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Francis Kéré gehört zu den wichtigsten Vertretern einer sozial engagierten Architektur.

© Mike Wolff

Stararchitekt Francis Kéré: "Berlin war wie ein Charlie-Chaplin-Film"

Francis Kéré wird mit dem renommierten Pritzker-Preis geehrt. Aus diesem Anlass hier unser Interview von 2017, in dem er erzählt, wie er aus Burkina Faso an den Mehringdamm zog und wie Schlingensief und Affenbrotbäume ihn inspirieren.

Herr Kéré, Sie durften den Pavillon der Londoner Serpentine Gallery gestalten, der nun eröffnet. Sie folgen damit auf Architektur-Stars wie Zaha Hadid, Daniel Libeskind oder Rem Koolhaas. Ihr Entwurf ist von einem Baum inspiriert – warum?

In meiner Heimat Burkina Faso treffen sich die Menschen unter Bäumen. Sie sind der Aufenthaltsort schlechthin. Der Ort, wo die Großeltern mit den Enkeln reden – also auch ein Kindergarten. Der Ort, wo man sich mit Themen auseinandersetzt – also auch eine Schule. Oder ein Theater. Sogar ein Gesundheitszentrum, wenn eine Impfkampagne stattfindet.

Solch einen Baum gibt es auch in Ihrem Heimatdorf Gando?

Mehrere. Unmittelbar neben dem Gehöft meiner Eltern zum Beispiel einen Niembaum und einen Baobab. Erst später habe ich begriffen, dass dieser Treffpunkt der Ursprung von Architektur ist.

Ihr Pavillon hat die Form eines Ufos und ein Dach aus filigranen Stäben.

Das Dach, das so ähnlich aussieht wie ein Riesenregenschirm, ist gewissermaßen die Baumkrone. Es stützt sich nur auf diesen Fuß in der Mitte …

… der einem Baumstamm gleicht.

Die Konstruktion ist leicht und ermöglicht doch diese große Spannweite.

Sie leben seit 1985 in Berlin. Gefallen Ihnen die Bäume hier?

Das Erste, was mir in Deutschland aufgefallen ist, waren die – im Vergleich zu Ouagadougou – wunderbar geordneten, gekehrten, fast geleckten Straßen. Und dann die vielen schönen gepflegten Bäume! Vielleicht sind Sie zu verwöhnt und sehen das gar nicht mehr. Mir fällt es bis heute auf: Wie die Setzlinge am Straßenrand gerichtet werden, mit Seilen gespannt an drei Pfählen, damit sie wachsen können. Ich dachte, die haben ja alles hier, Wahnsinn! Das müsste es bei mir zu Hause geben, wo es so heiß wird, dass Sie immer nur den nächsten Schatten anpeilen.

Schon als Tischler-Azubi arbeiteten Sie mit Holz.

Als Kind habe ich fasziniert zugeschaut, wie Holz geschnitten wurde. Nach der Schule war klar für mich, dass ich nicht Polizist oder Lehrer werden will, wie so viele, sondern ein Handwerk erlerne. Dank eines Stipendiums der Carl-Duisberg-Gesellschaft, die mit dem Deutschen Entwicklungsdienst zusammengearbeitet hat, konnte ich meine Schreinerlehre in Deutschland beenden. Sechs Monate lang habe ich in München die Sprache gelernt, dann ging es nach Berlin.

Francis Kéré in seinem Büro in Berlin-Kreuzberg.
Francis Kéré in seinem Büro in Berlin-Kreuzberg.

© Mike Wolff

Ein Kulturschock?

Es war fantastisch und verwirrend. Ich erinnere mich, dass ich im Herbst, in Bayern, immer zu einem Thermometer gegangen bin, um zu sehen, wie tief die Temperatur sinken kann. September, Oktober, November … – und in Berlin lag dann sogar schon der erste Schnee. Plötzlich war es so ruhig und frühmorgens ganz dunkel. Trotzdem sollten wir in die Berufsschule, das habe ich nicht kapiert. Das ist doch ein Unwetter!, dachte ich.

Damals stand die Mauer noch.

Die habe ich gar nicht wahrgenommen. Von Krumme Lanke, wo sich die Berufsschule befand, bis Mehringdamm, wo ich damals schon wohnte, das war eine kleine Reise, West-Berlin für mich ein Großstadtdschungel.

Und wie haben die Menschen auf Sie gewirkt?

Ich war es von zu Hause gewohnt, dass man sich Zeit nimmt, zum Beispiel wenn man ältere Menschen begrüßt. Hier aber schienen alle gehetzt zu sein, wenn ich auf der Straße mal nach dem Weg gefragt habe. Dieser Strom, diese Schnelligkeit, hat auf mich gewirkt wie ein Film von Charlie Chaplin.

Mit was für einem Bild von Deutschland kamen Sie hierher?

Mit einem sehr positiven. In Burkina denkt man da an Autos wie Mercedes und gutes Werkzeug. Von Produkten kannte ich die englische Bezeichnung Germany. Ehrlich gesagt habe ich erst in der Berufsschule verstanden, dass damit das gleiche Land gemeint ist, das auf Französisch Allemagne heißt. Lachen Sie nicht, Germany, das war für mich lange ein Wunschort für Technik, ein Kontinent für sich, der irgendwo über Afrika schwebte.

"In Europa will man, dass Afrika arm bleibt"

Kérés Londoner Serpentine Pavillion ist bis Oktober als Treffpunkt, Café und Forum für Debatten geöffnet.
Kérés Londoner Serpentine Pavillion ist bis Oktober als Treffpunkt, Café und Forum für Debatten geöffnet.

© Iwan Baan

In Ihrem Heimatdorf haben Sie 2001 eine Grundschule gebaut. Das Gebäude ist in seiner Einfachheit ein kleines Meisterwerk, für das Sie mit dem Aga Khan Award ausgezeichnet wurden …

… und wir haben mittlerweile mehr als 1000 Schüler!

Sie waren der Erste überhaupt aus Ihrer Gemeinde, der eine Schule besuchte, Ihr Vater wollte es so. Dafür mussten Sie mit sieben Jahren allein in die Stadt umziehen. War das nicht schwer?

Natürlich, wie es das für jedes Kind gewesen wäre. Zumal wenn man in Burkina Faso groß wird, wo die Gemeinschaft sehr stark ist. Ich habe 13 Geschwister. Zwar habe ich rasch neue Freunde gefunden, aber die können die Eltern nicht ersetzen, niemals. Außerdem sind meine Muttersprachen Moré und Bissa, doch plötzlich musste ich von null auf hundert Französisch reden.

Das war die Unterrichtssprache?

Ist es immer. Moderne Schulbildung ist durch die Kolonialisierung nach Burkina gekommen. Auch der Stoff war stark auf Frankreich ausgerichtet, in Geografie wie in Geschichte. Erst in den höheren Klassen habe ich etwas über afrikanische Schriftsteller erfahren. Da entdeckte ich plötzlich, dass Leute wie ich auch Vorbilder sein können.

Die von Ihnen entworfene Schule ist geschickt belüftet. Sie selbst saßen als Schüler schwitzend in völlig überfüllten Räumen.

Das ist in den meisten Schulen leider bis heute so. Selbst in der Hauptstadt finden Sie Klassen mit mehr als 100 Schülern. Die Bevölkerungspyramide sieht in Afrika umgekehrt aus wie in Europa: Es gibt wenige Alte und sehr viele Kinder. Der Bedarf an Schulgebäuden ist gewaltig. Die Räume, in denen ich saß, waren eher geeignet, darin Brot zu backen als Kinder zu unterrichten. Heiß bedeutet bei uns 40, 50 Grad im Schatten. Wenn Sie unter einem Baum sitzen, weht wenigstens ab und zu der Wind, aber in einem Raum ohne Fenster, mit niedriger Wellblechdecke … Viele sind im Unterricht eingeschlafen. Dass ich etwas gelernt habe, war ein Glücksfall.

Im Jahr 1999 haben Sie den Verein „Schulbausteine für Gando“ gegründet …

… um Geld für meinen Schulbau zu sammeln. Vorher hatte ich bei verschiedenen Institutionen – Parteiausschüsse, Entwicklungshilfe – um Unterstützung geworben. Doch die konnten alle nur über Afrika reden. Manche haben mir noch Vorwürfe gemacht: Wenn ich eine Schule baue, würde ich den Staat aus seiner Verantwortung entlassen! Bei der Entwicklungshilfe merkt man schnell: Das sind auch nur Menschen. Sie können nicht alle lokalen Gegebenheiten kennen, heute sind sie hier, morgen schon weg. Da sollte ein Experte aus Ouagadougou anreisen, um meine Gemeinde kennenzulernen und ein Gutachten zu schreiben. Ich meine, warum soll ich zu jemandem gehen, der mich über mein eigenes Dorf informiert? Diese Strukturen verschwenden nur Zeit. Geld von einzelnen kleinen Spendern zu sammeln, ist mühsam. Aber durch sie war es mir möglich, diese Projekte zu realisieren.

Auch im Dorf mussten Sie Überzeugungsarbeit leisten. Vom Baumaterial Lehm war keiner begeistert.

Die wollten Beton. Das Problem ist, die Leute schauen zu euch Europäern auf und wollen dasselbe haben wie Ihr. Wer kann es ihnen verdenken? Wenn dann ein paar Entwicklungshelfer in ihren klimatisierten Autos kommen, nachhaltiges Bauen propagieren und sagen, dass Lehmbauten schön und kühl sind, dann denken die: In Europa will man, dass Afrika arm bleibt, wir sollen brav auf Fahrrädern rumfahren und in Hütten wohnen.

Sie haben es trotzdem hinbekommen?

Wichtig ist: Sie müssen ein gutes Beispiel schaffen. Eines, das auch inspiriert und den konventionellen Büchsen, die sonst gebaut werden, überlegen ist. Es darf kein Küken herauskommen, es muss gleich ein fettes Hühnchen sein. Denn das kann Eier legen, aus denen wieder Küken schlüpfen.

Wie funktioniert Ihre Belüftung?

Gando hat bis heute keine Elektrizität, man muss sich einfache physikalische Gesetze zunutze machen. Die heiße Luft steigt nach oben, und so haben wir eine Unterdecke geschaffen, durch die sie entweichen kann. An der Fassade gibt es lange Fensteröffnungen mit Lamellen, die den Zustrom von frischer Luft sichern. Weil die Leute keinen Lehm haben wollten, auch weil die Häuser vom Regen weggeschwemmt werden können, habe ich ihn veredelt, mit acht bis maximal zwölf Prozent Zement. Das ist jetzt 15, 16 Jahre her, und die Wände sehen immer noch gut aus. Ein moderner, innovativer Baustoff, und für die Leute im Dorf ist es Magie – die sie selbst beherrschen.

Die Dorfbewohner haben mitgebaut an der Schule, Sie haben sie ausgebildet. Lässt sich aus diesem gemeinschaftsstiftenden Modell etwas für Deutschland lernen?

Man kann nicht erwarten, dass die Menschen hier im gleichen Maße mitmachen. Deutschland ist als Industrienation arbeitsteilig organisiert. Aber für Afrika kann es ein Modell sein. Es ist eine Art Kooperative mit Handwerkern herangewachsen, die sich auf unterschiedlichen Baustellen verdingen, die verdienen Geld für sich und ihre Familien. Die Leute im Dorf haben die Steine selbst hergestellt, den Lehm gegraben, ihn mit dem Zement gemischt.

"Alles, was ich weiß, habe ich in Deutschland gelernt"

Christoph Schlingensief (rechts) und Francis Kéré in Burkina Faso, wo sie Schlingensiefs Operndorf bauten.
Christoph Schlingensief (rechts) und Francis Kéré in Burkina Faso, wo sie Schlingensiefs Operndorf bauten.

© pa/Michael Bogar

In Burkina Faso haben Sie auch Christoph Schlingensiefs Operndorf entworfen. Nicht in der Hauptstadt, sondern im Nirgendwo. Eine Schnapsidee?

Christoph meinte, er wolle nicht in Konkurrenz zu bereits Bestehendem treten. Außerdem hatte die Regierung ihm Grundstücke in reichen Vierteln angeboten, das hat er abgeschlagen. Zwischen Botschaftsgebäuden und den oberen Zweitausend hätte es ihm nicht gefallen. Er wollte etwas Unglaubliches oder scheinbar Unmögliches machen. Ein Theater, das sich zur Savanne öffnet, davon hat er immer gesprochen. Christoph war ein wahrhaftiger Künstler. Wenn er eine Vision hatte, verfolgte er die, egal, was links und rechts von ihm passierte. Architekten sind ja ganz anders, die fragen erst nach dem Fundament, dann nach den Wänden. Er war sehr inspirierend für mich und ist es bis heute.

Wann haben Sie begonnen, sich für Architektur zu interessieren?

In der Schule saßen wir ja in heißen Räumen, die nicht zum Unterrichten geeignet waren. Außerdem lebte ich bei einer Gastfamilie. Es kam oft vor, dass ich am Wochenende als günstige Arbeitskraft Baumaterial heranschaffen musste, mit dem Häuser repariert wurden. Das hat mich geärgert, weil ich nicht wie die anderen Fußball spielen durfte. Wahrscheinlich bin ich groß geworden mit dem Gedanken, eines Tages bessere Häuser zu bauen.

Sie bezeichnen sich gern als deutscher Architekt.

Alles, was ich weiß, architektonisch und technisch, habe ich in Deutschland gelernt. Das hat mich befähigt, in aller Welt zu arbeiten, darunter viel in Afrika. Ich habe mich während des Studiums mit deutschem Mauerwerk beschäftigt, war in Glindow, wo es ein Ziegeleimuseum und eine Ziegelmanufaktur gibt, ich bin durch Bayern gefahren, um mir modernen Holzbau anzuschauen.

Die Münchner Pinakothek hat eine Ausstellung zu Ihrem Werk gezeigt, unter dem Titel „radically simple“. Spiegelt der Name Ihre Philosophie wider?

Diese Bezeichnung stammt von Andres Lepik, dem Direktor des Architekturmuseums der TU München. Ich versuche oft, simple Lösungen zu komplexen Themen zu finden. Ich glaube, man täte gut daran, die Dinge in Deutschland wieder ein bisschen zu vereinfachen. Das ist vielleicht etwas, was ich von meiner Arbeit in Afrika auf die Situation hier übertragen kann. Manchmal hilft es, offen an Sachen heranzugehen, nicht immer von vornherein zu denken, wir wissen sowieso schon alles.

In Berlin planen Sie einen mobilen, temporären Theaterbau auf dem Tempelhofer Feld, auf Initiative von Chris Dercon, dem designierten Intendanten der Volksbühne.

Die runde, amphitheaterähnliche Bühne könnte sich in einem der Hangars befinden, aber auch herausgefahren werden wie ein Flugzeug. Die Theaterleute finden es toll, dass die Struktur so flexibel ist. Die Sitzelemente kann man zum Beispiel wegschieben, wenn man mal einen Riesenraum benötigt. Jetzt fehlt nur noch das grüne Licht vom Senat. Als Techniker habe ich alle nötigen Ingredienzen zusammengefügt. Das Gericht wartet darauf, gekocht zu werden.

Herr Kéré, was hat Ihre Familie gesagt, als Sie beschlossen, nicht mehr Tischler zu sein, sondern Architektur zu studieren?

Die hat das gar nicht mitbekommen. Ich war ja weit weg in Deutschland, und plötzlich kam ich wieder und habe eben gemacht, was ich mache. Manche in Gando wissen nicht genau, was das Wort Architekt bedeutet. Im ganzen französischsprachigen Teil Westafrikas gibt es leider nur eine Hochschule für Architektur, in Togo. Ein französischer Journalist hat mir erzählt, dass er die Kinder in Gando gefragt hat, was sie in der Zukunft machen wollen. Ein paar haben Lehrer geantwortet, die überwiegende Zahl wollte Francis werden. Ich bin ein Beruf.

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