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Servus in a new kind of hotel. "Die Lampenschirmmacherin" am Karmelitermarkt, dem einstigen jüdischen Viertel im 2. Bezirk.

© Heidrun Henke

Städtereisen: Laden hüten

Heute wollen Touristen wie Einheimische schlafen. In Wien gibt es für sie ein neues Modell: Übernachten in leer stehenden Geschäften und Werkstätten – mit Blick aus dem Schaufenster.

Abenteuerreisende, die gehen doch wandern in der Wüste, Zelten in Lappland. Was wollen die jetzt in der Stadt? Noch dazu einer so alten wie Wien?

Doch, doch, sagt Fanny Holzer-Luschnig und lacht. Am Anfang, erzählt die 47-Jährige, die zusammen mit Theresia Kohlmayr das Grätzlhotel leitet, haben vor allem Jungrentner bei ihnen gebucht. Leute, die es aufregend fanden, quasi auf der Straße zu leben: Abenteuer Erdgeschoss. Sie hatten ihren Spaß.

„Servus in a new kind of hotel“, wird der Besucher auf der Website begrüßt. Das Grätzl Hotel ist kein Haus, das man betreten kann, sondern ein Konzept. Die 20 dezentralen Zimmer und Suiten sind in ehemaligen Läden und Werkstätten untergebracht, verteilt auf drei Grätzl, was auf hochdeutsch Kiez bedeutet: am Karmelitermarkt, dem einstigen jüdischen Viertel im 2. Bezirk; am Meidlinger Markt, in der Nähe von Schloss Schönbrunn; und in Wieden, im 4. Bezirk, zwei U-Bahnstationen vom Zentrum entfernt.

Dort bin ich untergebracht, in der alten Schlosserei im „Grätzl Belvedere“. Den Code fürs Schlüsselversteck habe ich zugemailt bekommen. Rezeption gibt’s ja keine, wobei jeder Standort seinen eigenen Anlaufpunkt hat, Cafés oder das Büro der Betreiber.

Die Reisenden wollen heute den Genius Loci erleben

Der erste Eindruck: erstmal lüften. Ein bisschen stickig ist es im Zimmer, wahrscheinlich, weil es so gut abgesperrt ist. Der Schlosser hat seine Maschinen alle weggeräumt. Das Einzige, was an die Werkstatt erinnert, sind die Rundbögen und die rauen Wände – Industrial Chic. In anderen Grätzl-Unterkünften gibt es deutlichere Bezüge. Im alten Lampenladen hängen Restbestände an der Decke, die frühere Werkstatt der Schneiderin schmückt das Foto einer Dame in prächtigem Gewand.

"Der Schlosser" liegt in der früheren Werkstatt im Belvedere-Viertel. Zum Frühstück geht man ins Kaffeehaus.
"Der Schlosser" liegt in der früheren Werkstatt im Belvedere-Viertel. Zum Frühstück geht man ins Kaffeehaus.

© Monika Nguyen

Ich habe sogar eine mechanische Schreibmaschine. Allerdings nicht ausprobiert. Darin steckt ein Blatt mit allem, was ich wissen muss, einschließlich W-Lan-Code. Flachbildschirm, Boxspringbett, Regendusche, alles da, was man bei einem Design-Hotelzimmer heutzutage so erwartet. Wenn ich Zeit hätte, würde ich mich jetzt ins tiefe Fenster setzen, das Leben vorbeiziehen lassen. Und würde wahrscheinlich angegafft wie die Damen aus den Amsterdamer Schaufenstern. Nein, nein, ich befinde mich in einer züchtigen Gegend, an der alten St. Elisabethkirche, etliche Häuser drumherum gehören zur Pfarrei. Die eine gastfreundliche zu sein scheint, so viele Bänke, wie auf dem lauschigen, fast dörflichen Kirchplatz stehen, auf dem samstags ein kleiner Bauernmarkt stattfindet.

Die großen Hotelketten funktionieren nach dem McDonald’s-Prinzip: überall das Gleiche. Wer im Ibis oder Motel One aufwacht, weiß erst mal nicht, ob er sich in Frankfurt oder Paris befindet. Viele Städtereisende wollen heute aber schon in ihrer Herberge den Genius Loci erleben, sie wollen mehr als ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl: ein Erlebnis.

"Die Schneiderin". Das Zimmer wurde, wie der Name schon verrät, in der Werkstatt einer Schneiderin eingerichtet.
"Die Schneiderin". Das Zimmer wurde, wie der Name schon verrät, in der Werkstatt einer Schneiderin eingerichtet.

© Monika Nguyen

Das ist das Erfolgsgeheimnis der „25 Hours“-Hotels, die in ihrer Gestaltung die Umgebung aufgreifen. So wird die Berliner Filiale, neben dem Zoo, zum Urban Jungle, in Wien, im Museumsquartier, heißt das Thema Zirkus. Anders als Restaurants und Bars in Hotels alter Schule zieht das Konzept einheimische Gäste ebenso an wie die auswärtigen, die hier übernachten. Und sich freuen, „Locals“ zu treffen, wie in der Wiener Rooftop Bar.

Espressomaschine und Picknickkorb gehören zur Grundaustattung

Im „25 Hours“ hat Fanny Holzer-Luschnig zuvor als Hoteldirektorin gearbeitet, einer der Mitbegründer ist Gesellschafter beim Grätzl. Das, so die Direktorin, eine Antwort auf den unglaublichen Erfolg von Airbnb ist. Man greift die Idee auf, quasi auf Privatbesuch in einer Stadt zu sein, betreibt das Ganze aber als normales Geschäft. „Wir sagen: Wir sind die Guten, zahlen Steuern und sorgen dafür, dass es sauber ist.“

Angefangen hat alles mit einer Diplomarbeit. Theresia Kohlmayr, heute 31 und Salzburger Hotelierstochter, schrieb als angehende Architektin über Leerstand im innerstädtischen Bereich. Aus der Theorie wurde Praxis, mit einer früheren Schneiderei fing es 2011 an, mit ihren Studienfreunden und heutigen Büropartnern richtete sie in den nächsten Jahren vier weitere ein. Irgendwann stellte sich die Frage der Professionalisierung. So kam es zum Zusammenschluss mit einem anderen, großen Architekturbüro, BWM, das ähnliche Ideen verfolgte. Im Dezember 2015 wurde das Grätzlhotel offiziell eröffnet, nicht mal ein halbes Jahr später kürte die Fachzeitschrift „Rolling Pin“ die beiden Gastgeberinnen von zum „Hotelier des Jahres 2016“.

Die Gäste sollen das Gefühl bekommen, Wiener auf Zeit zu sein. So haben die größeren Suiten eine Kitchenette und einen langen Tisch, damit die Besucher sich Freunde zum Essen einladen können. Espressomaschine und Picknickkorb gehören zur Grundaustattung.

Der Gast wird auf Entdeckungsreise in den Kiez geschickt, im Zimmer liegt ein selbstgestalteter Stadtplan mit Empfehlungen. Die Generation Airbnb will eintauchen in ein Viertel statt Sehenswürdigkeiten abzuhaken. Dafür stellt das Hotel auch gratis Räder zur Verfügung. Und die üblichen Funktionen einer Herberge werden ausgelagert. Statt in den Frühstücksraum geht man ins Kaffeehaus, statt ins Spa zum Hamam gegenüber.

Ein Kaffeehaus ohne Kaffee?

"Zur Rezeption": So nennt sich das Lokal am Karmelitermarkt, in dem die Hotelgäste sich Informationen holen können.
"Zur Rezeption": So nennt sich das Lokal am Karmelitermarkt, in dem die Hotelgäste sich Informationen holen können.

© Monika Nguyen

Morgens früh um acht mache ich mich auf zum Café Goldegg und werde, als erster Gast, von der Kellnerin freundlich mit den Worten gegrüßt: Es gibt keinen Kaffee. Die Maschine wird gerade repariert. Schock. Im selben Moment stürmt eine ältere Dame zur Tür hinein, schnappt sich eine Zeitung und ihren Logenplatz. Die betrifft das nicht, weiß die Kellnerin, die trinkt eh was anderes.

Ein Kaffeehaus ohne Kaffee? Das Goldegg ist zu schön, um darauf zu verzichten. Also hole ich mir einen Coffee to go in einer Bäckerei zwei Ecken weiter, setze mich in eine holzgetäfelte Fensternische, die Bank mit grünem Cord bezogen, und löffle himmlisch weiche Eier im Glas zum Schnittlauchbrot. Touristen verirren sich nur wenige hierher, am frühen Morgen bin ich umgeben von Stammgästen, jungen wie alten. Zwei Billardtische warten auf Spieler, die große Uhr, die an einer Kette von der Decke hängt, zeigt immer dieselbe Zeit: 20 nach eins.

Am Abend kehre ich im alten Milchhof ein, auch eine Empfehlung des Grätzlhotels. Das kleine Lokal im Hinterhof hätte ich vermutlich allein nicht gefunden. Was nicht bloß wegen des aparten Huhns, knusprig gebraten mit Pastinaken und Haselnusspesto, schade gewesen wäre. Die Atmosphäre ist entspannt, das Licht warm, die Musik dezent, der Service freundlich, die Gäste einheimisch.

Ein wenig unheimlich ist es mir schon, als ich zurückkehre in mein Domizil, so allein im Dunkeln. Schnell schließe ich die Metalltür, die schweren Vorhänge.

Das, was den Reiz des Konzepts ausmacht, ist zugleich ein Risiko

Das ist das Ambivalente an dem Konzept: Angetreten, leerstehenden Raum neu zu beleben, entzieht es diesen zugleich den Blicken wie der Nutzung der Menschen im Quartier. Die Straßenebene ist für Passanten meist wie tot. Und das Grätzlhotel ist kein Pop-Up-Unternehmen zur Zwischennutzung. Die Architekten haben die Zimmer mit großem Aufwand umgebaut. Falls doch wieder kleine Ladeninhaber oder Handwerker einziehen wollen, geht das nicht mehr.

Hotelier des Jahres: Die Architektin Theresia Kohlmayr richtete 2011 eine frühere Schneiderei ein. So fing alles an.
Hotelier des Jahres: Die Architektin Theresia Kohlmayr richtete 2011 eine frühere Schneiderei ein. So fing alles an.

© Rene Wallentin

Ich schlafe fest. Morgens um sieben läuten die Kirchenglocken, ich höre einen Motor anspringen, das kurze Geplänkel zweier Frauen. Die Zimmer des Grätzlhotels liegen alle in B- oder C-Lagen. Wo wenig los ist, geht es ruhiger zu.

Das, was den Reiz des Konzepts ausmacht, ist zugleich ein Risiko: Über die „Partner“, wie sie sie nennen, haben die Hotelbetreiber, anders als bei Angeboten im eigenem Haus, keine Kontrolle. Das Hamam in der Belvederegasse hat sich nicht halten können. Geblieben sind nur die Wellness verheißenden Schilder.

Fanny Holzer-Luschnig ist Hotelfachfrau und leitet das Grätzl zusammen mit Theresia Kohlmayr.
Fanny Holzer-Luschnig ist Hotelfachfrau und leitet das Grätzl zusammen mit Theresia Kohlmayr.

© Rene Wallentin

Stadt bedeutet Wandel. Ein paar Minuten sind es von hier zu Fuß zum neuen, 2014 eröffneten Hauptbahnhof. Dort entsteht ein ganzer Stadtteil neu, das „Quartier Belvedere“, mit allem, was dazu gehört, Wohnungen, Büros, Läden, Lokale und natürlich jeder Menge Hotels. Auch das alte, bisher noch angenehm ungentrifizierte Viertel wandelt sich durch die plötzlich zentrale Lage. Neben der Schlosserei liegt ein frisch renovierter Altbau, in dem Luxuseigentumswohnungen angeboten werden. Ungewöhnlich für Wien, wo die meisten in Gemeindewohnungen leben.

Den Amerikanern ist das Abenteuer zu gewagt

Wer vor 25 Jahren her kam, hatte das Gefühl, im Ostblock gelandet zu sein. In den Bahnhöfen konnte man die Tristesse förmlich riechen, man übernachtete in Etagen-Pensionen, die über mehr Staub als Charme verfügten. Am Rande des Eisernen Vorhangs bewegte sich nichts. Was durchaus Vorteile hatte. Hier gab es noch die anderswo von Ketten verdrängten kleinen Läden, von denen so viele verschwunden sind.

Heute ist Wien trotz alter Gemäuer eine junge Stadt, ohne an der eigenen Hipness und den damit einhergehenden Preisen zu ersticken. Auf den Hitlisten der lebenswertesten Städte der Welt steht die Metropole seit Jahren mit an der Spitze. Diese Qualität spüren natürlich auch Touristen. Inzwischen gibt es neben dem Grätzlhotel eine ganze Reihe ungewöhnlicher Herbergen für sie. Das „Magdas“ zum Beispiel, in dem Flüchtlinge arbeiten, oder das „Schani“, in dem neue Technologien getestet werden (siehe Reisetipps).

Das internationale Interesse am Grätzlhotel ist groß, es gibt schon Expansionspläne. Viele Asiaten checken hier ein, Franzosen, Engländer, Deutsche. Nur Amerikaner nicht. Sie fühlen sich offenbar nicht sicher im Erdgeschoss, vermissen das Frühstück, die Klimaanlage. Das Abenteuer ist ihnen zu gewagt.

Reisetipps für Wiener Hotels

GRÄTZLHOTEL UND UMGEBUNG

Urbanauts Hospitality Group, Favoritenstraße 17/3-5, Telefon +43 1 208 39 04, graetzlhotel.com. Doppelzimmer ab 120 Euro.

Café Goldegg, Argentinierstraße 49, cafegoldegg.at.

Café-Bar Im Hof, in der Alpenmilchzentrale, Weyringergasse 36, im-hof.at

Auch das Motto, angesagtes Bar-Restaurant und Club, wird vom Grätzl Belvedere empfohlen: Schönbrunner Straße 30, motto.at.

Nur ein paar Minuten zu Fuß liegt das Belvedere, die barocke Parkanlage mit Schloss, heute Museum, mit der größten Sammlung Gustav Klimts. belvedere.at. Bis zum 23.12. findet vor dem Schloss ein Weihnachtsmarkt statt.

HOLLMANN BELETAGE
Köllnerhofgasse 6, Tel. +43 1 96 11 960, hollmann-beletage.at. In einem Wohnhaus der Gründerzeit liegt die Beletage, gestaltet wie eine Privatwohnung, mit Lesesesseln, Spielzimmer und Klavier. Im eigenen Mini-Kino läuft jeden Abend „Der Dritte Mann“, Popcorn dazu gratis. Sensationelles Frühstück. Doppelzimmer ab 159 Euro.

GEGENBAUER
Wiener Gäste Zimmer, Waldgasse 3, Tel. +43 1 604 10 88, gegenbauer.at/gaestezimmer.aspx. Doppelzimmer inkl. Frühstück ab 140 Euro. Erwin Gegenbauer, bekannt für seine Spitzen-Essige und -Öle, hat fünf Gästezimmer über seiner Brauerei eingerichtet. Wer selber kochen will, kann Obst und Gemüse im Garten pflücken. Gäste dürfen sich auch aus dem Hühnerstall Eier holen und im Pool der Familie schwimmen.

MAGDAS

Laufbergergasse 12, Tel. +43 1 720 0288, magdas-hotel.at. Ein „social business“ am Prater, eingerichtet vom Architekturbüro „AllesWirdGut“, in dem Flüchtlinge arbeiten. Unterstützt wird das Projekt von der Caritas. Doppelzimmer ab 67 Euro.

HOTEL SCHANI
Karl-Popper-Straße 22, Tel. +43 1 955 0715 , www.hotelschani.com/wien. Ein „smart Hotel“ am Hauptbahnhof mit Coworkingspace, bei dem möglichst viel mit dem Smartphone erledigt wird – ein Forschungsprojekt zum Thema Hotel der Zukunft, an dem auch das Fraunhofer Institut beteiligt ist. Doppelzimmer ab 79 Euro.

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