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Silvia Bovenschen

© Doris Spiekermann-Klaas

Sonntagsinterview: „Ich habe keinen einzigen ruhigen Tod erlebt“

Als junge Frau fragte sie sich: Warum reden die Alten dauernd über ihre Zipperlein? Silvia Bovenschen über Sterbehilfe, Rentner-WGs und die Erotik der Macht.

Von Barbara Nolte

Frau Bovenschen, ich würde gerne mit Ihnen über das Alter reden. Ihr aktuelles Buch handelt von einer Clique alter Frauen.

In meinem vorletzten Roman war der Protagonist Mitte 40. Da fragte niemand: „Wie finden Sie die 40-Jährigen?“ Nur die Alten werden gerne über einen Kamm geschoren.

Es geht nicht darum, alte Menschen zu generalisieren. Doch zumindest in den Altenheimen werden deren Lebensumstände standardisiert.

Um dem Alter einigermaßen würdig zu begegnen, müsste man lose Solidargemeinschaften bilden: Einer kann noch die Suppe kochen und der andere den Arzt rufen …

In Ihrem Roman leben die Frauen zusammen in einer mondänen Villa. Eine ideale Situation. Dennoch sind sie nicht glücklich.

Die Frauen haben ein langes Leben hinter sich und natürlich diese oder jene Schrulle ausgebildet. Sie wissen, da wird voraussichtlich nicht mehr so sehr viel kommen. Da werden sie nicht nur säuseln im Umgang miteinander.

Sie lassen eine Ihrer Figuren sagen: „Die Wahrscheinlichkeit, dass du bald tot sein wirst, nimmt jede Wucht aus dem, was du zu sagen hast.“

Solange ich Lehrer bin oder Schuster, unterrichte ich oder repariere Schuhe. Aber in dem Moment, in dem ich untätig auf der Parkbank sitze, habe ich, unabhängig von meiner beruflichen Vergangenheit, eine mindere gesellschaftliche Geltung.

Kaum jemand ist als Ratgeber so gefragt wie der Ex-Kanzler Helmut Schmidt. Als wäre das Prinzip des Dorfältesten wiedereingeführt.

Bei Schmidt wird meiner Ansicht nach nicht das Alter wertgeschätzt, sondern man hofiert einen Politikertypus, den man vermisst. Politiker, die etwas gewollt haben. Ich finde, dass viele unsere Politiker unpolitisch sind. Sie wollen bloß Macht und die nächsten vier Jahre überstehen.

Dennoch scheint sich der Jugendkult ein wenig abzuschwächen. Vielleicht, weil es immer mehr Alte gibt. In der Demokratie bestimmt die schiere Gruppengröße den kulturellen Mainstream.

Kann ich so nicht erkennen. Ich glaube, dass die Menschen das Alter verdrängen, obwohl es alle existenziell betrifft. Wenn sie sich klarmachen würden, dass sie an ihrem Lebensende höchstwahrscheinlich in eine sehr leidvolle Situation kommen, würden sie sich vielleicht ein bisschen für Gesundheitspolitik interessieren. Doch alt werden nur die anderen. Krank werden auch nur die anderen. Der Mensch weiß, dass er sterben muss, und er weiß es doch nicht.

Sie schreiben: „Ein Greis, der seinen nahen Tod als einen Skandal erlebt, macht sich lächerlich.“

Wenn man jung ist, will man Zukunft: eine gute, offene Zukunft. Wenn man alt ist, ist oben schon der Deckel halb drauf. Die Jungen wollen das nicht sehen. Es gibt eine Brutalität, auch ich fragte mich früher in jugendlicher Borniertheit: Warum sprechen diese komischen Alten fortwährend über ihre Zipperlein? Ja, warum nur? Weil sie sie haben!

Im Rathaus Schöneberg gab es kürzlich eine Ausstellung über Hundertjährige. Selbst diejenigen, die gesund waren, wirkten nicht froh. Sie hatten das Gefühl, aus der Zeit gerutscht zu sein. Eine Greisin sagte: „Ich habe hier nichts mehr zu tun.“

Im Alter gibt man immer mehr ab. Mein Drang, auf Partys zu gehen, ist erloschen. Doch als ich nicht mehr Auto fahren konnte, tat das weh, ich war immer ein mobiles Mädchen. Das Leben wird enger.

Würden Sie gerne wieder jung sein?

Nein. Junge Frauen stehen heute unter massivem Druck, ihren Selbstentwurf auf der Höhe der aktuellen Vorgaben zu halten. Alt will ich aber auch nicht sein. Ein Dilemma, nicht ohne Komik.

In den 60ern, als Sie jung waren, gab es ebenfalls Bilder, wie Frauen zu sein hatten.

Das ist aber mit der Wucht der heutigen Bildvorgaben nicht zu vergleichen.

Entbindet eine schwere Krankheit – in Ihrem Fall Multiple Sklerose – vom Perfektionsanspruch?

Das Leben wird durch so eine Krankheit gesteuert. Stress wurde mir verboten, also begrub ich meine damaligen Wunschberufe, zum Beispiel Regisseurin, noch am selben Tag.

Sie erhielten die Diagnose im Alter von 24 Jahren.

Man wollte es mir erst nicht sagen. Doch im Nachbarbett lag eine Frau, die ähnliche, allerdings schwerere Symptome hatte als ich. Ich habe die Stationsärztin darauf angesprochen, und die gab zu, ja, ich hätte ebenfalls MS.

Heute sagt man Kranken immer die Wahrheit, selbst wenn einer sterben muss.

Ich weiß nicht, ob das in jedem Fall richtig ist. Ein anderes Mal lag neben mir im Krankenhaus eine Frau, der man es besser nicht gesagt hätte. Die konnte fortan an nichts anderes mehr denken, obwohl es ihr so schlecht gar nicht ging.

Als Argument für die Ehrlichkeit wird angeführt, es sei wichtig, dass man sich noch verabschieden könne. Abschiednehmen im Angesicht des Todes klingt kein bisschen tröstlich.

Wahrscheinlich liegt der Trost eines Abschiedstreffens mehr bei denen, die überleben dürfen. Es mag anders sein bei Sterbenden, die sich in ihrem Leid den Tod herbeiwünschen. Wenn man sich verabschiedet, bedeutet das auch, dass da eine Hoffnung mitschwingt, sich auf irgendeine Art wiederzusehen. Ganz ähnlich übrigens, wenn Menschen ihre Beerdigung planen. Bei seiner Beerdigung ist man hundertprozentig nicht mehr dabei, aber man stellt sich vor, dass man da doch noch irgendwo ist. Wissen Sie, der Mensch hat unheimlich viel Angst, und er hat Grund zu dieser Angst. Er braucht den Trost.

Haben Sie sich schon mal von einem Todgeweihten verabschiedet?

Nicht im Sinne eines formulierten Abschieds. Aber ich war froh, Freunde, die im Sterben lagen, noch mal gesehen zu haben. Und ich war sehr unfroh, als ich einen Freund im Krankenhaus besuchen wollte und eine halbe Stunde zu spät kam.

Es ist verständlich, dass man nahestehenden Menschen beim Sterben beistehen möchte. Schon um sich zu vergewissern, dass es ein ruhiger Tod war.

Ich habe keinen einzigen ruhigen Tod erlebt. Als meine Mutter starb, als sie aufhörte zu atmen, endlich, habe ich gelacht. Weil ich glücklich war, dass ihre langwährende Qual endlich vorbei war. Im nächsten Moment schon kam der Egoismus zurück: Sie ist mir genommen. Letztlich war die zweite Reaktion, die jeder für angemessen hält, mein Weinen, viel egoistischer.

Heute sind die Schmerztherapien besser als in den 80ern, als Ihre Mutter starb.

Da mache ich mir keine Illusionen. Ich habe auch später Menschen furchtbar leiden sehen. Was mich verbittert, ist die Verunmöglichung der aktiven Sterbehilfe. Warum missgönnt man den Leidenden, wenn nichts mehr zu gewinnen ist an Lebensqualität, das erlösende Einschlafen? Ich sehe nicht ein, dass, nur weil die Nazis aus dem Gnadentod einen Serienmord machten, mir weiteres Leiden aufgebürdet wird.

Es ist schwierig, sicherzustellen, dass Missbrauch verhindert wird.

Alles kann missbraucht werden. Viele berufen sich auf einen Gott, der Sterbehilfe verbietet. Doch die, die so reden, sind meist kerngesund: gar nicht betroffen. Und sie wollen über meinen Tod bestimmen – mit welchem Recht denn? Ich glaube nicht an ihren Gott. Wir haben einen unterschiedlichen Begriff von Würde: Für Christen liegt die Würde in der Gottebenbildlichkeit des Menschen, für mich in der Selbstbestimmung. Das Thema geht mir sehr nahe. Ich mag nicht so beiläufig darüber sprechen. Darf ich das Thema wechseln?

Natürlich.

Auf ein ähnliches Denkmuster stößt man in einer ganz anderen Debatte: über die Prostitution. Nehmen wir an, es gibt Prostituierte, die sich nicht entwürdigt fühlen. Ich kann mir das nur schwer vorstellen, aber einige der Frauen behaupten das ja. Mit welchen Recht darf ich ihnen sagen: Du darfst das nicht machen, da wird deine Würde verletzt?

Sie teilen nicht Alice Schwarzers Position, Prostitution zu verbieten.

Nein. Was kriminalisiert wird, wird unzugänglich. Im Übrigen ist mir eine ehrliche Hure lieber als eine junge, schöne, talentierte Frau, die sich ohne Not und Zuneigung an einen reichen, mächtigen Alten hängt.

Man kann den Frauen nicht absprechen, dass sie die alten Männer lieben.

Sie sprechen von der Erotik der Macht. Mag es geben. Ich bin der nie verfallen.

Vergangenes Jahr machte Rainer Brüderle der Journalistin Laura Himmelreich ein anzügliches Kompliment, die schrieb im „Stern“ darüber. Halten Sie die nachfolgende Debatte für angemessen?

Ich kann verstehen, dass sich Frauen ärgern, gerade weil diese Geschmacklosigkeit im Gewand der Harmlosigkeit daherkommt. So ein netter alter Mann! Stellen Sie sich vor, eine Frau sagte: „Ihnen würde eine knallenge Lederhose gut stehen, Herr Brüderle!“ Und dabei schaut sie auf eine bestimmte Körperregion. Das ist schlechtes Benehmen.

Sie begreifen sich noch als Feministin?

Selbstverständlich.

Sie haben an der Frankfurter Uni den Weiberrat mitgegründet, eine der ersten feministischen Gruppen, weil die Männer, wie Sie einmal sagten, während der Studentenproteste die Reden hielten und die Frauen die Flugblätter tippten.

Die Männer redeten ununterbrochen. Als wir Frauen uns alleine treffen wollten, wurden unsere Versammlungen gestürmt …

Mit welchem Argument?

Erst müsse der Hauptwiderspruch beseitigt werden, der zwischen Arbeit und Kapital. Danach könnten wir noch mal anfragen. Nach einiger Zeit zog ich mich dann aus dem Weiberrat zurück: Die Frauen erzählten sich nur ihre Erniedrigungen und wollten sich ihren Opferstatus bestätigen.

Was halten Sie von aktuellen Frauengruppen? Wie zum Beispiel Femen, die oben ohne protestieren?

Da habe ich nichts dagegen. Ich sehe zwar überall nackte Busen, aber vielleicht erschreckt es ja noch irgendwen. Es gefällt mir, wenn man mit den Zuschreibungen des Weiblichen spielt. Früher war ja mit dem Feminismus ein Attraktivitätsverbot verbunden. Ich konnte mit den Vorschriften der planmäßigen Verhässlichung nichts anfangen.

Feministischen Oben-ohne-Protest gab es bereits 1969 in Frankfurt: Studentinnen haben den Philosophen Theodor W. Adorno umringt.

Diese Geschichte wird immer falsch kolportiert. Adorno sollte bestraft werden, weil er die Polizei rief, die dann das besetzte Institut geräumt hat. Irgendwelche SDS-Häuptlinge haben ihre Groupies vorgeschickt, die den alten Herrn in dieser Weise schockieren sollten. Bei meiner Ehre, das waren nicht die Studentinnen des Weiberrats. Das war kein feministischer Protest.

Im Kern geht es im Feminismus um Machtverhältnisse.

Mein Verhältnis zur Macht ist verkümmert. Warum soll ich die Mächtigste in einem Edeka-Laden oder einem Uni-Institut sein wollen? Dann werde ich doch gleich Päpstin. Sobald ein Teil der Bevölkerung behindert wird, Schlüsselpositionen einzunehmen, geht es um Macht und Gerechtigkeit.

Sie waren Jurorin beim Bachmann-Preis für Literatur. Da hat man Macht über Karrieren.

Ich agierte dort die ersten beiden Jahre wie eine russische Eiskunstlauftrainerin. Man bringt ja Autoren mit in den Wettbewerb. Mir war es beinahe egal, wie gut die anderen waren, ich wollte, dass meine Kandidaten die Preise abräumen. Nicht aus Machtinteresse. Es war so eine Art Schutzwahn.

David Wagner verarbeitete eine Lebertransplantation in einem Roman und gewann damit im vergangenen Jahr den Leipziger Buchpreis. Der Sieger des Vorjahres, Wolfgang Herrndorf, war zuvor mit einem Blog über seine Krebserkrankung bekannt geworden. Warum schreiben Sie nicht über Ihre Krankheit?

Wenn Hitler und Stalin schuld an meinen Krankheiten wären, hätte ich über nichts anderes mehr geschrieben. Wenn ich fromm wäre, würde ich mich an der Frage abarbeiten, warum Gott mich so prüft. Aber eine schwere Krankheit zu haben, das war aus meiner Sicht einfach ein Unglück. Was sollte ich mehr dazu sagen?

Lernt man, wenn man so oft krank war wie Sie, besser mit existenzieller Angst umzugehen?

Im Gegenteil. Früher habe ich meine Krankheiten genommen wie ein Krieger: Du musst sehen, dass du da durchkommst. Ich bin dünnhäutiger geworden. Es gibt da einen blöden Mechanismus. Wenn es mir gut ging, wenn ich beispielsweise auf einer Klippe saß und auf das glitzernde Mittelmeer und den Vesuv schaute, dachte ich: Wenn es jetzt zu Ende wäre, wäre es auch nicht so schlimm. Aber wenn man dann auf einer Intensivstation liegt, will man plötzlich leben. Vorausgesetzt, es gibt Aussicht auf mehr als bloßes Siechtum.

Sie schreiben: „Die Alten, die Todgeweihten wollen ihre Anklagen in die Welt hinausschreien.“ Was meinen Sie damit?

Sie haben ein Recht auf ihre Klagen, und sie haben nichts mehr zu verlieren. Ich habe diesen Aufschrei vor allem bei Männern erlebt. Frauen gehen dem Tod meist leiser entgegen.

Für Gläubige scheint das Sterben nicht ganz so schrecklich.

Aber man kann sich Glauben nicht befehlen.

Sind Sie gläubig erzogen?

Nein. Der vorletzte Satz meiner Mutter lautete: „Halt mir die Pfaffen vom Leibe.“ Meine Mutter war ja rausgeschmissen worden aus der katholischen Kirche, weil sie ihre Kinder nicht katholisch getauft hatte. Die hatte die Nase voll von denen.

Der letzte Satz Ihrer Mutter war angeblich: „Du musst mehr Obst essen.“

Ja, sie war in ständiger Sorge. Ich war schon als Kind ständig krank.

Angeblich wird jedes zweite Kind, das heute geboren wird, 100. Doch sind die Gehirne dafür nicht gemacht. Es wird ein Volk der Dementen.

Kein Problem: Dann setzt man eben einen Chip ins Gehirn. In Amerika beschäftigen sie sich schon Tag und Nacht mit der Optimierung der Gehirne. Vermutlich wird es eine Geldfrage sein, ob man einen Chip bekommt oder nicht.

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