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Die Prostituierte Kristina Marlen

© Doris Spiekermann-Klaas

Prostitution: „Ich öffne Menschen Türen zu ihrer Sexualität“

Talk-Shows, die neue Koalition, Alice Schwarzer – alle streiten über Prostitution. Die wissen doch gar nicht, wovon sie reden, sagt die Sexarbeiterin Kristina Marlen.

Kristina Marlen – ist das Ihr wirklicher Name oder ein Pseudonym?
Kristina und Marlen sind meine beiden Vornamen. Den Nachnamen behalte ich als Sexarbeiterin lieber für mich. Wenn ich nicht ohnehin Marlen hieße, wäre das ein schöner Künstlername – ich bin ein großer Fan von Marlene Dietrich.

Auf Ihrer Webseite gibt es inszenierte Fotos, auf denen Sie der Diva sehr ähnlich sehen.

Wer weiß, vielleicht bin ich ja ihre Wiedergeburt. Jedenfalls fühle ich mich den Berliner 20er Jahren sehr verbunden, einer Zeit, in der mit großer Neugier Sexualität ausgelebt wurde. Diese Art von Offenheit würde ich mir in der heutigen Prostitutionsdebatte wünschen. Stattdessen bildet sich da eine merkwürdige Allianz aus feministischen Forderungen und erzkonservativem Gedankengut.

Alice Schwarzer sagt, Prostitution sei grundsätzlich sexistisch, erniedrigend und ausbeuterisch.

Das müsste ich als Feministin doch irgendwann gemerkt haben, bei all den Kunden und Kundinnen, die ich hatte. Habe ich aber nicht, meine Realität sieht völlig anders aus. Beim Wort Prostitution denken derzeit alle an dasselbe Bild: Eine Gruppe brutaler Männer fällt über eine wehrlose, festgehaltene Frau her, die sich nicht auf Deutsch artikulieren kann. Nichts an diesem Bild hat mit Sexarbeit zu tun – solche Frauen sind Opfer von Entführung, Verschleppung, Menschenhandel, sexueller Nötigung und Vergewaltigung. Prostitution beruht grundsätzlich auf beiderseitigem Einverständnis.

Im Alltag dürfte das mitunter anders aussehen.

Es gibt keinen Alltag normaler Prostituierter, es gibt nur viele Vorurteile über diesen vermeintlichen Alltag. Ich kenne Straßenprostituierte, die ein wirklich schwieriges Leben haben, geprägt von Armut, prekärem Aufenthaltsstatus und so weiter. Aber auch die sehen sich nicht als Opfer. Was Menschenhandel und sexuelle Nötigung angeht, braucht es natürlich Schutzmaßnahmen. Aber da stellt sich für mich eher die Frage nach Armut und Wohlstand in Europa, nach Bleiberechtsregelungen und wirksamem Opferschutz – und sicher nicht die Frage nach einem Berufsverbot.

Das deutsche Prostitutionsgesetz ist eins der liberalsten in Europa. Kritiker fordern eine Regelung wie in Schweden, wo es seit 1999 strafbar ist, sexuelle Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen.

In einer schwedischen Regierungserklärung wurde eingeräumt, dass sehr unklar ist, was das Gesetz bewirkt hat. Prostitution gibt es weiter, nur findet sie jetzt in einem komplett kriminalisierten Umfeld statt, in dem Frauen viel schlechter geschützt sind. Auch die Hinweise auf Zwangsprostitution, die ja oft von Freiern kommen, sind zurückgegangen – welcher Mann geht zur Polizei, wenn er dafür eine Straftat einräumen muss? Ich halte das schwedische Modell für den völlig falschen Ansatz.

Aufgewachsen mit dem "Emma"-Abo der Mutter

Kristina Marlen.
Kristina Marlen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Sie sind Mitglied im neuen „Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen“, der die Stärkung von Sexarbeitern fordert. Wie soll die aussehen?

Wir wollen Bedingungen für selbstbestimmte Sexarbeit ohne körperliche und seelische Risiken schaffen. Dieses Anliegen vertritt auch unser "Appell für Prostitution", für den wir derzeit Unterschriften sammeln. Verbote und Stigmatisierungen werden die Situation nicht besser, sondern schlechter machen. Niemand weiß das besser als Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter, deshalb müssen in der Prostitutionsdebatte verstärkt diejenigen zu Wort kommen, die den Beruf ausüben.

So wie Sie selbst. Wie kamen Sie zu dieser Arbeit?

Damit begann ich vor etwa fünf Jahren. Als selbstständige Physiotherapeutin habe ich damals Körperarbeit angeboten, die durch Berührungen emotionale Prozesse auslöst und das Körperbewusstsein stärkt. Dabei war häufig auch sexuelle Energie im Raum. Von Kunden kam dann die Anfrage, diesem Aspekt mehr Raum zu geben. Als ich mich dafür entschied, war ich erst völlig überrascht, dass ich mich nicht erniedrigt fühlte. Das hätte ich mir nie vorstellen können!

Warum nicht?

Weil ich aus einer sehr feministischen Familie komme. Meine Mutter war in der Frauenbewegung aktiv, ich wuchs mit ihrem „Emma“-Abo auf. Mit 13 hatte ich einen „PorNo!“-Anstecker an der Jacke und war felsenfest überzeugt, dass jede Form von Pornografie und Prostitution Frauen erniedrigt. Plötzlich begriff ich, dass das nicht stimmt.

Wenn Sie sich nicht erniedrigt fühlten, was empfanden Sie stattdessen?

Ich hatte das Gefühl, dass etwas Gutes passiert ist. Da war jemand sehr glücklich, und mir ging’s auch gut. Als es sich wiederholte, merkte ich immer mehr, wie schön es ist, einen Raum zu schaffen, der explizit der sexuellen Energie gewidmet ist.

Für Ihre Mutter muss das ein Schock gewesen sein.

Meine Mutter nimmt sich sehr ernst bei dem Satz: Ich möchte, dass du glücklich bist. So hat sie auch auf meinen ersten Berufswechsel reagiert. Ich habe Jura und Sozialwissenschaften studiert. Aber dann merkte ich, ich brauche etwas Körperliches. Vor dem Schreibtisch wäre ich verendet.

Was Ken und Barbie so im Bett machen

Kristina Marlen.
Kristina Marlen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Weiß jeder, was Sie machen?

Wenn mich jemand fragt, lüge ich nicht. Ich binde es aber nicht jedem auf die Nase, mit dem ich als Physiotherapeutin oder Trainerin zu tun habe.

Sie sprechen auch in Ihrer Beziehung über den Beruf?

Natürlich. Für meine Partnerin ist das in Ordnung.

War das von Anfang an so?

Als es losging, war ich Single. Anfangs habe ich das selbst in einer Art Halbdunkel geparkt, es war etwas Verruchtes, von dem ich dachte: Sobald ich eine Beziehung habe, lasse ich es sein. Dann trat jemand in mein Leben, und ich merkte: Ich möchte das nicht sein lassen. Ich versuchte, es meinem Partner zu erklären, vergeblich. Die Beziehung ist kaputtgegangen, ich bin nicht in einem Reihenhaus gelandet – und habe ein glückliches Leben.

Auf Ihrer Webseite stößt man auf geheimnisvolle Wörter wie „blissful bondage“ oder „sacred kink“, da werden „spielerisch die Grenzen der Komfortzone befragt“ und ...

... im Grunde sind das alles Codewörter für Sexspielarten, die von dem abweichen, was Ken und Barbie so im Bett machen. Fetischspielarten, intensive Sinneserfahrungen. Spezialisiert habe ich mich auf Bondage, die Kunst des Fesselns. Supergerne biete ich auch erotische Ringkämpfe an. Ich bin 1,83 Meter groß und ziemlich trainiert, ich kann Männer zu Boden ringen. Für viele ist das eine tolle Erfahrung, von einer Frau nicht nur symbolisch, sondern körperlich dominiert zu werden.

Wer sind Ihre Freier?

Zum Beispiel Menschen, die mit ihrem Partner keine Sexualität mehr erleben, weil der vielleicht einen Unfall hatte oder krank ist. Auch Witwer. Mein ältester Klient war 85, der hatte jahrelang seine Frau gepflegt. Als sie starb, stellte er überrascht fest, dass er sexuelle Bedürfnisse hatte.

Wie hat der zu Ihnen gefunden?

Er saß im Wartezimmer beim Arzt und hat in der „Zitty“ geblättert, da hatte ich mal eine Anzeige. Es gibt auch Kunden, die nach einer Trennung Sexualität wollen, ohne sofort eine neue Beziehung anzufangen. Dann gibt es Menschen, die eine Frage zu ihrer Sexualität haben, etwa nach Prostata- oder Samenleiteroperationen, sie wollen wissen, wie Lust und Erektionsfähigkeit zusammenhängen. Es kommen auch Frauen zu mir, die ihre Sexualität erkunden wollen, die ihre Möse nicht kennen und wissen möchten, was da möglich ist. Andere Frauen interessieren sich für BDSM ...

... sadomasochistische Praktiken – das sind Frauen, die „Fifty Shades of Grey“ gelesen haben?

Kann sein. Oder sie hatten schon immer solche Fantasien und wussten nicht, wohin damit. Dann gibt es Klienten, die mit ihrem Partner einen bestimmten Teil ihrer Sexualität nicht ausleben können.

Männer mit Wollsockenfetisch

Kristina Marlen.
Kristina Marlen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Zum Beispiel?

Bei mir war mal jemand mit einem Wollsockenfetisch. Dem war das total peinlich, er konnte seiner Freundin nicht davon erzählen. Die Socken hatte er extra gekauft, so lange Stulpen. Ich habe ihn damit massiert, gestreichelt, gefesselt, und er war selig!

Gibt es auch Sachen, die Sie nicht machen?

Klar. Ich habe keine Klinikausstattung. Und jemand, der sich als Vollzeitaschenbecher bewirbt, wird bei mir auch nicht viel Freude haben.

Was bitte ist ein Vollzeitaschenbecher?

Das ist jemand, der gerne den Mund aufmacht, wenn die Herrin abascht.

Klingt so, als hätte das alles nicht viel mit Sex im herkömmlichen Sinne zu tun.

Im Sinne von Penetration? Ich frage mich, warum Sex so oft darauf reduziert wird. Wenn ich meine Arbeit beschreibe, kann ich bei manchen förmlich sehen, wie sie verzweifelt in ihrer Großhirnrinde rumstochern und nicht drauf kommen, was das mit Sex zu tun hat. Die begreifen nicht, dass ich da zwei Stunden lang was mit Leuten mache, und es kommt mitunter gar nicht zum klassischen Geschlechtsakt, eventuell nicht mal zum Orgasmus. Die meisten denken: Sex ist, wenn ein erigierter Schwanz irgendwo eingeführt wird. Dass Sexualität Kommunikation ist, dass Sex bedeutet, seinen Körper zu verstehen, zu entdecken, ihn als Lustorgan zu stimmen, denken die wenigsten. Ich bin froh, dass meine Kundinnen und Kunden da gedanklich weiter sind als die, die sich gerade am lautstärksten an der Prostitutionsdebatte beteiligen.

Suchen die meisten Freier nicht eher die Art von Erlebnis, die die berüchtigten Flatrate-Bordelle bieten: unbegrenzter Sex zum Discount-Preis?

Ich kenne Frauen, die durchaus gerne in Flatrate- Bordellen arbeiten. Mein Ding wäre das nicht, aber ich sehe die Vorteile. Man muss keine Akquise machen, die Kontaktaufnahme ist relativ entspannt, es muss nicht über Geld verhandelt werden. Im Grunde sind Flatrate-Puffs eine Marketing-Idee für Männer, die sich selbst überschätzen. Die wollen zehn Mal, zahlen für drei Mal, können vielleicht zwei Mal und erzählen hinterher ihren Kumpels, was sie da für einen Zampano gemacht haben.

Sie selbst finden Ihre Kunden über Annoncen?

Vor allem übers Internet, da inseriere ich auf diversen Massage- und Domina-Portalen.

Menschenverachtende Kommentare

Kristina Marlen.
Kristina Marlen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Ist das die Art von Portalen, wo Kunden auch Bewertungen vergeben können?

Ich habe mich auch schon gefragt, ob da irgendwo eine Bewertung von mir rumgeistert.

Wir haben keine gefunden. Dafür jede Menge menschenverachtender Kommentare zu anderen Frauen.

Klar, das ist ein Grottental. Es wäre naiv zu behaupten, dass es in der Sexarbeit keinen Sexismus gibt. Man sollte aber auch nicht alles für bare Münze nehmen, was Männer so online von sich geben. Oft dürfte das nicht viel mit dem zu tun haben, was sich wirklich mit der Frau abgespielt hat. Es ist kein Mythos, dass Freier es gerne haben, wenn es der Frau gefällt. Das ist Teil des Kundeninteresses, das wird ihnen jede Sexarbeiterin bestätigen. Wenn man Kunden beiderseitig erfüllenden Sex anbietet, werden sie darauf immer eingehen.

Auf Ihrer Webseite steht der Hinweis: „Wenn du besondere Wünsche hast, sag mir das vorher.“ Klingt, als käme es öfter mal zu Konflikten.

Nein, das ist als Einladung gemeint. Wenn jemand einen Fußfetisch anmeldet, dann baue ich das in die Session ein. Natürlich müssen Prostituierte die Fähigkeit haben, Grenzen zu setzen, man muss sich fragen, was man will und was nicht. Jeder andere Beruf hat Ausbildungswege, wo man sich mit solchen Fragen auseinandersetzen kann. Das würde ich mir auch für die Sexarbeit wünschen.

Weil Sie auf manches nicht vorbereitet waren?

Es gab Momente, in denen mir nicht klar war, wie man Grenzen kommuniziert, und zwar so, dass sich das Gegenüber weiter eingeladen fühlt. Inzwischen vertraue ich da meinem Körper total. Wenn ich merke, irgendwas stimmt hier gerade nicht, dann lenke ich verbal oder körperlich um.

Stimmt es eigentlich, dass Prostituierte nie küssen?

Das ist ein Mythos. Edel-Escorts werben mit „leidenschaftlichen Küssen“, andere Frauen mit dem Schlagwort „girlfriend experience“, also Sex, der sich so echt anfühlt wie mit der Freundin. Wo die eigenen Grenzen verlaufen, ist sehr unterschiedlich, das lässt sich nicht am Küssen festmachen. Ich zum Beispiel bin bei meinen Pflegepraktika nicht so gut mit Krankheit und Morbidität klargekommen, damit, jemandem den Hintern abzuwischen. Später merkte ich: Sperma und Lustschweiß machen mir nichts aus.

Berufliche und private Lust

Kristina Marlen.
Kristina Marlen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Ist es schwer, berufliche und private Lust zu trennen?

Ich kann Liebe und Sex trennen, muss es aber nicht. Auch die sexuelle Dienstleistung kann sehr herzverbunden sein, meine ist es zumindest. Ich könnte nicht mit Menschen zusammenleben, die glauben, sie hätten ein Recht auf meine Sexualität. Wer mich liebt, muss meine Freiheit akzeptieren und den Teil schätzen, der uns beiden gehört.

Ist es vorstellbar, sich bei der Arbeit zu verlieben?

Es gibt für mich immer eine Art temporäre Verliebtheit bei der Arbeit. Ich vergleiche das gern mit Psychotherapeuten. Die vermieten auf Zeit eine Beziehung, etwas, was man sonst nur in intimen Momenten hat. Sie richten in ihrem Herzen einen riesigen Parkplatz für ihre Klienten ein. Ähnlich ist es bei mir. Ich bin jedes Mal komplett da. Mit meiner Arbeit öffne ich Menschen Türen zu ihrer Sexualität. Und im Idealfall nehmen sie das mit in ihr Leben.

Sie meinen: in ihre Partnerschaft?

Nicht unbedingt. Sexualität hat eine eigene Existenzberechtigung, erst mal unabhängig von der Partnerschaft. Kunden sagen oft zu mir: „Mit der Partnerin geht das nicht ...“ Meine Antwort ist: Dann geht es eben nicht, das spricht nicht gegen die Beziehung. Ich glaube, ein wichtiger Grund für die Ablehnung von Prostitution ist, dass wir an einem bürgerlichen Verständnis von Partnerschaft rütteln, am Zusammenhang von Liebe und Sexualität.

Ist es falsch, da einen Zusammenhang zu sehen?

Ich finde es legitim und schön, wenn Paare Sex nur in der Partnerschaft leben. Ich glaube aber nicht, dass sich guter Sex in und außerhalb der Beziehung ausschließen. Im Gegenteil: Wenn beide Partner ihren sexuellen Raum haben, kann das die gemeinsame Sexualität sehr bereichern.

Denken Sie manchmal darüber nach, wie lange Sie diese Arbeit machen werden?

Ich glaube, ich kann das ewig machen. Es sollte niemand denken, dass Prostituierte jung und schön sein müssen. Viele Frauen entdecken den Beruf erst spät im Leben, durch Zufall, vielleicht weil sie merken, dass sie Geld nehmen können für etwas, was ihnen eh Spaß macht. Die gehen dann total auf in der Sexarbeit. Gerade diese älteren Frauen sind oft sehr frequentiert – weil sie es so beherzt tun.

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