermeintlichen Notwendigkeiten erst recht nicht.

1952. Die Intellektuellen von Paris haben Camus zum Weltflüchtling erklärt. Sie wissen ja nicht, wie recht sie haben. Flucht ist das einzige, worauf er noch sinnt. Nur weg von den Literatenhöllen der Metropole: „Die Wahrheit ist, dass ich nicht aus dem Loch herauskomme, in dem ich seit Monaten vegetiere und in dem ich ganz besonders während dieser letzten Wochen in Paris nach Atem ringen musste.“

Aus der Welt gehen: also nach Afrika, zurück nach Hause. „Algerien weckt in mir das gleiche Gefühl wie die Betrachtung eines Kindergesichts.“ Er hatte längst daran gedacht zurückzukehren; Freunde suchten schon ein Haus für ihn. Aber dann war immer etwas dazwischengekommen, und kurze Besuche enttäuschten ihn. Aber jetzt fuhr er.

Kinder von Analphabeten, aufgewachsen in Armut, in einer Beinahe-Kolonie, schaffen es nur selten an die intellektuelle Spitze Europas. Geboren wurde Albert Camus am 7. November 1913 in Mondovi im damaligen Französisch-Nordafrika. Der Vater, Landarbeiter, stirbt am 11. Oktober 1914 an der Marne, in einem fremden Krieg, da ist sein Sohn noch kein Jahr alt. Die Mutter ist nun allein mit zwei Söhnen. Sie kann weder lesen noch schreiben und wird es nie lernen. Sie spricht nicht viel mit ihren Kindern, worüber auch?

Camus hat ihrer beider Liebe immer wieder beschworen:

„Die Mutter des Jungen verharrte … schweigend. Es kam vor, dass sie gefragt wurde: ‚Woran denkst du?‘ – ‚An nichts‘, antwortete sie. Und das stimmte wohl. Alles ist da, also nichts. Ihr Leben, ihre Anliegen, ihre Kinder begnügten sich damit, dazusein, mit einer zu selbstverständlichen Anwesenheit, als dass sie noch empfunden würde.“ Sie war gebeugt von schwerer Arbeit, das Denken machte ihr Mühe.

Ist es seltsam, dass Albert Camus seiner wortlosen Mutter, seiner ärmlichen Kindheit immer ein zärtliches Angedenken bewahrte? Oder ist es vielmehr seltsam, dies seltsam zu finden? Noch kurz vor seinem Tod wird er aussprechen, was er seiner Familie verdankt: „Durch ihr bloßes Schweigen, ihre Zurückhaltung, ihren natürlichen, schlichten Stolz haben die Meinen, die nicht einmal lesen konnten, mir damals die vornehmsten, heute noch in mir nachwirkenden Lehren erteilt.“

Doch der junge Albert Camus besaß noch eine andere Lehrerin, auch sie eine große Schweigende, gleichwohl wird er ein Leben lang nicht müde werden, auf ihr Schweigen zu hören: „Die Höhen über Algier strotzen im Frühling von Blumen. Der Honigduft der gelben Rosen strömt in die engen Straßen. Riesige schwarze Zypressen lassen in ihren Wipfeln Glyzinien und Weißdorn auffunkeln … Ein sanfter Wind, die unendlich weite, glatte Bucht. Starkes und einfaches Sehnen – und die Absurdität, dies alles zu verlassen.“ Für Paris. Er konnte die nördliche Großstadt nur als Bürgin einer großen Einsamkeit sehen, als „für alle Zukunft einzig benutzbare Wüste. Hier genießt der Körper kein Ansehen mehr. Er wird bedeckt, verborgen unter unförmigen Hüllen.“

Jetzt, kurz vor Ende des furchtbaren Jahres 1952, will er all diese Hüllen wieder abwerfen, bis in die großen Oasenstädte der Sahara will er, nach Laghouat, nach Ghardaia. Doch Nachrichten von Aufständen im Süden verzögern seine Abreise und er beschließt, trotz aller Scheu, die ihn zurückhält, nach Tipasa zu fahren.

Diese Ruinenstadt bei Algier, hingelagert am Meer, hat ihn geprägt. Er verdankt ihr, kaum 20 Jahre alt, Stunden des reinsten, tiefsten Glücks: „Ich muss all meine Kräfte aufbieten, um dieser Fülle standzuhalten. Alles hier lässt mich gelten wie ich bin; ich gebe nichts von mir auf und brauche keine Maske: es genügt mir, dass ich geduldig die schwierige Wissenschaft lerne: zu leben“. Diesen Satz schrieb er mit Anfang 20. Der Essay hieß „Hochzeit in Tipasa“. Er begann: „Im Frühling wohnen in Tipasa die Götter. Sie reden durch die Sonne und durch den Duft der Wermutsträucher, durch den Silberküraß des Meeres, den grellblauen Himmel, die blumenübersäten Ruinen und die Lichtfülle des Steingetrümmers.“ Würde Sartre diesen Satz verstehen? Oder würde er lachen?

Hatte er denn das letzte Kapitel seines „Menschen in der Revolte“ verstanden? Sein Titel lautete „Das mittelmeerische Denken“. Albert Camus hatte sich verleiten lassen, vom „Sonnendenken“ der „Mittelmeermenschen“ zu sprechen. Er hatte geschrieben: „In das gemeinsame Europa geworfen … leben wir Mediterranen immer im gleichen Licht.“ Das war sehr wichtig, denn er hatte die unterschiedlichen Lichtverhältnisse in der Welt längst als fast noch größere Ungerechtigkeit erkannt als die verschiedenen Besitzverhältnisse. Und er fügte hinzu: „Inmitten der europäischen Nacht erwartet das Sonnendenken … die Morgendämmerung“. Er meinte das griechisch geprägte Denken gegen die dräuende Romantik der Schlechtwettergeborenen, und doch: Sonnendenken?

Sartre war ratlos. Mochte der Sonnenmensch doch zum Denken in die Sonne fahren, er bleibt in Paris! Camus weiß, dass man Glück nicht einfach wiederholen kann, dass die gleichen Orte geben und verweigern. Darum scheut er Tipasa, darum fährt er, der aufgehaltene Saharareisende, nun an diesem plötzlich freigewordenen Tag doch.

Und es geschieht: „Im glorreichen Dezemberlicht, wie es nur ein- oder zweimal in einem dadurch erfüllten Leben geschieht, fand ich genau das, was ich gesucht hatte und was mir, der Zeit und der Welt zum Trotz, allein dargebracht wurde in dieser verlassenen Natur … In diesem Licht und in diesem Schweigen zerrannen langsam die Jahre der Raserei und der Nacht.“ Ihm ist, als lausche er in sich einem schon fast vergessenen Klang, als finge sein Herz ganz langsam wieder an zu klopfen. Tipasa trägt ihn.

Jeder Künstler, sagt Albert Camus, besitze in sich nur eine einzige Quelle, die sein Leben lang alles speise, was er sei und was er sage. Er hat sie wiedergefunden.

Hier in seiner algerischen Heimat begann er, 26-jähriger Sohn Nordafrikas, vaterloses Kind einer Analphabetin, während des Krieges die Bücher zu schreiben, die vom Krieg nichts wussten. In „Der Fremde“ mordet der Angestellte Meursault, ein Mann ohne Eigenschaften, freundlich und doch beziehungslos den Menschen gegenüber, gleichsam absichtslos einen Araber am Strand. Der Araber hatte sein Messer gezogen: „Licht sprang aus dem Stahl, und es war wie eine lange, funkelnde Klinge, die mich an der Stirn traf … Dieses glühende Schwert wühlte in meinen Wimpern und bohrte sich in meine schmerzenden Augen. Dann geriet alles ins Wanken.“ Das Licht als Mörderin. Der Mord als Unfall. Als Gleichnis der absurden Existenz. Seltsam genug, war den Franzosen dieses fremde Buch unter der deutschen Besatzung wie ein Kommentar zu ihrem eigenen Leben erschienen. Denn war es nicht ebenfalls gelähmt, des Eigenen beraubt, eigenschaftslos wie die Existenz dieses Meursault?

Die drei „Absurden“ – „Der Fremde“, „Der Mythos von Sisyphos“ und „Die Pest“ – hatten seinen Ruhm begründet, nicht zuletzt für sie würde er 1957 den Nobelpreis für Literatur bekommen.

Aber seine eigentliche Quelle, die ihn schreiben ließ, lag tiefer, sie lag in den frühen Essaysammlungen „Licht und Schatten“ und „Hochzeit des Lichts“, die in kleiner Auflage noch in Algerien erschienen waren. Tipasa, seine Mutter, das Armenviertel, in dem er aufwuchs – alles war darin. Camus will diese Bücher noch einmal schreiben, er würde das alles heute noch sagen, nur anders, reifer. Und in der Mitte würde wieder das große Schweigen einer Mutter stehen.

Schweigen. Auch Camus schweigt, laut hörbar für alle. Was soll er sagen zum algerischen Unabhängigkeitskampf? Seine Hoffnung ist, dass sich in diesem vormals „leeren, vergangenheitslosen“ Land eine neue Kultur entwickeln würde, weder französisch noch arabisch, doch beide Ursprünge bewahrend. Vorbei. Er wird kein Haus mehr in Algerien haben.

Im Jahr vor seinem Tod bezieht er eines in Lourmarin, im Süden Frankreichs. Er meißelt eine Sonne über die Eingangstür, im Pferdestall steht ein Esel, ein Geschenk algerischer Freunde. Er will seine Mutter zu sich holen, sie soll mit ihm in diesem Haus wohnen. Es kommt nicht mehr dazu.

Am 4. Januar 1960 gerät der Wagen seines Verlegers Gallimard auf der Rückfahrt von Lourmarin nach Paris ins Schleudern und prallt gegen einen Baum. Albert Camus, 47 Jahre alt, Denker des Absurden, stirbt einen absurden Tod.

Er hat sein großes Buch der Rückkehr zum eigenen Anfang nicht mehr beendet.

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