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Sotschi.

© AFP

Sotschi: Wer hat an der Kur gedreht?

Meer und Berge, subtropische Vegetation, Ruhe und gute Luft: Seit Stalins Zeiten erholte man sich in Sotschi – Olympia macht nun aus der Stadt einen Touristenrummel.

Ein konstantes Rauschen soll beruhigend, ja heilsam wirken. Und das Rauschen im Park des Sanatoriums „Goldene Ähre“ von Sotschi hört dieser Tage nie auf. Allerdings stammt es nicht von der Brandung des nahen Schwarzen Meeres, die Kurgäste werden auch nicht vom Rascheln des Windes in den Palmblättern in den Schlaf gewiegt. Manchmal, wenn sich die Autos, Lastwagen und Baumaschinen auf dem Kurortny Prospekt – der „Kurort-Straße“ – stauen, schwillt das Rauschen sogar zu einem Tosen an.

Das sind die Augenblicke, in denen Hamlet Watjan über eine Schallschutzwand nachdenkt, um das neue Sotschi von seinem Sanatorium fernzuhalten.

Watjan war als Zwölfjähriger erstmals in Sotschi, um mit seinen Eltern Urlaub zu machen. In seiner Erinnerung glänzte die Stadt damals vor Sauberkeit, die Polizisten waren freundlich, in den Läden gab es alles, was in seiner Heimatstadt Jerewan nicht zu bekommen war. Heute ist der Direktor der „Goldenen Ähre“ 65 Jahre alt, seine Haare sind so grau wie seine Jacke, deren Stil auch gut in die 60er Jahre passen würde. „Wenn man so alt ist wie ich, hat man immer süße Erinnerungen an seine Jugend“, gibt Watjan zu. Trotzdem klingt er ein wenig resigniert, wenn er darüber spricht, wie sich die Stadt verändert hat, in der er seit 36 Jahren zu Hause ist.

Am 7. Februar beginnen die Olympischen Winterspiele in Sotschi, und die Vorbereitungen dafür haben den liebsten Urlaubsort der Russen umgekrempelt. „Der Hauptnachteil ist, dass Sotschi seinen Charakter als Kurort verliert“, sagt Hamlet Watjan. „Das ist unsere größte Sorge für die Zukunft.“

Die Zukunft, das sind etwa die Hochhäuser. In Sotschi wachsen sie überall in die Höhe, viele der Türme aus Stahl und Glas stehen teilweise oder ganz leer. Riesige Plakate werben um Käufer und Mieter, nachts ist kaum ein Fenster erleuchtet. Die Marktstände im Stadtzentrum sind alle verschwunden, an ihrer Stelle wurde eine Art Einkaufspassage errichtet, die Verkäufer stehen gelangweilt zwischen den Kleiderständern herum.

Um zur Strandpromenade zu gelangen, muss man den Verkehr auf dem Kurortny Prospekt – uralte Ladas, moderne Geländewagen und ein ständiger Strom von Kleinbussen jeden Alters – durch einen Fußgängertunnel unterqueren. Wegen der vielen Baustellen ringsum kann es vorkommen, dass die Beleuchtung im Tunnel ausfällt. Um im Dunkeln nicht zu stolpern, haben einige Einwohner Sotschis auch am Tag eine Taschenlampe dabei. Auf seine Füße sollte man als Spaziergänger ohnehin achten, da kaum eine Baustelle wirklich gesichert ist, schon nach wenigen Minuten sind die Schuhe von einer Staubschicht bedeckt.

Im kleinen Park hinter dem Tunnel steht die meterhohe Countdown-Uhr, die jetzt nur noch wenige Tage, Stunden, Minuten und Sekunden bis zum Beginn der Spiele heruntertickt. Ein paar Schritte weiter lassen sich russische Touristen und Hochzeitspaare vor dem Brunnen gegenüber des alten Fährterminals fotografieren. Allerdings ist das Motiv unbeliebter geworden, seit die Hochhäuser im Hintergrund das Panorama stören. Dafür scheinen die Schaufenster der Ramschläden an der Strandpromenade vor Olympia-Souvenirs fast zu bersten.

Bis vor ein paar Jahren, als die Planungen für Olympia und die Zeit nach den Spielen begannen, hatte kaum ein Gebäude mehr als fünf Stockwerke. Die meisten Häuser stammten noch aus der Blüte Sotschis zu Zeiten der Sowjetunion, als Stalin die Stadt ausbauen ließ. Das frühere Sumpf- und Malariagebiet wurde mithilfe von Eukalyptusbäumen trockengelegt, rund 270 Sanatorien wurden errichtet. Arbeiter aus dem ganzen Land erholten sich auf Staatskosten, wurden mit dem Wasser der Heilquellen therapiert, atmeten die Bergluft des Kaukasus, brachten ihren Kindern im Meer das Schwimmen bei. Stalin selbst entspannte sich jeden Sommer vier Monate auf seiner Datscha am Stadtrand.

„Früher waren Alkohol und Zigaretten in Sotschi verboten, man sollte Ruhe haben, schlafen, spazieren gehen“, erinnert sich Hamlet Watjan. „So sollte sichergestellt werden, dass man sich erholt – und danach wieder in der Fabrik oder auf dem Feld schuften kann.“ Inzwischen sei Sotschi fast zu einem beliebigen Urlaubsort wie in Spanien oder in der Türkei geworden, „wo die Leute hinfahren, um Spaß zu haben. Wenn sie mich fragen, gibt es schon jetzt zu viele Nachtclubs.“

In vielen Bereichen sei Sotschi anderen Ferienorten aber noch weit überlegen. Die Heilquellen hätten eine dreimal so hohe Qualität wie jene in Baden-Baden, das sei wissenschaftlich bewiesen. Der greise und sieche Leonid Breschnew habe in den letzten fünf Jahren seiner Amtszeit nur noch laufen und sprechen können, weil er vor jedem Staatsbesuch mit Wasser aus Sotschi behandelt worden sei. „Wir haben hier gute Luft, das Meer, die Berge – man kann hier sehr gut atmen“, sagt Watjan.

Natürlich, während der Bauphase habe man gespürt, dass die Luft schlechter geworden sei. Der Kurortny Prospekt wurde ausgebaut, der Verkehr auf der wichtigsten Straße der Stadt kam teilweise zum Erliegen. Für die 25 Kilometer vom Ortsteil Adler, wo die olympischen Eishallen stehen, bis ins Stadtzentrum benötigte man bis zu vier Stunden. „An dem einen oder anderen Tag sind wir sehr wütend gewesen“, sagt Hamlet Watjan. Bis zu den Olympischen Spielen werde aber sicher alles wieder in Ordnung sein.

Und danach?

Zweieinhalb Wochen lang werden die besten Wintersportler in Sotschi um Medaillen kämpfen, unten am Meer in den neuen Eishallen, oben im Kaukasus auf den neuen Pisten, Bahnen und Schanzen. Die Zuschauer werden mit dem neuen Zug und den neuen Skiliften zu den Wettkämpfen fahren, sie werden in einem der vielen neuen Hotels schlafen. Hinter der Verwandlung von Sotschi steckt der Plan der russischen Regierung und von Investoren, den traditionellen Sommerrückzugsort der Russen zu einem ganzjährigen Touristenziel zu machen. Sotschi liegt in den Subtropen auf dem gleichen Breitengrad wie Nizza, bislang lief die Badesaison von April bis Oktober, selbst im November ist das Schwarze Meer noch knapp 20 Grad warm. Mit den neuen Skigebieten und den anderen neuen Attraktionen soll das ganze Jahr Saison sein, andere Gäste sollen angezogen werden.

Zuletzt waren hauptsächlich ältere Leute aus nostalgischen Gründen nach Sotschi gereist, junge Russen zieht es eher in die Türkei oder nach Ägypten. Das liegt auch daran, dass der Staat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion weniger großzügig ist, auch wenn viele große Unternehmen weiter Kuraufenthalte ihrer Mitarbeiter finanziell unterstützen. Sotschi ist teurer als andere Urlaubsorte, die Olympischen Spiele haben den Anstieg noch einmal verschärft, die Preise ähneln denen in Moskau.

„In den vergangenen Jahren hatten wir immer weniger Gäste“, sagt Hamlet Watjan. Das habe allerdings auch an den Begleiterscheinungen der Bauarbeiten gelegen, an Lärm, Stromausfällen und Wassersperrungen. Seit 2007 sind mehr als 40 neue Hotels entstanden, das Internationale Olympische Komitee schreibt für Winterspiele 42 000 Betten vor. Um all die Zimmer zu füllen, hat die russische Regierung weitere Großveranstaltungen in die Stadt geholt: den G-8-Gipfel im Juni, die Eishockey-WM 2016, Spiele der Fußball-WM 2018, ab dem kommenden Herbst wird die Formel 1 einmal pro Jahr in Sotschi den Großen Preis von Russland austragen. Der Verkehr auf dem Kurortny Prospekt, der sich entlang der Schwarzmeerküste durch fast ganz Sotschi schlängelt, wird kaum abnehmen.

Dabei hatte Hamlet Watjan gehofft, dass es in seinem Kurort nach Olympia wieder ruhiger zugeht.

Watjans Hoffnung ist Paul Becks größte Sorge. Beck ist nur ein Jahr jünger als Watjan, auch seine Haare sind grau, Erholung ist aber ganz und gar nicht sein Geschäft. In seinem taubenblauen Sakko und mit der roten Fliege um den Hals wirkt der Niederländer fast wie ein Zirkusdirektor.

Auch Beck treibt die Frage nach der Zukunft von Sotschi um, er hat einen Dreijahresvertrag und ist gekommen, um den Spaß nach Sotschi zu bringen.

Wie dieser Spaß aussehen wird, kann man schon jetzt nahe der olympischen Wettkampfstätten besichtigen. Dort errichtet Paul Beck als Geschäftsführer den „Sotschi Park“, den größten Vergnügungspark des Landes. „Der erste russische Themenpark, ein Erlebnispark“, sagt Paul Beck. Die Inspiration für alle Attraktionen komme von heimischen Märchen, man habe versucht, die russische Kultur zu erhalten, „das ist uns sehr wichtig“. Noch ist unsicher, ob das mehr als 20 Hektar große Areal bis zum Beginn der Winterspiele komplett eröffnet werden kann. Danach aber sollen täglich bis zu 12 000 Besucher am Tag kommen und pro Person 1500 Rubel Eintritt bezahlen, etwa 33 Euro. Angesichts eines durchschnittlichen russischen Monatseinkommens von rund 600 Euro ein stattlicher Preis. Becks Zielgruppe sind wohlhabende Familien, vor allem Moskauer. Das zum Park gehörende Hotel – vier Sterne, 278 Zimmer – ist schon fertig. Von außen wirkt es wie ein gigantisches Schloss aus Plastik. „Wir brauchen viele Suiten, viele teure Zimmer“, sagt Beck.

Paul Beck hat früher „Efteling“ geleitet, den größten Vergnügungspark der Niederlande. Später hat er die Autostadt Wolfsburg gemanagt, in der Volkswagen versucht, aus dem Autokauf ein Erlebnis zu machen. In Sachen Vergnügen versteht er nur wenig Spaß. Beck rechnet vor, dass sein Park 600 Arbeitsplätze schafft, dass Geschäfte mit 1300 Quadratmetern Verkaufsfläche und Restaurants mit insgesamt 1200 Sitzplätzen entstehen. Und dass die Baukosten von 240 Millionen Euro bei 1,5 Millionen Besuchern pro Jahr in knapp zehn Jahren wieder eingespielt seien. Das verlangen auch seine Finanziers: Privatunternehmen, Banken und die regionale Regierung. „Es gibt ein sehr großes Interesse vom russischen Staat. Die Frage ist: Wie füllt man all die Hotelbetten? Das wird nicht leicht“, sagt Beck. „Ich glaube nicht an Märchen. Ich verkaufe sie.“

Bei der quietschbunten PowerPoint-Präsentation, die eine seiner zwei jungen russischen Assistentinnen vorführt, gerät er dann aber doch ein bisschen ins Schwärmen. Vom Restaurant im Zarenstil, der großen Rittershow, dem Väterchen-Frost-Haus, in dem das ganze Jahr Weihnachten ist, und den zwölf modernen Fahrgeschäften, die Adrenalin in den Kurort jagen sollen. Paul Beck ist schon mit vielen Achterbahnen auf der ganzen Welt gefahren, ob im Europark Rust oder in Südkorea, für einige seiner künftigen Attraktionen fühlt er sich dann aber doch zu alt. Auch wenn alles natürlich auf dem modernsten Stand der Technik sei, wie er stolz betont, alles andere sei auch viel zu gefährlich: „Was wir hier haben, sind Killing Machines.“ Zum Beispiel der Shot-and-drop-Turm, in dem die Fahrgäste auf 65 Meter Höhe geschossen werden und dann im freien Fall wieder in Richtung Boden sausen. Oder für die Loopingbahn „Quantum Leap“, Quantensprung, die in 2,5 Sekunden auf 105 km/h beschleunigt.

Auf der anderen Seite von Sotschi gibt es bereits einen Vergnügungspark, eine Mischung aus botanischem Garten und Rummelplatz. Im Riviera Park ist der Eintritt frei, es gibt Karussells und Cafés, Schießbuden und ein kleines Delfinarium, Zuckerwatte und Vanilleeis. Für ein paar Rubel kann man sich am Wegesrand mit einem Papageien fotografieren lassen oder seine Füße in ein Bassin tunken, um sich die Hornhaut von winzigen Fischen wegknabbern zu lassen. Hier stammt das Rauschen tatsächlich vom Wind in den Bäumen. Einige davon hat Weltraum-Pionier Juri Gagarin bei seinen Besuchen in Sotschi gepflanzt, wie kleine Schautafeln verkünden. Selbstverständlich gab es früher auch ein spezielles Sanatorium für Kosmonauten.

In der „Goldene Ähre“, Hausnummer 86 am Kurortny Prospekt, erholten sich zu Gagarins Zeiten Bauern und Landwirtschaftsarbeiter. Während der Olympischen Spiele wird Hamlet Watjan ganz andere Gäste haben. Die staatlichen Organisatoren haben seine Einrichtung als offizielle Olympia-Unterkunft ausgewählt, Watjan hatte keine Wahl, er musste sein Sanatorium renovieren und ein neues neunstöckiges Bettengebäude bauen. Jetzt hat er ein eigenes Hochhaus in seinem kleinen Kurpark stehen, während der Winterspiele werden hier Mitarbeiter der Groß-Sponsoren Coca Cola und Panasonic schlafen. Die Preise sind mit 133 US-Dollar pro Übernachtung mit Frühstück vorgegeben. „Wir verdienen nichts an den Spielen“, sagt der Direktor. „Wir haben keine Erfahrung mit so einer Veranstaltung. Aber wir hoffen, dass alles klappt.“ Außerdem würden auch die normalen Leute in Sotschi von den vielen Baumaßnahmen profitieren, das Stromnetz und die Straßen seien ausgebaut worden. „Wenn alles fertig ist und die Spiele erst einmal vorbei sind, werden die Leute aufatmen und sehen, was alles verbessert wurde.“

Allerdings müssen alle in der Stadt ein bisschen zusammenrücken. Schätzungen zufolge ist die Einwohnerzahl bereits von 350 000 auf 450 000 gestiegen. Watjan geht eher von 600 000 aus. Der Wohnungsbau hält mit dem forcierten Boom der Tourismusbranche nicht Schritt. Hotelmanager berichten davon, dass sie für ihr Personal keine Wohnungen finden und deswegen kleinere Hotels anmieten, in denen ihre eigenen Angestellten untergebracht werden.

Hamlet Watjan sagt, früher habe jeder Bürger von Sotschi 150 Quadratmeter Grünfläche zur Verfügung gehabt, davon seien heute noch 30 übrig, „die Stadt ist viel dichter bebaut, das spürt man überall“. Immerhin gibt es noch den kleinen Park der „Goldenen Ähre“, mit schattigen Wegen, Palmen und Delfinstatuen.

Und immerhin kann Hamlet Watjan von allen Zimmern seines neuen Bettenhauses den Sonnenuntergang sehen. In den oberen Etagen ist der Verkehr auf dem Kurortny Prospekt kaum mehr zu hören. Sotschi wird in ein rotgoldenes Licht getaucht und die Sonne versinkt im Schwarzen Meer – hinter den Baukränen.

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