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Kati Outinen.

© Laif

Sonntag-Interview: „Ich hasse die Dunkelheit des Winters“

Saufen kann Trauern sein, Parks sind keine Natur und EU-Lampen totaler Unsinn: Schauspielerin Kati Outinen erklärt ihr Heimatland.

Kati Outinen, 53, gehört zu den wichtigsten finnischen Schauspielerinnen. Außerhalb ihrer Heimat ist sie vor allem durch die Filme von Regisseur Aki Kaurismäki bekannt. Für ihre Rolle in „Der Mann ohne Vergangenheit“ wurde sie 2002 in Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnet

Frau Outinen, Sie sind das Gesicht der Kaurismäki-Filme, in der Hälfte haben Sie mitgespielt – und sich damit bei manchen Ihrer Landsleute nicht beliebt gemacht.

Vor vielen Jahren hat mich mal die Tourismusbehörde kontaktiert. Sie wollten, dass ich aufhöre, in Akis Filmen aufzutreten. Weil sie die so furchtbar fanden. Die dachten: Wenn Ausländer das sehen, denken sie, dass wir arm sind und die ganze Zeit schweigen. Dieses Land ist doch nicht so: Wir haben Orangen! Wir haben Läden! Wir haben moderne Autos! Heutzutage wird Akis Arbeit auch in Finnland akzeptiert und geliebt.

In seinen Filmen geht es um kleine Leute, die ein karges bis trauriges Leben führen. Wie passt das zu Ihrem Vorzeige-Land: Wohlstand, praktisch keine Korruption, Haushaltsdiziplin, Leseweltmeister, vorbildliche Schulen und Universitäten...?

Es ist das andere Finnland. Nicht die Gegend um Helsinki und Espoo, die für all diese guten Resultate verantwortlich ist, sondern der Rest. In diesem Land existieren zwei vollkommen unterschiedliche Arten, zu leben, nebeneinander. Das finde ich großartig. Ich wohne in einer kleinen Stadt 70 Kilometer entfernt von Helsinki. Die Straßen da sind in schlechtem Zustand, ich habe keinen Fernsehempfang, und das Telefon funktioniert nur ab und zu. Den Statistiken misstraue ich sowieso. Zum Beispiel haben wir ja dieses angeblich so großartige Bildungssystem, aber unsere Schüler hassen es, zur Schule zu gehen.

Sie haben eine Supermarktkassiererin gespielt, eine Fabrikarbeiterin, eine arbeitslose Kellnerin. In jeder dieser Rollen, meinten Sie mal, stecke ein wenig von Ihrer Großmutter.

Die finnische Gesellschaft wurde nach dem Krieg von Frauen aufgebaut. Die Männer in meiner Kindheit, das waren Kriegsheimkehrer, die litten unter Traumata, waren psychisch zerstört. Die lagen den ganzen Tag auf dem Sofa, rauchten Zigaretten und tranken Schnaps. Manchmal sagten sie auch was, das schien nicht von dieser Welt zu sein, sie waren eben betrunken. Um diese Alkoholiker kümmerten sich die Frauen, und um ihre Kinder, und gearbeitet haben sie auch noch. Das ist etwas sehr Finnisches, glaube ich: Sisu.

Das bedeutet, stark, beharrlich und unnachgiebig zu sein, selbst in aussichtslosen Situationen.

Dieses Sisu in meinen Rollen, das kommt von meiner Großmutter. Sie hat drei Jungs und ein Mädchen großgezogen. Der Jüngste wog fünf Kilo, als er zur Welt kam. Am Tag nach seiner Geburt war meine Großmutter schon wieder bei der Arbeit. Frauen wie sie waren keine Opfer, emotional tot und erschöpft. Sondern voller Leben. Die haben die ganze Zeit Witze gerissen.

Der Züricher „Tagesanzeiger“ schrieb mal, auf Ihrem Gesicht lasse sich Kaurismäkis ganze Kunst ablesen: „die Abwesenheit von Geschwätz und die Intensität der Zurückhaltung“.

Mich haben schon viele Regisseure gebeten, wie in den Kaurismäki-Filmen zu spielen. Aber das will ich nicht. Sie müssen doch ihren eigenen Stil entwickeln. Es ist ja auch nicht so, dass das die einzige Art wäre, wie ich spielen kann. Ich habe allerdings das Gefühl, dass Produzenten, Regisseure und Schauspieler das Publikum unterschätzen. Es muss nicht immer alles gesagt werden, die Leute verstehen auch so.

In „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“, wo Sie die Haupfigur spielen, sagen Sie Ihren ersten Satz nach – ich habe die Zeit gestoppt – 23 Minuten.

Wir alle sind in der Lage, Gesichter zu lesen. Das ist etwas zutiefst Menschliches. Es führt einen zum Herzen statt zur Dekoration. Jemanden zu sehen, der etwas sagt und erkennbar das Gegenteil denkt oder fühlt, ist doch sehr interessant.

Einer Ihrer Lehrer war der Theaterregisseur Jouko Turkka. Der, habe ich gelesen, trieb seine Schüler zu exzessiven Entäußerungen. Das muss ein Albtraum für Sie gewesen sein.

Überhaupt nicht, ich habe es geliebt. Ursprünglich wollte ich Tänzerin werden, ich bewege mich gern. Ich denke, Akis Filme sind genauso physisch wie Joukos Stil. Schauspielerei beginnt in den Zehenspitzen. Expressive Gesten können sogar einfacher sein. Anstrengend ist, wenn Sie einen Impuls im Körper haben und ihn unterdrücken. Stellen Sie sich vor, Sie sind unerhört traurig, dürfen es aber nicht zeigen, weil Sie sich am falschen Ort befinden. Danach sind Sie erschöpft.

Wie Kaurismäki die Schauspielerin gewann

Ihre Zusammenarbeit mit Kaurismäki begann 1986. Um Sie für „Schatten im Paradies“ zu gewinnen, verkündete er einfach in der Presse, Sie würden die Hauptrolle spielen. Und das hat Sie überzeugt?

Ich fand es originell. Wir kannten uns schon von einem Dreh mit seinem Bruder Mika, wo er so eine Art Mädchen für alles war, sich um Licht und Ton gekümmert hat. Aki unterschied sich von anderen finnischen Filmemachern dieser Zeit. Alles, was es hier damals gab, waren Kriegsfilme und Geschichten, die auf dem Land spielten. Er war modern, urbaner. Bei ihm ging es mal nicht darum, Russen zu töten, oder darum, dass es keine Zukunft in der finnischen Landwirtschaft gibt.

Wie wurden Sie seine Lieblingsschauspielerin?

Wir verstehen uns. Aki gibt kaum Anweisungen. Bei den Proben lassen wir die Emotionen außen vor, die kommen erst, wenn die Kamera läuft. Ihm ist es wichtig, dass das Licht stimmt, dass man weiß, wo man zu stehen hat. Das ist nicht so technisch, wie es sich anhört. Durch diesen Rhythmus einer Szene verstehe ich, was Aki denkt. Ich kann ihn lesen. Dabei sind wir ziemlich unterschiedlich: Er stammt vom Land, ich aus der Stadt. Ich habe studiert, er hat sich alles selbst beigebracht. Ich bin Feministin, er mag typisch männliche Sachen wie Autos, repariert gern Maschinen.

Er ist ein Macho?

Nein, nein. Er ist sehr sensibel, fast wie eine Frau. Was uns verbindet, sind die Dinge, die wir wichtig finden im Leben: sich um seine Freunde und Verwandten zu kümmern, aufrichtig zu sein, jedes menschliche Wesen wertzuschätzen.

Kaurismäki ist als heftiger Trinker bekannt. Bei den Dreharbeiten zu „Wolken ziehen vorüber“ 1996 soll das Filmteam sogar befürchtet haben, er könne sterben. Haben Sie Angst um ihn?

„Wolken ziehen vorüber“ war speziell. Sein bester Freund Matti Pellonpää sollte die Hauptrolle spielen, doch dann starb er. Aki entschied, den Film zu machen, in Gedenken an Matti. Dass er über die Stränge schlug, war seine Art zu trauern. Natürlich sorge ich mich um ihn. Ich möchte, dass er gesund, produktiv und glücklich ist. Gleichzeitig will ich nicht, dass er sich verändert. In westlichen Ländern ist heute alles kontrolliert. Aber das Leben ist unberechenbar: Sie können Krebs bekommen, obwohl Sie nicht rauchen, und Sie können sterben, obwohl Sie nicht trinken. Ich will in einer Gesellschaft leben, in der es auch dicke, eklige, langsame Menschen gibt. Wenn Aki trinkt, gehe ich einfach weg vom Set. Ich habe das nicht oft erlebt. Meist macht er das auf Festivals. Und das hasse ich. Weil er dann nicht der sensible, humorvolle, weise Typ ist als den ich ihn kenne.

Ihre beste Zeile aus einem Kaurismäki-Film?

In „Der Mann ohne Vergangenheit“ sage ich als Frau von der Heilsarmee: „Das Leben ist Gnade“ – das ist die ganze Philosophie dieser Figur. Ein Zitat aus einem Western der 1950er.

Kaurismäki ist schon vor 25 Jahren nach Portugal gezogen. Haben Sie auch manchmal Lust, Ihr Land Richtung Süden zu verlassen?

Nein. Ich bin Finnland sehr verbunden. Es ist eine Hass-Liebe. Es ärgert mich, dass Filme hier nicht als Kunst angesehen werden, sondern nur als Geschäft. Finnische Journalisten haben überhaupt keine Ahnung von dem Thema. Alles was zählt, ist, wie viele Zuschauer es gibt und wie viel Geld man damit verdient. Weil ich das anders sehe, glaube ich, einen Auftrag zu haben. Ich hasse den Winter in Finnland – nicht wegen des Wetters, sondern wegen der Dunkelheit. Aber ich liebe Sommer, Herbst und Frühling. Außerdem gibt es ja den Klimawandel. Mittlerweile beginnen unsere Sommer denen in Spanien zu ähneln.

Sie sind in Helsinki geboren und aufgewachsen – „barfuß“, so nennen die Finnen das. Haben Sie einen Lieblingsplatz?

Viele, besonders entlang der Küste. Ich liebe diese Stadt, wirklich. Weil sie so klein und praktisch ist und man überall mit dem Fahrrad hinkommt. Es gibt sehr viele Veranstaltungen und Restaurants und Cafés, vor denen man im Sommer sitzen kann. Als ich ein Kind war, war Helsinki nach sechs Uhr abends tot. In den 1920ern war es schon mal eine aufregende Stadt, wir haben 90 Jahre gebraucht, wieder da hinzukommen. Eigentlich sind meine Lieblingsplätze Friedhöfe und Bibliotheken. In „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders leben die Engel in Bibliotheken, weil es dort so ruhig ist, und weil sie von der Weisheit der gesamten Menschheit umgeben sind. Diese Idee gefällt mir.

Im Kalten Krieg war Ihre Heimat oft Double für Leningrad und Moskau. Haben die Hollywood-Produktionen Ihr Interesse am Film geweckt?

Das war immer ein großes Ereignis, wenn die Amerikaner hierher kamen, das stand in den Zeitungen. Ich erinnere mich an irgendeinen Agentenfilm, bei dem ich auch zugeschaut habe, in der Nähe des Doms. Aber alles was man sah, waren Leute, die für Stunden in der Gegend herumstanden. Ich mochte das Theater anfangs mehr. Als Mädchen sah ich das Krippenspiel an meiner Schule, da habe ich beschlossen: Das will ich machen, wenn ich groß bin. Mein Interesse an Filmen begann mit Chaplins „Moderne Zeiten“.

Über Russen und Lampen

Finnland gehörte lange zu Schweden, dann zu Russland. Der Politologe Samuel Huntington sieht es in seinem Buch „Kampf der Kulturen“ an der Bruchlinie zwischen zwei Zivilisationen. Wo verorten sich die Finnen heute?

Sie sehen sich als Teil Skandinaviens. Die Jungen sind sehr international, sie arbeiten in Asien, Europa, den USA, wo auch immer. Aber meine Generation und die, die älter sind als ich, wir sorgen uns. Werden wir in Zukunft überhaupt noch mit unserer Sprache arbeiten können, oder müssen wir alle Englisch reden? Russisch womöglich? Die Alten haben wirklich Angst, dass die Russen wiederkommen. Ich denke, Finnland steckt in einer Übergangsphase: Das Alte ist vorbei, und wir wissen nicht, was nun passieren wird. Ich habe das Gefühl, dass gerade ein neuer Patriotimus erwacht, als Reaktion darauf, dass die Welt so bedrohlich erscheint. Es gibt auch viel Widerstand gegen die EU. Die beschließen tatsächlich lauter Sachen, die unsinnig sind für Finnland.

Zum Beispiel?

Sie kennen diese Geschichte mit den Energiesparlampen, die die alten Glühbirnen ersetzt haben, weil die zu viel Wärme abgeben? Nun, hier ist es so: Im Sommer brauchen wir kein zusätzliches Licht, weil es lange hell ist. Und im Winter können wir die Wärme von den Glühbirnen ganz gut gebrauchen. Dafür haben wir jetzt diese neuen Lampen, die voller giftiger Stoffe sind. Lächerlich.

Welchem unter den nordischen Ländern fühlen sich die Finnen am nächsten?

Island. Wir liegen beide am Rand, in beiden Ländern ist das Klima dramatisch, und wir haben die gleiche Art, Spaß zu haben und uns um unsere Familien zu kümmern. Vor einem Jahr war ich das erste Mal dort. Nie zuvor habe ich mich im Ausland so daheim gefühlt. Ich habe ein Kochbuch mitgebracht, und jetzt mache ich all diese köstlichen isländischen Fisch- und Lammgerichte. Etwas von der Esskultur mitzunehmen ist das beste Souvenir, viel besser als ein kleines Modell von einem berühmtem Gebäude oder so.

Was die Sprache angeht, haben die Finnen eher etwas mit den Esten gemein. Gibt es auch zu denen eine starke Verbindung?

Ich verstehe kein Wort Estnisch. Unsere Sprachen sind zwar verwandt, aber komplett unterschiedlich. Dass die Esten oft Finnisch sprechen, hat mit der russischen Besatzung zu tun. Im Kommunismus gab es nur Propaganda, deshalb haben viele heimlich finnisches Radio gehört und unser Fernsehen geschaut. In Estland diskutieren die Leute über Kultur, Politik, Literatur. Ihre zivilisierte Geschichte ist länger als unsere, das spüre ich, wenn ich dort bin.

Das Blau in Ihrer Flagge steht für die knapp 188 000 finnischen Seen, das Weiß für den Schnee – was von beidem ist Ihnen lieber?

Die Seen. Ich liebe es zu schwimmen, dieses Gefühl, dass die Schwerkraft aufgehoben ist. Die finnische Natur, die Wälder – das möchte ich nicht missen. Ich muss immer lachen, wenn jemand einen Park für Natur hält! Wir haben so was hier an jeder Ecke, selbst in der Mitte von Helsinki gibt es einen großen Wald. Erst gestern war ich sechs Stunden lang Pilze sammeln.

Welches Klischee über Finnland ärgert Sie?

Bescheiden. Aufrichtig. So sind wir nicht mehr.

Wow, das war eine schnelle Antwort.

Vielleicht liegt es daran, dass ich arbeitslos bin. Eigentlich sollte ich dieses Jahr an zwei Filmproduktionen mitwirken, aber die wurden verschoben oder gestrichen. Im April stellte sich plötzlich heraus, dass ich nichts zu tun habe. In meinem Alter ist es nicht mehr so leicht, Rollen zu bekommen. Jetzt haben sie mich in Kurse gesteckt, in denen ich etwas lernen soll, was nützlich für die Gesellschaft ist. Bezahlt vom Staat. Ich habe versucht, mich zu widersetzen, aber ich muss das wohl machen. Im letzten Kurs wurde uns beigebracht, wie man sich selbst zur Marke macht, wie man sich am besten verkauft. Das sagt doch alles.

Sie sind Nostalgikerin.

Ich bin altmodisch. Heute wollen sie keine Kunst mehr, sondern das, was sie kreative Innovationen nennen. Also Geld machen. Ich glaube, dass es in unserer Gesellschaft viel mehr um Werte gehen sollte. Wir müssen uns das Beste am skandinavischen Modell zurückholen.

Was machen Sie jetzt mit dem Rest des Jahres?

Ich arbeite an einem Theaterstück über Demenz. Im November ist Premiere. Ich habe dafür viele Interviews in Heimen geführt. Ist es das Gedächtnis, das einen Menschen zu dem macht, was er ist? Diese Frage finde ich faszinierend. Meine Großmutter war dement, mein Vater auch, und einer meiner besten Freunde hat die Krankheit jetzt. Bei allen war es, jedenfalls bis zu einem bestimmten Punkt, gar kein großes Problem. In Finnland wird das alles nur negativ gesehen, weil diese Leute eben nicht mehr produktiv sind, sondern alt und langsam. Dabei könnte man in den Heimen Arbeit schaffen, vor allem Kultur kann das Leben von Dementen stark verbessern. Ich betrachte die Menschen nicht als Last, sondern als Ressource.

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