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Ein Redner im Hyde Park.

© Jürgen Dewet Schmidt/www.grashoff.de

Speakers’ Corner: Die Frei-Sprech-Anlage

Hier konnten zum Tode Verurteilte frei sprechen – in ihren letzten Minuten. Seit 1872 dürfen an Speakers’ Corner alle mal ihre Meinung sagen. Sie machten Londons Hyde Park zum internationalen Symbol für freie Rede

Karl Marx wusste genau, wann die große Revolution in England begann: gestern. Das schrieb er am 28. Juni 1855, begeistert vom Aufstand der Arbeiterklasse. Die hatte am Vortag im Hyde Park vehement gegen ein geplantes Gesetz protestiert, das ihnen den Sonntag nehmen wollte: An ihrem einzigen freien Tag sollten der Handel und alle möglichen Vergnügungsmöglichkeiten verboten werden. Dagegen schrien sie nun an.
Marx kam häufiger in den Hyde Park: um Reden zu halten und anderen zuzuhören. Engels und Lenin waren ähnlich beeindruckt, Angela Merkel ebenfalls. Als die deutsche Kanzlerin im letzten Jahr vor dem britischen Parlament sprach, erzählte sie den Kollegen, dass sie bei ihrem ersten Londonbesuch nach dem Mauerfall gleich in den Hyde Park gelaufen war. Speakers’ Corner, das war für sie weit mehr als eine Touristenattraktion oder eine Schulbuchlektion – es war der Inbegriff der Freiheit. In der Nordostecke des königlichen Parks darf seit knapp 150 Jahren jeder in aller Öffentlichkeit sagen, was er will. Die Meinungsfreiheit ist hier staatlich verbrieftes Recht.
Die von Marx beschworene Revolution hatte zwar nicht zum Kommunismus geführt, aber zu mehr Demokratie. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch die Reform League, eine Organisation, die die Öffnung des Wahlrechts forderte – an die Urne durfte nur ein Bruchteil der männlichen Bevölkerung gehen. Als eine Protestveranstaltung der League verboten und der Park abgesperrt wurde, Tausende von Polizisten in Stellung gingen, rissen die Demonstranten die Absperrungen nieder und stürmten den Hyde Park. Als im Jahr darauf wieder eine Versammlung verboten wurde, nichtsdestotrotz 150 000 Menschen anmarschierten, hielt die Polizei sich zurück, der Innenminister dankte ab, und das Parlament verabschiedete 1872 den Royal Parks und Regulation Act. Danach ist der außerparlamentarischen Opposition an dieser Großstadtecke verbal so ziemlich alles erlaubt – außer Kritik am Königshaus und Obszönitäten.
Hyde Park, Heinrich des Achten altes Jagdrevier, war wie gemacht für den Protest: Zentral und verkehrsgünstig gelegen, war er so groß, dass selbst Hunderttausende Platz fanden. Bis heute enden hier die meisten Londoner Großdemos. Der Park eignete sich aber auch deshalb so gut, weil Arm und Reich an dieser Stelle aufeinanderprallen. In den umliegenden Straßen ist seit jeher das Establishment zu Hause, in den Park dagegen kann jedermann und das ohne zu zahlen. Da war der Clash nicht nur vorprogrammiert, er war, vonseiten der Arbeiter, auch gewollt.

Fürs Sonntagsvergnügen ist seitdem gesorgt. Die einen gehen in die Kirche, die anderen in den Hyde Park. Dort stellen sie sich auf die eigene Kanzel – eine Bierkiste, ein Eimer, eine Trittleiter – und beginnen zu predigen. Anarchisten, Islamisten, Sozialisten, Atheisten, Methodisten, Verschwörungstheoretiker und Originale aller Art versprechen Himmel und Hölle, das Ende oder die Erlösung der Welt. „The End is at Hand“: Als Jürgen Dewet Schmidt, Feinkosthändler und leidenschaftlicher Fotograf aus Bremen, in den 70er Jahren auf Dienstreise in London, den Mann mit diesem Schild sah, griff er sich gleich seine Kamera. Es wurden zehn Bilder, 20, schließlich ein ganzes Buch. (Was vergriffen ist, dafür sind etliche der Fotos, von denen eine Auswahl auf dieser Seite zu sehen ist, in einem anderen Buch untergekommen, „Wenn man es glaubt, ist es noch schöner“, zu beziehen über die Firma Grashoff in Bremen.)

Haben Männer mehr Hang zum Extremismus?

Ein Redner im Hyde Park.
Szene aus dem Hyde Park.

© Jürgen Dewet Schmidt/www.grashoff.de

Nicht wenige der Originale kamen jahrzehntelang jeden Sonntag hierher, von Lord Soper, dem Methodistenprediger und Mitglied im Oberhaus, bis zum deutschstämmigen Sozialisten Heiko Khoo, der sich zudem heute als Historiker von Speakers’ Corner betätigt. Mit wenigen Ausnahmen sind sie alle männlichen Geschlechts. Vielleicht haben Männer den größeren Mitteilungs- und Selbstdarstellungsdrang, mehr Hang zum Extremismus. Vielleicht können sie auch nur besser rumbrüllen – Verstärker sind an der Ecke nämlich nicht erlaubt. Oder die Frauen haben schlichtweg zu viel zu tun. In Großbritannien wird die öffentliche Rede generell gepflegt, Studenten lernen das Debattieren in eigenen Klubs. Aber Speakers’ Corner hat eine eigene Tradition: Hier fanden bis 1783 tausende öffentliche Hinrichtungen statt, zur schaurigen Unterhaltung des vergnügungssüchtigen Publikums. Für Sitzplätze musste man zahlen. In den letzten Minuten vor ihrem Tod durften die Verurteilten auf der erhöhten Bühne des Schafotts dem Volk sagen, was sie dachten.

Während die normale Kirchengemeinde Ja und Amen sagt, sind die Mitglieder dieser Congregation of Dissent Meister des gebrüllten Neins. So wichtig wie die Redner selbst sind die „heckler“ im Publikum, die mit ihren Zwischenrufen den Orator anheizen, irritieren, provozieren. Die Rede erfordert die Gegenrede. Im besten Falle schärfen Redner und Gegenredner aneinander ihren Witz, der gehört traditionell immer dazu. Denn es geht bei den Reden nicht mehr allein um die Botschaft. Die ist oft eh so kraus, dass man sie gar nicht versteht. Konservative trifft man auf den Seifenkisten heute so selten an wie im 19. Jahrhundert. Schon damals hatten sie Möglichkeiten der Artikulation in Medien und Politik, die den Sozialisten versperrt waren. Weshalb diese von Anfang an auf der Bühne unter freiem Himmel stark vertreten waren, so wie die Suffragetten, die beim Kampf für das Wahlrecht von Frauen bis zu einer Viertelmillion Demonstranten um sich scharten. In den 1930er Jahren ging es im Park besonders hoch her. Die legendären Hunger Marches, traurige Paraden bitterarmer Arbeitsloser, endeten an Speakers’ Corner, die Labour-Partei hielt riesige Versammlungen ab, Linke und Faschisten knallten aufeinander. Selbst während des Kriegs lief der Betrieb weiter. Beim Schrei der Sirenen flüchteten die Menschen sich in die U-Bahnstation, bei Entwarnung kehrten sie zurück.

Auch ein Raum für Durchgeknallte

Ein Redner im Hyde Park.
Ein Redner im Hyde Park.

© Jürgen Dewet Schmidt/www.grashoff.de

Ein Ort des differenzierten Argumentierens ist die „Meckerecke“, wie sie auch genannt wird, nicht. Heute, da jeder im Internet seine Meinung und Wut in die Welt hinausposaunen, man über Twitter jedermann beleidigen kann, scheint sich die öffentliche Bühne fast überlebt zu haben. Wobei die digitale Revolution nicht die einzige Bedrohung ist. Immer häufiger finden im Park Open-Air-Konzerte statt, die selbst die stärksten Stimmen übertönen. Und gerade wurde die Nordostecke des Parks aufgehübscht, wurden Blümchen und Zäune gepflanzt, Freifläche weggenommen. Wobei Platzmangel eigentlich kein Problem sein dürfte: Die gesetzlich verbriefte Redefreiheit umfasst einen viel größeren Bereich als nur diese Ecke, reicht vom Marble Arch im Norden bis Hyde Park Corner im Süden und dem Seperpentine-Teich im Westen.

Heute liegt die Bedeutung von Speakers’ Corner eher in der Symbolkraft, nicht nur für die Meinungsfreiheit, sondern auch für die Toleranz, nicht zuletzt aufseiten der Polizei. Dass man auch Extremisten, Exzentrikern und Durchgeknallten einen Raum gibt, betrachten viele als Zeichen wahrer Demokratie. Für den Schriftsteller George Orwell, als Sozialist nicht gerade für ausgeprägten Patriotismus bekannt, war Speakers’ Corner ein Grund, stolz zu sein auf sein Land. Im Überwachungsstaat seines düsteren Romans „1984“ gibt es die Ecke nicht mehr. Nur noch die sehnsüchtige Erinnerung daran.

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