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Nilofer Merchant kam mit vier Jahren als Kind indischer Einwanderer nach Kalifornien. Ihre Karriere begann bei Apple.

© tech.co

Top-Managerin Nilofer Merchant: "Ich bin mit meinem Laptop verwachsen"

Warum gibt es eigentlich so viele Lieferservice-Apps? Nilofer Merchant, Spitzname "Jane Bond of Innovation", hat eine simple Erklärung dafür.

Frau Merchant, wie geht es Ihrem Hintern?

Danke, ganz gut. Ich habe mich heute viel bewegt. Leider regnet es, sonst hätte ich Sie zu einem Walk-and-Talk-Meeting eingeladen.

Wir hätten also einen Spaziergang gemacht, statt im Hotel Intercontinental auf dem Sofa zu sitzen. Sie sind eine große Verfechterin der Bürobewegung.

Ja. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass wir zur ersten Generation, die länger sitzt als schläft, gehören? Den ganzen Tag krümmen wir uns um ein kleines Gerät herum, verlieren dabei vollkommen die Verbindung zu unserem Körper.

Bei Ihnen ist das extrem. Sie sind Autorin, vorher waren Sie über 20 Jahre lang Teil der Computerindustrie Kaliforniens.

Beim Schreiben bin ich mit meinem Laptop verwachsen. Runde Schultern, kleiner Buckel – für mein jüngstes Buch arbeitete ich verbissen auf meine Deadline hin. Ich hatte mich dafür nach Frankreich zurückgezogen, doch es lief nicht so gut. Als ich fast fertig war, geschahen in Paris die Anschläge vom 13. November 2015. Ich dachte: Was, wenn dieses halbgare Buchprojekt am Ende alles ist, was von mir bleibt? Also begann ich noch mal von vorn.

Sie haben alles gelöscht?

Ja. Dann nahm ich weiße, leere Blätter und schrieb mit der Hand, mit meinem Namiki-Füller. Plötzlich ging es wieder.

Viele haben inzwischen verlernt, mit der Hand zu schreiben.

Schade. Möchte ich eine berührende Geschichte erzählen, habe ich das Gefühl, mit Tinte und Papier ganz andere Bewusstseinsstufen zu erreichen. Die professionelle Fassade, die ich mir für die Geschäftswelt errichtet habe, bröckelt dann.

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Im Silicon Valley nennt man Sie die „Jane Bond of Innovation“. Warum?

Ich habe für viele große Unternehmen gearbeitet: Apple, AutoDesk, Yahoo, GoLife, das von Adobe gekauft wurde. In Gesprächen hörte ich oft: „Nilofer, du bist für uns so eine Art MacGyver, ein James Bond … Du hast uns geholfen, etwas zu erreichen, von dem wir dachten, dass es unmöglich ist.“ Einer Freundin fiel auf, dass diese Referenzen ausnahmslos männlich sind. Sie meinte: „Du bist nicht der Bond, du bist die Bond.“ Sie erinnerte mich daran, dass Weiblichkeit nicht die Antithese zu Stärke ist.

„Jane Bond“ – das ist auch nur die Vereinnahmung eines männlichen Prototyps.

Niemand wüsste das besser als ich. Ich liebe Bond. Die 25-DVD-Sammlung steht bei mir im Schrank! Na ja, der Spitzname ist wahrscheinlich eine Prägung der in den 80er Jahren vorherrschenden Schulterpolster-Generation.

Der was?

Damit meine ich die Geschäftsfrauen, die mit wattierten Schultern und in zweireihigen Jacketts auftraten und so ihre männlichen Kollegen imitierten, statt einen eigenen Weg zu finden. Ohne maskulines Auftreten wären die Frauen allerdings gar nicht gehört worden. Schauen Sie sich Hillary Clinton an: Sie wird heute noch für das verurteilt, was sie damals gelernt hat.

Unterscheiden Sie am Arbeitsplatz zwischen männlichen und weiblichen Verhaltensweisen?

So etwas wie typisch weibliches oder typisch männliches Führungsverhalten gibt es nicht. Das sind einengende Stereotypen. In den USA redeten wir nach der Wahl viel über riesige Gruppen: Stadtmenschen gegen Landbevölkerung, Frauen gegen Männer und so weiter. Wir analysieren die Demografie, statt uns um die konkrete Person kümmern, die vor uns steht. Wer ist sie? Was macht sie – mit der Summe ihrer Eigenschaften, ihrer Vergangenheit, ihren Hoffnungen, Visionen – so einzigartig?

Dieses Konzept nennen Sie „Onlyness“. Es ist Gegenstand Ihrer „Ted Talks“, die Sie regelmäßig vor großem Publikum geben. Sind Sie eine Wanderpredigerin des digitalen Zeitalters?

Was? Nein.

Neulich haben Sie in einem Nebensatz erwähnt, dass Roger Moore Mieder trug – und sich dann auf dem Podium für Ihren „Mädchenkommentar“ entschuldigt. Hatten Sie Angst, dass Ihre Zuhörer „Spanx“ nicht verstehen?

Genau. Oft spreche ich vor einem Publikum, das zu über 70 Prozent aus Männern besteht. Die will ich irgendwie bei der Stange halten. Also muss ich mich mitfühlend geben und die Welt der Frauen erklären. Schon aufgefallen? Männer erklären ihre kulturellen Referenzen so gut wie nie. Die betrachten sich einfach selbst als Norm. Glauben Sie mir, ich sitze auch sehr oft als einzige Frau da oben, und ich kann Ihnen bis auf die Nachkommastelle ausrechnen, wie groß der männliche Redeanteil ist.

"Gerechte Bezahlung gibt es nicht"

Die Autorin mit Bob Safian von Fast Company 2015 während des SXSW-Festivals in Austin, Texas.
Die Autorin mit Bob Safian von Fast Company 2015 während des SXSW-Festivals in Austin, Texas.

© AFP

Wissen Sie eigentlich noch, wie Sie Ihr erstes Geld verdient haben?

Als kleines Mädchen pflückte ich Aprikosen auf den Obstwiesen, auf denen später Apple errichtet wurde. Mein Bruder stand unten mit einem großen Netz, meine Schwester klemmte in der Krone des Baums, und ich hing irgendwo in der Mitte. Wir wurden nach Kiste bezahlt. Pro Dollar bekam mein Bruder 60 Cent, weil er die größte Verantwortung trug, meine Schwester 30 Cent, weil es für sie gefährlich war – und ich bekam zehn Cent, weil ich die Jüngste war.

Wie ungerecht!

Gerechte Bezahlung gab’s damals nicht und gibt es heute immer noch nicht.

Haben Sie etwas daraus gelernt?

Lachen Sie bitte nicht. Mit elf trat ich einem Club bei, er hieß „The Future Business Leaders of America“. Irgendwann rief jemand den Schuldirektor an und wollte wissen, welcher seiner Schüler der beste Buchhalter ist. Er vermittelte ihn an mich. Der Mann hatte einen Direktvertrieb für Alltagswaren aus seiner Garage in der Nachbarschaft und suchte jemanden, der ihm half. Das brachte mir stolze zwölf Dollar die Stunde.

Für Kinderarbeit.

Hm. Zwölf Dollar die Stunde! Aufregend! Meine Freunde bekamen für ihre Jobs nur drei Dollar.

Sie schwammen in Geld. Wofür haben Sie es denn ausgegeben?

Meine Mutter war alleinerziehend mit mir und meinen beiden älteren Geschwistern, also trug ich selbstverständlich zum Haushaltseinkommen bei. Es gefiel mir, Verantwortung zu übernehmen. Ich machte echt gern Geschäfte, verstand schnell, wie das funktionierte, und war ganz gut darin. Irgendwann überredete ich meine Mutter zu unserem ersten Apple-Computer mit 256 Floppy K. Damit schrieb ich einen Newsletter, den mein Chef an seine Kunden verteilte. Meine Güte, all die Schriftarten! Ich habe dafür 20 verschiedene benutzt.

Sie sind die Tochter indisch-muslimischer Einwanderer. Fühlen Sie sich in dieser Kultur zu Hause?

Heute bin ich nicht mehr religiös. Aufgewachsen bin ich in einer patriarchalen Kultur, in der Männer einfach alles entschieden haben. Es hat sehr lange gedauert, bis ich wirklich begriffen habe, dass es auch anders sein kann.

Wie lange?

Bis in meine 30er hinein.

Wirklich? So lange?

Ein Beispiel: Als ich mit Anfang 20 bei Apple anfing, fiel mir irgendwann auf, dass in Konferenzen zwar immer ausgiebig diskutiert, aber nie etwas entschieden wurde. Ich wurde einfach ignoriert. Das nahm ich eine Weile so hin, dann fragte ich einen Kollegen: „Sag mal, wo werden hier die Entscheidungen getroffen?“ Er lachte nur und erzählte mir vom „Beer Bust“, den Apple jeden Freitag ab 17 Uhr veranstaltete. Fortan griff ich mir also einmal pro Woche ein Bier und arbeitete mich quer durch den Raum.

Mögen Sie überhaupt Bier?

Nein. Ich dachte, das läuft eben so, also muss ich mitmachen. Es nervt mich, wie viel Zeit vergeht, bis man begreift: Nur weil etwas so ist, wie es ist, muss es nicht so bleiben. Es liegt in deiner Hand, dir Mitstreiter zu suchen und es zu verändern.

Jetzt klingen Sie wie eine Motivationstrainerin.

Ja? Ich verschweige aber auch nicht, dass es nicht leicht ist, Dinge auszusprechen, die für andere unbequem sind. Oder angegriffen zu werden.

Und wie gehen Sie damit um?

Vor diesem Interview habe ich Ihnen von meinem Netzwerk aus hunderten Frauen erzählt, das wie ein E-Mail-Verteiler funktioniert. Das ist meine Oase der Unterstützung. Es gibt dort immer Menschen, die ich um Rat fragen kann – da sind dann unmittelbar 15 bis 20 Hirne, die mir helfen, das Geschehene zu entschlüsseln. Oder die sagen: „Hey, genau das ist mir auch schon mal passiert.“

"Viele leben in einer Blase aus Lügen"

Talentschmiede. Nilofer Merchant fürchtet, die Stanford Universität werde zu einer Handelsschule fürs Silicon Valley.
Talentschmiede. Nilofer Merchant fürchtet, die Stanford Universität werde zu einer Handelsschule fürs Silicon Valley.

© imago

Wann haben Sie dieses Netzwerk zuletzt bemüht?

Ich hatte einem Fachmann ein Manuskript zu lesen gegeben, an dessen Urteil mir viel lag. Er schrieb mir dann auch einen sechsseitigen Brief. Leider stufte er ein Kapitel als komplett irrelevant ein – ausgerechnet das Kapitel, in dem ich die Arbeiten einer seiner alten Freunde, wie ich finde, sehr respektvoll als überholt entlarve. Wie ich es wagen könne! Der Mann war extrem aufgebracht. Ich nahm mir das sehr zu Herzen.

Was sagte das Netzwerk?

Eine bekannte Schriftstellerin antwortete: „Hört sich an, als reagiere er aus Neid auf dich so heftig. Und Neid ist nichts Schlechtes.“

Auf diese Weise kann man natürlich jede Kritik für nichtig erklären.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will ja unbedingt lernen, sauge jedes Wort auf, das mich besser machen könnte. Trotzdem war der Mann nur reflexhaft auf der Palme, weil ich einen seiner Kumpels herausgefordert hatte.

Was war die schlechteste Idee, die Sie bisher hatten?

Eine? Ich hatte Hunderte superschlechte Ideen. Daran erkennt jeder besonders kreative Köpfe: Die haben einfach insgesamt viel mehr Ideen, deswegen ist halt der Anteil des Irrsinns um ein Vielfaches größer.

Wie haben Sie Ihr persönliches Annus horribilis überlebt, als Sie in einer Woche von AutoDesk gefeuert und auch noch von Ihrem damaligen Ehemann geschieden wurden?

Ich holte mir Inspiration bei der Stanford-Professorin Carol Dweck. In ihrem Buch „Mindset“ spricht sie von der „starren Denkweise“ und der „lernenden Denkweise“. Ich entschied mich für Letzteres. Ja, ich hatte versagt – und doch ahnte ich, dass ich die Kraft habe, mich Schritt für Schritt wieder aus dem Schlamassel zu ziehen. Diese Erkenntnis gibt einem auch größere Freiheit, zukünftig etwas in den Sand zu setzen.

Eigentlich hassen Sie doch Stanford?

Ich hasse es nicht. Ich fürchte nur, dass Stanford zu einer Handelsschule fürs Silicon Valley wird, durch die die Studenten schnell durchgeschleust werden, um mit ihren Start-ups noch mehr Food-Delivery-Apps zu entwickeln.

Bringdienste erleichtern uns doch allen das Leben, was ist so schlimm daran?

Ich habe gezählt: Es gibt 1100 solcher Apps. Na, wer will der 1101. sein? Das sind Lemminge. Wir reden hier über Innovation, und dann entwickeln die schlausten Köpfe im Valley Lösungen für Probleme, die früher ihre Mütter für sie aus der Welt geschafft haben. Essen kochen, gebügelte Hemden vorbeibringen, Fotos teilen – alles Apps, die von Mittzwanzigern erfunden wurden, die keinen blassen Schimmer von Haushaltsführung haben.

Und was ist Ihrer Meinung nach das drängendste Problem unserer Zeit?

Dass die Menschen im Herzland unserer Nation nur noch die Nachrichten konsumieren, die sie auch hören und lesen wollen. Viele von ihnen leben in einer Blase aus Lügen und Verschwörungstheorien. Niemand stoppt sie: Hey, das ist falsch! Unbequemes kann man mit einem Federstrich ausblenden und wird nie wieder von anderen Meinungen behelligt. Und Facebook sagt: Wo ist das Problem?

Gab es einen bestimmten Moment in Ihrer Karriere, in dem Sie gemerkt haben: Ich bin Teil einer Revolution? 

Als ich meine erste Website programmierte, das muss 1996 gewesen sein. Ich betrat die Firmenzentrale von „Time Warner“ mit einer kleinen Präsentation, die nur aus zwei oder drei Seiten bestand. Dann stellte ich mich hin und sagte: „Sie sollten sich mal überlegen, mehr Geld in Ihre digitale Präsenz zu stecken.“ – „Wirklich? Ach, nein.“ – „So können die Leute direkt auf Inhalte zugreifen, und Sie sparen Druckkosten.“ Die musterten mich, als sei ich eine Verrückte.

Und jetzt fühlen Sie Genugtuung?

Das nicht. Aber ich denke in letzter Zeit häufig an diese ersten Gespräche mit Medienunternehmen. Warum haben die so lange gebraucht, zu begreifen, was da passiert? Das frustriert mich heute noch.

Welche Erfindung haben Sie damals unterschätzt?

Meinen sogenannten Laptop. Er wog fünf Kilo. Ich schleppte ihn fluchend durch den Flughafen von Toronto und war mir ganz sicher: Das ist das dümmste Ding der Welt.

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