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Kollegen der getöteten Polizisten Klaus Eichhöfer und Thorsten Schwalm errichteten am Tatort Kreuze.

© Roland Witschel/dpa

Protest in Frankfurt vor 30 Jahren: Die Toten von der Startbahn West

Am 2. November 1987 prallen in einem Wald bei Frankfurt Polizisten und Autonome aufeinander. Dann fallen zwei Schüsse, das Land ist geschockt. Schwierige Ermittlungen beginnen.

Auf der matschigen Wiese sah es aus, als herrschte Krieg. Molotowcocktails explodierten, Leuchtmunition jagte durch die Nacht, brennende Heuballen, Matratzen und Holzbalken türmten sich zu Barrikaden, Stahlkugeln, aus Zwillen abgeschossen, zischten übers Gras, Gaspistolen knallten.

Ein breiter Bach durchzog die Wiese. Der Bach teilte die Gegner.

Auf der einen Seite, Wald und Gebüsch im Rücken, standen 70 Autonome, in schweren Stiefeln, engen Hosen, dicken Lederjacken, mit Sturmhauben überm Gesicht und Helmen auf dem Kopf.

Auf der anderen Seite zwei Hundertschaften Polizisten, auch sie mit Helmen und Stiefeln, die Körper von Schutzschilden bedeckt. Später sollte einer sagen: „Wir haben nur noch überlegt, wie wir da lebendig wieder rauskommen.“

Die friedlichen Bürger demonstrieren weit entfernt

300 Meter weiter lag die Südspitze der Startbahn West des Frankfurter Rhein-Main-Flughafens, geschützt durch hohe Mauern und Zäune. Eine Betonpiste, die zum Hassobjekt mutiert war, nicht bloß für Autonome. Der Kampf gegen die Startbahn West hatte seit Jahren Tausende friedliche Demonstranten und ein paar Dutzend Gewalttäter zusammengeführt. Die friedlichen Bürger hatten an diesem Tag ebenfalls demonstriert, weit entfernt von den Autonomen.

Es war der 2. November 1987, es war der Tag, an dem die Bundesrepublik Deutschland eine Premiere erlebte: Das Land musste eine bislang unbekannte Form von Gewalt verarbeiten. Für die linke „taz“ war es „eine schlimme historische Wende“.

Denn an diesem Abend vor 30 Jahren kippte inmitten des Lärms der Explosionen plötzlich der Hauptkommissar Klaus Eichhöfer ins Gras. Ein Kollege neben ihm dachte: „Na ja, der wird von ’ner Stahlkugel am Solarplexus getroffen worden sein.“ Doch Eichhöfer, der 44-jährige Hundertschaftführer, war weder von einer Stahlkugel noch in den Solarplexus getroffen worden. Ein Neun-Millimeter-Geschoss aus einer SIG-Sauer-Pistole hatte sich in seinen Unterbauch gebohrt. Er starb kurz darauf an inneren Blutungen. Es war 21.30 Uhr.

Sekunden später sank auch Polizeimeister Thorsten Schwalm nieder. Ihn hatte ebenfalls eine Neun-Millimeter-Kugel in den Bauch getroffen. In der Frankfurter Universitätsklinik versuchten Chirurgen vergeblich, sein Leben zu retten.

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Zum ersten Mal seit Bestehen des Landes hatte es aus einer Demonstration heraus einen tödlichen Angriff auf Polizisten gegeben. Die Schüsse von Frankfurt versetzten die ganze Republik in einen Schockzustand. Bei Schweigemärschen trugen Kollegen der Getöteten Transparente mit der Aufschrift: „Demorecht im Hessenland – Polizistenmord von Mörderhand“. Achim Bender von der Bürgerinitiative gegen die Flughafen-Erweiterung sagte: „Die politische Kultur ist zerfallen.“ Joschka Fischer, damals Fraktionsvorsitzender der oppositionellen Grünen im hessischen Landtag, erklärte fassungslos: „In dieser Nacht ist ein Tabu verletzt worden.“ Aber nichts verdeutlicht die Dramatik mehr als der Kommentar der „Anarchisten und Autonomen des Libertären Zentrum“ in Frankfurt: „Uns kotzen diese Schüsse an. Diese Form von Gewalt wirft uns um eine halbe Ewigkeit zurück.“

30 Jahre nach den Schüssen sitzt ein älterer, weißhaariger Mann in einem Café in Stuttgart. Klaus Pflieger ist ein nüchterner Typ, ein ehemaliger Bundesanwalt, der RAF-Terroristen angeklagt hatte. Pflieger zeigt selten seine Gefühle. Doch jetzt spricht er anders als sonst, einen Hauch emotionaler. Ein Signal, wie sehr ihn etwas mitgenommen hat. Und die Schüsse von der Startbahn West haben ihn enorm berührt. „Das war eine vollkommen neue Dimension.“

"Die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen"

Pflieger leitete damals die Ermittlungen. Er ahnte, dass sie sehr schwierig werden könnten. Wie sollten sie den oder die Schützen identifizieren? Es war Nacht, die Schüsse fielen aus einer schwarz gekleideten Gruppe. Zeugen? Autonome reden normalerweise nicht mit der Polizei. „Es war“, sagt Pflieger heute, „die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.“

Natürlich hatte er mit Gewalt bei der Demonstration gerechnet. Seit Jahren kam es am Gelände der Startbahn zu Auseinandersetzungen. Der Kampf gegen die Flughafenerweiterung war längst zum Symbol für Widerstand gegen Umweltzerstörung geworden, friedlicher und gewalttätiger Widerstand. 300 Hektar Wald sollten für den Bau der zusätzlichen Betonpiste gerodet werden. Mit mehr als 100 Klagen versuchten Umweltschützer und andere friedliche Startbahn-Gegner das Projekt zu verhindern. Erfolglos.

Im Mai 1980 bauten Demonstranten auf der geplanten Baustelle ein Hüttendorf, in dem sich 70 Personen dauerhaft einrichteten. Viele Bürger unterstützten die Bewohner. Am 2. November 1981 räumte die Polizei das Dorf, es kam zu einer regelrechten Schlacht mit militanten Demonstranten.

Die "Revolutionären Osterhasen" lassen Strommasten einstürzen

1981 räumte eine Spezialeinheit der Polizei ein Hüttendorf der Umweltschützer.
1981 räumte eine Spezialeinheit der Polizei ein Hüttendorf der Umweltschützer.

© Jörg Schmitt/dpa

Der 2. November wurde damit zum symbolischen Datum. Jedes Jahr fand nun an diesem Tag eine Gedenkdemonstration mit vielen friedlichen Teilnehmern statt. Und jedes Jahr gab es auch massive Gewalt. Es spielte keine Rolle, dass schon 1984 die ersten Flugzeuge von der Piste der Startbahn West abgehoben hatten. Am Jahrestag 1987 war alles anders.

Eine Stunde nach den tödlichen Schüssen erfuhr Pflieger in seiner Wohnung von den Vorfällen. Der Bundesanwalt ermittelte bereits seit Sommer 1986 im Raum Frankfurt. Dort hatten Gruppen mit schillernden Namen wie „Kommando Säg’ weg den Scheiß“ oder „Revolutionäre Osterhasen“ Hochspannungsmasten einstürzen lassen. Pflieger hatte wegen der optisch identischen Bekennerschreiben den Verdacht, dass immer dieselben Personen hinter den Aktionen standen.

Pflieger und seine Kollegen hatten auch einen konkreten Fahndungsansatz. Denn ein Anschlag war eklatant schiefgelaufen. Ein Hochspannungsmast fiel auf eine nasse Wiese und leitete Strom weiter. Eine junge Frau erlitt schlimme Verbrennungen. Die „Revolutionären Osterhasen“ setzten die Schwerverletzte vor dem Haus eines Ehepaars ab, klingelten und verschwanden. Die Frau kam ins Krankenhaus, die Kripo hatte eine erste Verdächtige.

Die Polizei hört Menschen aus dem Umfeld der Verletzten ab

Pflieger ließ die Telefone von Menschen aus dem direkten Umfeld der Verletzten abhören. Er glaubte, dass diese zu der Terrorgruppe gehörten. Einer der Abgehörten war der Werbegrafiker Andreas Eichler. Ein 33-Jähriger, den Staatsschützer „unverrückbar zu den militanten Autonomen“ rechneten.

Wenige Stunden nach den Schüssen an der Startbahn West brachte die Kripo Eichler schlagartig nicht nur mit gesprengten Strommasten in Verbindung, sondern auch mit den Vorfällen auf der Wiese. Die Lauscher der Polizei hatten am Telefon gehört, dass Eichler um 17 Uhr an diesem Tag gegenüber einem Freund einen bestimmten Platz erwähnte. Und der lag unmittelbar neben dem Ort, an dem später die Schüsse abgegeben wurden.

Bloß Zufall? Oder war es ein Treffpunkt? War Eichler später selber dort? Pflieger und die anderen Ermittler hatten nichts in der Hand als diesen vagen Hinweis. Immerhin, es war ein Punkt, an dem man ansetzen konnte.

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Die Polizei wusste, dass Eichler regelmäßig bei seiner Verlobten übernachtete. Um 6.30 Uhr am nächsten Tag tauchte Pflieger mit einem Sondereinsatzkommando und Kripobeamten an der Wohnung auf. Die Verlobte antwortete auf die Frage, ob Eichler hier sei: „Wer ist das?“. Sekunden später entdeckten Polizisten den Werbegrafiker auf dem Fensterbrett des Schlafzimmers. Fünf Meter unter ihm war eine Wiese.

Eichler wurde vorläufig festgenommen und zu einem Polizeiauto geführt. In diesem Moment machte ein Beamter eine interessante Entdeckung. „Auf der Dachgaube liegt ein Rucksack“, meldete er seinen Kollegen. „Der lag vorher noch nicht da.“ Es war Eichlers Rucksack, er hatte ihn hektisch dorthin geworfen.

„Der Rucksack“, erklärt Pflieger 30 Jahre später, „war die Stecknadel. Wir hatten sie im Heuhaufen gefunden.“

Sie entdecken eine durchgeladene Pistole

Im Rucksack entdeckten die Polizisten eine durchgeladene Pistole des Modells SIG Sauer Neun Millimeter, wie Polizisten sie verwenden. „Für mich war dieser Fund sensationell“, sagt Pflieger im Café. „Wir hatten doch nur gesagt: Lass uns sehen, vielleicht finden wir etwas. Wir hatten nicht ansatzweise gedacht, dass wir bei ihm auf die Waffe stoßen würden.“

Mit dieser Waffe, das fanden Kriminaltechniker schnell heraus, waren Eichhöfer und Schwalm getötet worden. Autonome hatten sie ein Jahr zuvor bei einer Demonstration in Hanau einem Polizisten abgenommen, den sie in Überzahl umringt hatten.

Aber die Ermittler fanden mehr. In der Wohnung lag Eichlers Kleidung, die er am Vortag getragen hatte, an ihr hafteten Schmauchspuren. Und sie entdeckten den Schlüssel für ein Bankschließfach. Daraus zogen die Kripoleute Bekennerschreiben zu den Strommastattacken.

Der Ex Bundesanwalt erinnert sich an ein "spannendes Verhör"

Foto: pa/dpa
Andreas Eichler wurde wegen zweifachen Totschlags verurteilt.

© pa/dpa

Nicht bloß Eichler saß bei der Polizei. Mehrere Personen waren inzwischen vorläufig festgenommen worden. Vorwurf: Teilnahme an den Strommast-Anschlägen. Diese Personen wurden jetzt überaus nervös. Sie hatten Angst, man könnte sie mit den Todesschüssen in Verbindung bringen. Einige gaben ihre Teilnahme an den Anschlägen zu, sie nannten auch Mittäter. Von den Schüssen an der Startbahn distanzierten sie sich jedoch vehement.

Einer der Festgenommenen, Pflieger nennt ihn nur Baldur O., war am Abend auf der Wiese gewesen, unter den Autonomen. Überraschend sagte er bei der Polizei aus, er habe den Todesschützen gesehen: Frank Hoffmann, einen 24-jährigen Ex-Studenten. Hoffmann habe die Schüsse ihm, Baldur O., gegenüber auch zugegeben. Hoffmann war inzwischen geflohen.

Eichler behauptete, er habe nichts mit den Schüssen zu tun

Eichler dagegen war in Haft, und Pflieger führte mit ihm „ein spannendes Verhör“. Erst sagte Eichler, er habe mit den Schüssen nichts zu tun, ein Unbekannter habe ihm die Pistole wohl heimlich zugesteckt. Dann erklärte Pflieger freundlich: „Wir haben an ihrer Kleidung Schmauchspuren gefunden.“ Eichler zuckte zusammen. „Das war für ihn ein Schlag ins Kontor“, sagt der Ex-Bundesanwalt heute. Eichler saß in der Falle.

Nun lautete seine Version so: Er habe die Pistole vorübergehend aufbewahrt und mit Hoffmann in einem Wald ein Probeschießen absolviert. Wer die Pistole dem Polizisten ein Jahr zuvor gestohlen habe, wisse er nicht. Zeitlich habe das Probeschießen kurz vor den Todesschüssen stattgefunden. Aber mit denen habe er nichts zu tun.

Hoffmann habe ihm die Pistole nach der Demonstration zugesteckt. Hoffmann müsse wohl der Schütze sein. Der Testlauf hatte tatsächlich stattgefunden, das ermittelte die Polizei. Wochen später wurde Hoffmann gefasst. Doch auch er bestritt, der Todesschütze zu sein.

Zwei Verdächtige, und wer war der Schütze?

Pflieger stand nun mit zwei Verdächtigen da, aber wer war der Schütze? Er hatte nur die Aussage von Baldur O., der Hoffmann als Schütze gesehen haben wollte. War dieser Mann zuverlässig? Pflieger und seine Kollegen ließen die Frage offen, wer von den Beiden letztlich die tödlichen Schüsse abgegeben hatte. Sie klagten Eichler und Hoffmann wegen gemeinschaftlich begangenen Mordes an.

Für die Staatsanwälte war es eine absichtliche Tat, keine Frage. „Wer in eine Gruppe von Menschen schießt, wer zwei Menschen in den Bauch trifft, der handelt vorsätzlich. Der will treffen.“ Heimtücke, ein Mordmerkmal, war ihrer Ansicht nach in diesem Fall erfüllt. Polizisten müssten bei Demonstrationen nicht damit rechnen, dass mit einer scharfen Waffe auf sie geschossen wird. Pflieger und seine Kollegen forderten lebenslange Haft für beide Angeklagten.

Doch das Oberlandesgericht Frankfurt am Main erkannte nur auf Totschlag. Mit einer bemerkenswerten Erklärung: „Die Polizisten hatten bei den Startbahn-Demonstrationen gewusst, dass sie auf gewalttätige Demonstranten treffen werden. Deshalb waren sie nicht arglos und damit nicht Opfer von Heimtücke.“ Die Bundesanwaltschaft legte Revision ein, doch der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil.

Die Schüsse waren eine Zäsur

Andreas Eichler wurde wegen zweifachen Totschlags zu 15 Jahren Haft verurteilt, nach zehn Jahren durfte er das Gefängnis verlassen. Hoffmann wurde vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen, weil das Gericht der Zeugenaussage von Baldur O. nicht komplett glaubte. Wegen anderer Taten wurde er zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt.

Für die Proteste gegen die Startbahn West waren die Todesschüsse eine Zäsur. Danach gab es keine organisierte Demonstration mehr, der Schock saß zu tief. Dirk Treber, einer der Sprecher der Bürgerinitiative gegen den Bau der Startbahn West, sagte resigniert: „Die Kugeln trafen auch die Bewegung tödlich.“

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