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„Da fällt von des Altans Rand/ein Handschuh von schöner Hand/zwischen den Tiger und den Leun/ mitten hinein“ – dann fordert das Fräulein Kunigund ihren Ritter kokett auf, ihr den Handschuh aus dem Zwinger hochzuholen.

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Plädoyer fürs Auswendiglernen: Mit Herz und Hirn

Gedichte sind wie alte Freunde, an denen man immer wieder Neues entdeckt. Ein Lob des Auswendiglernens.

Sie kann die „Loreley“. Sie kann „Die Bürgschaft“. Sie kann auch Kästners „Entwicklung der Menschheit“: „Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt/Behaart und mit böser Visage …“ Man bittet meine Mutter mitten in einem Gespräch übers Wetter, den „Archibald Douglas“ von Fontane zu rezitieren. Sie tut es, fehlerlos. Warum nicht auch den „Ribbeck von Ribbeck im Havelland“? Den „Knaben im Moor“ von Annette von Droste-Hülshoff? Den „Erlkönig“?

Meine Mutter ist 90 Jahre alt, und sie kann alle diese Gedichte auswendig hersagen. Nein, mehr als hersagen, vortragen: Da ist kein Leiern dabei, kein monotones Runterbeten. Sie kennt sie inwendig und auswendig, kennt die kleinen Verzögerungen und Betonungen, die dem Ohr schmeicheln, den Text lebendig werden lassen.

Mein Hirn ist ein Durchlauferhitzer

Und ich? Weiß nach 20-jähriger Partnerschaft nicht mal die Handynummer meines Lebensgefährten. Muss alles aufschreiben, was ich mir merken möchte. Vergesse, was mir die Steuerberaterin gestern erklärt hat, erinnere mich nicht, wo ich meinen Schirm hingelegt habe. Mein Hirn ist ein Durchlauferhitzer, da brodelt und kocht es permanent, aber es bleibt nichts hängen.

Natürlich rechtfertige ich mich. Heutzutage braucht doch kein Mensch mehr etwas auswendig zu wissen, wir haben ja Google! Wir nehmen täglich so viele Informationen auf, dass es grotesk wäre, sich das alles merken zu wollen, im Gegenteil, das Gedächtnis muss entlastet, ständig durchgespült und entleert werden, damit es am nächsten Tag überhaupt noch zur Reizverarbeitung fähig ist.

Außerdem, wenn ich mir schon wichtige Fakten nicht merken kann, wieso sollte ich meinen Kopf ausgerechnet mit Gedichten belasten? Wo soll ich die Zeit hernehmen, mir diese Zeilen einzuprügeln? Geht das überhaupt – mehr als zwei Strophen behalten?

Meine Mutter sagt, sie habe die meisten Gedichte in ihrer Kindheit, in der Schule gelernt, auf der Nonnenschule im Rheinland war das so üblich. Während meine Großmutter, Jahrgang 1904, noch das ganze Schillersche „Lied von der Glocke“ lernen musste und auch konnte, fanden die Nonnen das für die Generation meiner Mutter schon zu lang.

Zu lang? Ich kann nichts dafür!

Aber Gedichte mit bis zu einem Dutzend Strophen mussten die Mädels auswendig lernen, das war normal und diente auch dazu, einen gemeinsamen Schatz von Literatur und Zitaten zu schaffen. Diese Gedichte haben sich ins kindliche Hirn gebrannt und bleiben ein Leben lang.

Im Englischunterricht hat meine Mutter lange Shakespeare-Passagen auswendig gelernt, sie weiß noch jeden Satz der Rede des Marcus Antonius am Grabe Julius Cäsars: „But Brutus is an honorable man ...“. Noch ein Grund für unsereins, sich rauszureden. Ich habe in Kindergarten und Grundschule vielleicht ein paar Weihnachtsgedichte gelernt, im Gymnasium dann den „Erlkönig“, vielleicht den „Panther“ von Rilke, und damit hatte es sich. Kann nichts dafür!

So dachte ich bis vor ungefähr einem halben Jahr. Dann – ich hatte gerade begonnen, öfter mal das Wörtchen „Demenz“ zu googeln, wenn ich wieder was vergessen hatte – schenkte mir eine Bekannte den Kästner-Band „Sonderbares vom Kurfürstendamm“ mit Betrachtungen und Gedichten über Berlin.

Kästner, dachte ich, dessen Gedichte hat meine Mutter lange nach ihrer Schulzeit gelernt, aus ihrem 1000-seitigen „Großen deutschen Gedichtbuch“ von Karl Otto Conrady. Das müsste mir doch gelingen!

Ein kurzes Gedicht - ich tat mich dennoch schwer.

Also versuchte ich mich an dem kurzen Opus „Sozusagen in der Fremde“: „Er saß, in der großen Stadt Berlin/an einem kleinen Tisch./Die Stadt war groß auch ohne ihn/Er war nicht nötig, wie es schien/Und rund um ihn war Plüsch.“ Der junge Mann sitzt einsam im Café, streicht das Tischtuch glatt, hat das Leben satt, aber dann, in der fünften Strophe, kommt die Wendung.

Er steht, in der Stadt Berlin, auf vom kleinen Tisch: „Keiner dieser Menschen kannte ihn?/Da fing er an, den Hut zu ziehen!/Not macht erfinderisch.“ Es ist ein kleines, unauffälliges Gedicht mit einer einfachen Botschaft, und trotzdem, ich tat mich schwer. So ungewohnt!

Wie lernt man Gedichte auswendig? Meine Mutter sagt, sie orientiere sich am Reim, Gedichte, in denen keine Reime vorkommen, lernt sie nicht. Der englische Dichter Ted Hughes (1930-1998), Ehemann von Sylvia Plath, empfahl, sich für jede Gedichtzeile ein Bild einzuprägen und es in einem imaginären Haus abzulegen, angelehnt an die Mnemotechnik der alten Griechen und Römer.

In einer Lyrik-Anthologie mit dem Titel „By Heart“ unterscheidet Hughes das „learning by rote“, das mechanische Auswendiglernen, vom „learning by heart“, dem Sich-Anverwandeln, Sich-Zueigenmachen. Ein schöner Ausdruck, „by heart“: Man hat die Gedichte nah am Herzen.

Der beste Trick zum Auswendiglernen: das Fahrrad!

Figuren aus Schillers "Der Handschuh": Wenn der Löwe „mit bedächtigem Schritt“ in den Zwinger schreitet...
Figuren aus Schillers "Der Handschuh": Wenn der Löwe „mit bedächtigem Schritt“ in den Zwinger schreitet...

© istock

Was mich betrifft, so brauche ich keine antike Mnemotechnik und keine starken Bilder, ich brauche zum Auswendiglernen ein Fahrrad. Ich muss mir die Gedichte immer wieder vorsprechen, bei jedem Vortrag dem Klang der Worte lauschen, ihren Nuancen nachspüren, es mal schneller, mal langsamer, mal leise, mal lauter versuchen, immer neue Melodievariationen entdecken, bis mir Rhythmus, Klang, Inhalt in Fleisch und Blut – oder besser ins Herz – übergegangen sind. Das geht am besten auf dem Rad.

Die Geschichten, die die Gedichte erzählen, habe ich jetzt schon hundertmal deklamiert, gehört, durchdacht, durchlebt, und genau das ist das Schöne daran: das Wiederkehrende. Sie beruhigen den Geist, der sonst unstet vom einen zum anderen hüpft, sie spenden Trost, geben Halt, sie sind wie alte Freunde, an denen man doch immer wieder Neues entdeckt. Sie sind vertraut.

Außerdem helfen sie beim Einschlafen, gegen Hyperventilation und gegen die Langeweile, die einen zum Smartphone greifen lässt. So spendet Segen noch immer die Hand des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland!

Gedichte als Mitbringsel

Ich habe es sogar gewagt und Freunden von meinem neuen Spleen erzählt. Und siehe da: Auf meine Bitte hin, mir bei der nächsten Party statt eines Geschenks ein Gedicht mitzubringen und es, natürlich auswendig, vorzutragen, haben fast alle mitgemacht. Die 18-jährige Tochter einer Freundin rezitierte Hermann Hesse, „Seltsam, im Nebel zu wandern!/Leben ist Einsamsein“. Mascha Kalékos Emigrantengedicht „Der kleine Unterschied“ – „Gewiss, ich bin sehr happy/Doch glücklich bin ich nicht“ – hatten gleich zwei Gäste ausgewählt.

Eine ungarische Freundin und ein kurdischer Freund haben ihre Gedichte sogar gesungen, die russische Schwägerin trug Puschkin im Original und in zwei deutschen Übersetzungen vor, und der norddeutsche Lebensgefährte rezitierte so schön auf Plattdeutsch, dass mir die Tränen kamen. Eine Freundin hat’s nicht auswendig geschafft, aber mir das grandiose Gedicht „Zeit für Lyrik“ des Poetry Slammers „Sebastian23“ mitgebracht. Darin definiert er in sieben Strophen Wörter neu: „Träume sind Schlaf mit Ideen/Igel Kakteen, die gehen./Fenster sind gläserne Mauern/Und Berge Wellen, die dauern“. Nicht leicht zum Lernen, in der Tat.

Aus Schillers "Handschuh": Die mühsam gezügelte Aggression des Tigers, das Sich-Belauern der Raubtiere, „und herum im Kreis/von Mordlust heiß/lagern die greulichen Katzen“...
Aus Schillers "Handschuh": Die mühsam gezügelte Aggression des Tigers, das Sich-Belauern der Raubtiere, „und herum im Kreis/von Mordlust heiß/lagern die greulichen Katzen“...

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Ein anderer Gast machte es kurz und lustig mit Robert Gernhardt: „Paulus schrieb an die Apostel/Ich taufe alle Frauen Chrostel./Doch Petrus schrieb in der Epistel/Das heißt nicht Chrostel, sondern Christel/Und wenn ich gegen eins was habe/Sind’s Fehler nur dem Reim zulabe.“ Etwas „Archaisches“ habe der Abend gehabt, sagte ein Freund hinterher, dieses Beieinandersitzen und Reihumvortragen. Archaisch schön.

Ich besitze einen Band mit deutschen Balladen, viele davon für heutige Leser uninteressant, sie besingen Könige und Kriege, die zu Recht vergessen sind. Aber darin ist auch der „Ring des Polykrates“ von Schiller, die Ballade vom Tyrannen, der vom Glück – ja, vom Glück – verfolgt wird, der Schätze und Siege anhäuft, während sein Freund warnt: „Noch keinen sah ich fröhlich enden/auf den mit immer vollen Händen/die Götter ihre Gaben streun! (…) so flehe zu den Unsichtbaren/dass sie zum Glück den Schmerz verleihn!“

Nichts hilft, sogar der Ring, den der Tyrann ins Meer wirft, taucht wieder auf. Entsetzt reist der Freund ab: „Die Götter wollen dein Verderben./Fort eil ich, nicht mit dir zu sterben!“

Diese Ballade mit ihren 16 Strophen dauert vorgetragen genau fünfeinhalb Minuten. Und was soll ich sagen? Das schaffe ich. Ich lerne ein Gedicht nach dem anderen und stelle erfreut fest: Lernt man ein neues, vergisst man deshalb keineswegs eines der alten. Und entfällt einem doch mal ein Ströphchen, dann hilft Google.

Ich suche noch immer den richtigen Ton

Mein Lieblingsgedicht zum Vortragen auf dem Fahrrad ist übrigens „Der Handschuh“, ebenfalls von Schiller. Ich liebe es, wenn der Löwe „mit bedächtigem Schritt“ in den Zwinger schreitet, genieße die mühsam gezügelte Aggression des Tigers, das Sich-Belauern der Raubtiere, „und herum im Kreis/von Mordlust heiß/lagern die greulichen Katzen“. Ich liebe den plötzlichen Wechsel im Ton – „Da fällt von des Altans Rand/ein Handschuh von schöner Hand/zwischen den Tiger und den Leun/ mitten hinein“ – und die maliziöse Koketterie des Fräulein Kunigund, die ihren Ritter auffordert, ihr den Handschuh aus dem Zwinger hochzuholen.

Auch nach Dutzenden Variationen gelingt mir allerdings nicht der richtige Ton, wenn der Ritter dem Fräulein den Handschuh ins Gesicht wirft, den er unter Lebensgefahr hochgeholt hat, und sagt: „Den Dank, Dame, begehr ich nicht!“ Mannhaft, wütend, stolz oder doch mit einer Prise Verletztheit, einem unterdrückten Schluchzen gar?

Ach, lieber Schiller, daran arbeiten wir weiter, du bleibst mir im Herzen erhalten.

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