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Lilo Sommer, verzweifelt.

© Mike Wolff

Steuer-Report: Total erledigt

Sie öffnet keine Briefe, fühlt sich verfolgt, völlig überfordert. Das Finanzamt wartet auf seine Steuer – seit Monaten! Der Leidensbericht einer Selbstständigen.

In meinem Treppenhaus steht der Staat. Zwei Polizisten in Uniform, ein Gerichtsvollzieher. Es ist Donnerstagmorgen, ich hole gerade die Zeitung aus dem Briefkasten. Sie sind meinetwegen hier, jetzt ist es so weit. Gleich werden sie mich in meine Wohnung hinauf begleiten und alles pfänden, was etwas wert ist.

Dann werden sie auch die grauen Briefe finden, in einer tiefen Schublade. Umweltpapier, wie es nur die Behörden verschicken. Post vom Finanzamt Friedrichshain-Kreuzberg. Ich habe die Briefe seit Monaten nicht geöffnet. Ich ahne, was drin steht. Ich schulde dem Staat zwei Einkommensquartalszahlungen, ein paar tausend Euro, ich schulde ihm Umsatzsteuervoranmeldungen, ein paar hundert Euro. Dabei hätte ich das Geld eigentlich.

Wenn ich arbeite, Freunde treffe, tanzen gehe, wenn ich schlafe, Rad fahre, reise, dann reisen diese Briefe, diese Zahlen mit mir, die Erinnerung an die übervolle Schublade, die Mahnungen. Manchmal öffne ich meinen Briefkasten tagelang nicht. Manchmal gebe ich das Wort „Zwangsvollstreckung“ bei Google ein. Dann beruhige ich mich: Die Stichtage sind doch erst ein paar Monate her. Andere Leute in meinem Alter haben ein Drogenproblem.

Alles begann vor einem Jahr. Ich wurde freie Journalistin. Ich belegte einen Kurs, „Freiberufler und Finanzen“. Meine Umsatzsteuervoranmeldung, meine Jahresendabrechnung, meine Einnahmen-Überschuss-Rechnung – all diese Worte lernte ich neu – wollte ich künftig allein machen. Gerade am Anfang, hieß es in dem Kurs, könne man sich den Steuerberater sparen. Koste ja mehrere hundert Euro, Freiberufler können keine Lohnsteuerhilfevereine bitten, wer weiß, ob ich genügend Aufträge haben würde. Außerdem, lernte ich in dem Kurs, gehört der Überblick über die eigenen Finanzen zum Erwachsenwerden. Nur wer seine Steuern selbst macht, ist professionell. Ich wollte professionell sein.

Ich lud mir eine kostenlose Probeversion eines Bilanzprogramms herunter, MonKey Office. Ich rief spät nachts einen computerbegabten Freund an, damit er mein Macbook updatet. Es war mit dem neuen Programm nicht kompatibel. Es dauerte Stunden. Ich meldete mich umständlich bei Elster an, dem Portal des Finanzamtes für elektronische Übertragung von Steuerinformationen.

Elster funktioniert nicht intuitiv. Es fragt alle paar Minuten nach meiner Pin, es reagiert nicht sofort auf Klicks, es verträgt sich nicht gut mit dem Browser Firefox, und es verlangt oft ein Java-Update. Ich kann diese Wörter nicht erklären, ich habe etwas mit Politik studiert. Meine computerbegabten Freunde sprechen von einem „Scheißprogramm“.

Monatlich trug ich meine Umsätze in MonKey Office ein, buchte Soll und Haben auf Konten: „Werbungskosten“, „Raummiete“ und „Bewirtung“. Nach Untersuchungen brauchen Durchschnittsdeutsche nur zwischen fünf und acht Stunden im Jahr für die Steuer. Selbstständige viermal so lange. Ich saß allein an der Umsatzsteuervoranmeldung ganze Nächte. Im ersten Jahr musste ich diese monatlich machen.

Ist unsere Autorin aus Versehen kriminell?

Die nächste Voranmeldung zögerte ich ein paar Wochen raus. Was, dachte ich beim Einschlafen, wenn ich Vorteile, die mir zustehen, nicht mitnehme? Man hat ja ein Recht darauf, der geschätzte Steuersatz ist meist zu hoch. Man gibt dem Staat ein zinsloses Darlehen und vermeidet große Nachzahlungen. Kann ich als Journalistin mein Zeitungsabonnement wirklich nicht absetzen? Die Sprache auf den Steuerformularen, auf den Briefen des Finanzamts verstand ich selten. Ich riet einfach, was das Amt wollen könnte. Was, wenn ich als Laie grobe Fehler mache? Wenn ich etwas übersehen habe und das auffliegt? Bin ich aus Versehen kriminell?

Bislang habe ich kein Rendezvous auf dem Bewirtungsbeleg zum Businesslunch gemacht, ich habe keine Kinder, die ich zum Schein bei mir beschäftige, ich habe kein Auto, das ich nur vorgeblich beruflich nutze. Ich will Steuern zahlen, für Kitaplätze und damit die Stadt im Winter Salz aufs Glatteis streut, damit Deutschland Griechenland rettet.

Bei der ersten Verspätung schrieb ich eine Entschuldigung, das Finanzamt verlängerte freundlich meine Frist. Bei der zweiten rief ich an, die Sachbearbeiterin freute sich, mit mir zu sprechen. Unsere Handyverbindung wurde kurz von einer Unterführung unterbrochen, ich rief zurück, sie klang erleichtert: „Ich dachte schon, auch Sie wollen nicht mit mir sprechen.“

Ich kenne niemanden, der seine Steuer gern erklärt. Obwohl der Durchschnittsbürger 850 Euro zurückerhält. Ich sehe meine Eltern unter Quittungshaufen verschwinden, die hässlichsten Sonntage meiner Kindheit waren Steuererklärungssonntage. Wer beim Abendessen „Steuer“ sagt, hat die Stimmung verpestet. Eine Kollegin versteckt Finanzamtbescheide vor ihrem Ehemann.

Die deutsche Steuer gilt als unbezwingbar, das deutsche Steuerrecht als das komplizierteste der Welt. Es soll mehr als 200 Gesetze und 100 000 Verordnungen umfassen. Angeblich ist es damit eines der gerechtesten, es sucht für jeden Einzelfall eine Lösung. Vielleicht habe ich mich überschätzt. Muss ja einen Grund geben, warum immer weniger Gewerbe gegründet werden.

Die Phase der lähmenden Angst beginnt.

Bei mir begann die Phase der Angst, ich war wie gelähmt, Monate vergingen. Andere Menschen haben Ordner, einen mit Gebrauchsanweisungen, einen für Bankgeschäfte und einen für die laufende Steuer. Ich hatte eine Schublade. Da landeten Quittungen von Taxifahrten, Telefonrechnungen, Versicherungsbescheinigungen. Alles, was ich glaubte, absetzen zu können. Wenn die Schublade krachend zufiel, war ich erleichtert. Nachts träumte ich davon, wie die Finanzbeamten über mich lachten.

Als ich das nächste Mal das Bilanzprogramm anklickte, Taschenrechner, Büroklammern und viele, viele Klarsichtfolien bereitlegte, waren schon einige Mahnungen eingegangen. Ich öffnete mir eine Flasche Club Mate, ein Zeichen für eine lange Nacht. Kaum buchte ich 2,40 Euro Transportkosten ein, ein Ticket der BVG, da teilte mir das Programm mit: Lizenz abgelaufen.

Ich recherchierte, welches Programm das richtige ist, das günstigste und mit meinem Computer kompatibel. Ich kaufte ein neues, ich rettete die Daten. Es dauerte Stunden. Als ich den Computer für eine heikle Recherche leer räumte, alle Dateien auf eine externe Festplatte verschob, verlor ich die MonKey-Office-Daten. Das sind keine Hürden, sagte ich mir, das ist das Leben.

Die Briefe vom Finanzamt kamen, ich verbannte sie in die Schublade. Manchmal dachte ich an den Steuerberater: zu teuer, zu intim. Ich wollte mir Ratgeber kaufen, Steuer-, Ordnungs-, Lebensratgeber. Die Schublade wurde voller, die Steuer hatte ich seit Monaten nicht mehr gemacht. Ich dachte an die Geldeintreiber im 16. Jahrhundert, die Türen säumiger Zahler aus den Angeln hoben. Im ägyptischen Sakkara prügelte man mit Stöcken auf Steuersünder ein.

Ich werde mich besser einlesen, nahm ich mir vor, werde Kollegen um Rat fragen und alles richtig machen. Ich tat nichts.

Perfektionismus, sagt Hans-Werner Rückert, sei eine der Hauptursachen fürs Aufschieben. Rückert ist Psychoanalytiker an der FU Berlin, er forscht über Prokrastinierer, Menschen, die unangenehme Dinge aufschieben, den Keller nicht entrümpeln, die Seminararbeiten nicht schreiben, Arztbesuche vermeiden. Menschen wie ich. Dabei bin ich nicht lebensunfähig. Meine Artikel gebe ich pünktlich ab, mein Kühlschrank ist sauber, meine Hemden sind ordentlich gebügelt, Geburtstage vergesse ich selten.

Rückert hört sich meine Geschichte an. Vielleicht, sagt er, suchte ich einfach den Thrill. Die Steuer sei meine einzige Begegnung mit dem Staat, die Säumnis meine kleine Rebellion gegen Bevormundung. „Sie betreiben Gambling. Ein Spiel der Erwachsenen. Sie fordern das Finanzamt heraus. Sie stehen da mit einem roten Tuch, und es rast wie ein Stier auf Sie zu.“ Das „Es“, sagt der Psychoanalytiker, fordert das Über-Ich heraus. Ich erlaube mir eine kindische Seite. Dafür sei ich gern bereit draufzuzahlen, ein kurzfristiger psychologischer Gewinn.

Ich spielte dieses Spiel monatelang. Meine Eltern wussten von nichts. Der Aufschiebe-Experte Rückert schlägt vor, die in Akten eingemauerten Finanzbearbeiter mal zu besuchen. „Damit der Staat ein Gesicht bekommt.“

Das tat er, an jenem Donnerstag im Treppenhaus. Ich begegnete dem Staat, dem Über-Ich in Form der Polizei und des Gerichtsvollziehers. Bloß waren sie nicht wegen mir da. In meinem Haus war eine Leiche gefunden worden.

Eine Stunde später öffne ich zitternd die Briefe. Umweltpapier, einen nach dem anderen. Mahnung 1, Mahnung 2, Mahnung 3. Säumniszuschlag 14 Euro, Säumniszuschlag 45 Euro, Säumniszuschlag 100 Euro. Das Finanzamt wird mit jedem meiner Fehler unnachgiebiger. Ich zahlte alles. Andere kaufen sich ein teures Paar Schuhe, ich zahle Verspätungszuschläge.

Der letzte Brief, den ich öffne, ist eine Vollstreckungsankündigung.

Ich habe jetzt eine Steuerberaterin.

Lilo Sommer

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