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Großmutter und Enkelin.

© Foto: Matilde Gattoni/Tandem Reportages

Vermisste Flüchtlinge aus Kamerun: Sie sollen doch einfach wieder zurückkommen

Tausende Menschen fliehen auf gefährlichen Wegen aus Kamerun Richtung Europa. Zurück lassen sie besorgte Geschwister, Großeltern, Ehepartner, Kinder und Freunde – oft ohne ein Wort des Abschieds. Hier erzählen sechs Angehörige vom Hoffen und Warten.

Vermisst: Laura Keutchakeu
Seit: Dezember 2015

Alter heute: 23 Jahre

Heimatort: New Bell, Douala

Interviewte: Emilienne Nana, Großmutter, 73

„In Afrika denken wir, dass es in Europa so viel Geld gibt, dass man es von der Straße auflesen kann. Uns ist nicht klar, wie hart man sich seinen Lebensunterhalt dort erarbeiten muss.“ Als ihre inzwischen 23 Jahre alte Enkelin Laura Keutchakeu Kamerun verließ, um ihren Abschluss in Frankreich zu machen, war Emilienne Nana betrübt. Gleichzeitig freute sie sich für das „kleine Baby“, das sie seit der Geburt aufgezogen hatte. „In Frankreich schafft es nicht jeder“, wiederholt sie immer wieder, um die Leistung von Keutchakeu zu betonen.

„Zuerst lief alles gut“, erzählt die Großmutter. „Sie beendete die Oberschule, bekam danach ein Kind mit einem Franzosen. Aber vor drei Jahren nahm ihr der Mann das Baby weg.“ Seitdem, versichert Nana, sei das Leben ihrer Enkelin dermaßen aus den Fugen geraten, dass sie den Kontakt zueinander verloren haben.

„Soweit ich weiß, lebt sie als Hausbesetzerin und arbeitet höchstens zwei bis drei Wochen am Stück“, sagt Emilienne Nana. Ihre Stimme wird brüchiger, je mehr Details sie erzählt. „Zuletzt hat Laura mich vor mehr als einem Jahr angerufen. Sie sagte: Ich melde mich nicht bei dir, weil das Leben hier nicht so gut ist.“

Emilienne Nana: „Laura hat in meinem Haus laufen gelernt. Sie sollte zurückkommen.“
Emilienne Nana: „Laura hat in meinem Haus laufen gelernt. Sie sollte zurückkommen.“

© Matilde Gattoni/Tandem Reportages

Nanas Gesicht hellt sich nur kurz auf, als sie alte Fotos von Laura hervorholt. Ihr bescheidenes Haus in einem Arbeiterviertel von Douala, der größten Stadt Kameruns, ist voller Erinnerungsstücke, von den Fotos ihres Sohnes bis hin zu den Bildern, die Laura als kleines Mädchen gemalt hat. Seit ihr Sohn vor einigen Jahren verstarb, ist die 73-jährige Frau die einzige nahe Verwandte, die der Enkelin geblieben ist. „In diesem Haus hat sie ihre ersten Schritte gemacht. Deshalb schmerzt es mich so sehr, dass ich weiß, wie hart ihr Leben in Europa ist.“

Trotzdem wartet die Greisin geduldig auf den Tag, an dem Laura wieder ein Lebenszeichen von sich geben wird. „Ich habe keine Ahnung, wie sie in Frankreich durchkommt, wie sie sich tagtäglich ernährt.“ Sie solle doch einfach wieder zurückkommen, wenn dort alles so schlecht sei, habe sie ihr einmal gesagt. „Was soll ich denn in Kamerun machen?“, hat Laura geantwortet.

Nana hatte keine Antwort.

Er ging, ohne ein Wort zu sagen

Richard Tchakunte, Appell an den Sohn: „Wenn du Geld für deine Rückkehr brauchst, ruf mich, deinen Vater, an.“
Richard Tchakunte, Appell an den Sohn: „Wenn du Geld für deine Rückkehr brauchst, ruf mich, deinen Vater, an.“

© Matilde Gattoni/Tandem Reportages

Vermisst: Fabrice Gantat Tchakunte
Seit: März 2015

Alter heute: 19 Jahre

Heimatort: Essos, Yaoundé

Interviewter: Richard Tchakunte, Vater, 50

Richard Tchakunte versinkt in seinem abgenutzten Sofa. Er ist kein Mann, der seine Gefühle zeigt. Und doch verraten seine Augen, wie sehr Tchakunte leidet. Es sind die Augen eines Mannes, der sich von seinem eigenen Sohn verraten fühlt. „Er hat früher immer gesagt, dass er irgendwann nach Europa geht. Aber wir haben ihn nicht ernst genommen“, erzählt er mit ungläubiger Stimme.

An einem Abend im März 2015 stahl sein damals 18 Jahre alter Sohn Fabrice Gantat Tchakunte 180000 CFA (rund 275 Euro) vom Ersparten seiner Mutter und verließ Kamerun. Er ging, weil er „um sein Leben kämpfen“ wollte – einer der Ausdrücke, die Einheimische wählen, wenn sie über die gefährliche Reise sprechen, die Flüchtlinge zur europäischen Küste antreten. „Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, war mittags an diesem Tag. Er war zum Essen gekommen. Danach ging er, ohne ein Wort zu sagen“, berichtet der Vater.

Fabrice hat seitdem nie wieder Kontakt zu seiner Familie aufgenommen. Vielleicht, weil ihm etwas Ernstes zugestoßen ist, vielleicht auch, weil er sich für sein Handeln schämt. Sein Vater weiß es nicht. Diese Ungewissheit verfolgt ihn seit zwei Jahren. Dass sein Sohn wirklich gegangen ist, hat Tchakunte von dessen Freunden erfahren. „Er rief sie an, nachdem er gegangen war. Er rief sie an, aber seinen eigenen Vater nicht“, wiederholt er. Während seine jüngeren Kinder in dem baufälligen Haus in Essos, einem Viertel in Kameruns Hauptstadt Yaoundé, spielen, versucht der arbeitslose Vater, sein Leben in den Griff zu bekommen. „Die Geschwister von Fabrice fragen nach ihm. Sie sagen zu mir: Papa, möglicherweise ist er in England. Er hat doch immer über England gesprochen.“

Richard Tchakunte's Brief an seinen Sohn.
Richard Tchakunte's Brief an seinen Sohn.

© Matilde Gattoni/Tandem Reportages

In den Augen des Vaters sammeln sich jetzt Tränen. „Ich habe an dem Tag, als er gegangen ist, aufgehört zu existieren. Er ist mein ältester Sohn“, bekommt er gerade noch heraus. Dann verfällt Tchakunte in Schweigen. Immerzu wartet er auf Nachricht von Fabrice. Nach einer kurzen Pause spricht er weiter: „Mein Sohn wusste, dass ich diese Idee nicht gutheißen würde. Tag und Nacht bete ich, hoffe, dass er okay ist, und ihm nichts Schlimmes passiert.“

Eigentlich weiß Tchakunte, dass Flüchtlinge wie sein Sohn ihren Familien höchst selten von ihren Plänen erzählen. „Es ist so frustrierend, so entmutigend“, sagt er mit immer lauter werdender Stimme. „Nach all dem Leid, das ich seinetwegen ertragen musste, ist es so schmerzhaft, dass er ohne Abschied gegangen ist.“ Dann blitzt kurz Hoffnung in seinem Gesicht auf. Wie um sich selbst Mut zu machen, erzählt er die Geschichte eines Nachbarn, der ebenfalls nach Europa aufgebrochen war. Auch von ihm hatte die Familie nicht wieder gehört. Nach acht Jahren kam er zurück.

Sie hegt keinen Groll gegen ihren Mann

Lady Njoya, Bericht an den Mann: „Wir mussten umziehen, deine Familie hat mich und die Kinder rausgeworfen. Du fehlst mir.“
Lady Njoya, Bericht an den Mann: „Wir mussten umziehen, deine Familie hat mich und die Kinder rausgeworfen. Du fehlst mir.“

© Matilde Gattoni/Tandem Reportages

Vermisst: Ismael Njoya
Seit: Dezember 2015

Alter heute: 47 Jahre

Heimatort: Commando X, Douala

Interviewte: Lady Njoya, Ehefrau, 31

Seit dem Tag, an dem wir uns das erste Mal trafen, wollte er fortgehen. Und auch nachdem wir schon neun Jahre zusammen gelebt hatten, wusste ich, dass er es eines Tages wirklich tun würde.“ Lady Njoya ist eine Frau, die an ein Leben voller Entbehrung, Unsicherheit und mit wenig Freuden gewohnt ist. Ihre leise Stimme und ihr demütiges Wesen zeugen davon.

Bis vor einem Jahr lebte die kleine Frau gemeinsam mit ihrem Mann, dem heute 47-jährigen Ismael Njoya, und ihren drei Kindern in Kameruns Hauptstadt Yaoundé. Nachdem er die Familie verlassen hatte, zog sie nach Douala, in ein winziges Haus in einer Arbeitergegend. Die wenigen Francs, die sie mit dem Verkauf von Nippes verdient, gehen drauf, um ihre Kinder zu versorgen. „Wenn sie angezogen und satt sind, ist nicht mehr viel übrig“, sagt sie.

Lady Njoya's Brief an ihren Ehemann Ismael.
Lady Njoya's Brief an ihren Ehemann Ismael.

© Matilde Gattoni/Tandem Reportages

Obwohl sie so frustriert ist, hegt sie keinen Groll gegen ihren Mann, der ihr nicht einmal verraten hatte, wohin er sich eigentlich aufgemacht hat.

„Ich weiß nur, dass er davon geträumt hat, nach Amerika zu gehen“, sagt sie. „Er liebt seine Kinder und war ihnen immer ein verantwortungsvoller Vater. Sie fragen ständig nach ihm. Ich sage dann, dass er bald zurückkommen wird.“

Ein Freund postete auf seiner Facebookseite: Ruhe in Frieden

Emilia Ngabi, Erklärung an den Bruder: „Wir glauben, dass du lebst. Du bist wie ein Vater für mich. Deine Schwester Emilia.“
Emilia Ngabi, Erklärung an den Bruder: „Wir glauben, dass du lebst. Du bist wie ein Vater für mich. Deine Schwester Emilia.“

© Matilde Gattoni/Tandem Reportages

Vermisst: Leonge Ngabi
Seit: Mai 2016

Alter heute: 25 Jahre

Heimatort: Etoug-Ebe, Yaoundé

Interviewte: Emilia Ngabi, Schwester, 21

Wenige Tage nach Neujahr 2015 verabschiedete Emilia ihren 25-jährigen Bruder Leonge Richtung Europa. Schon beim Neujahrsfest hatte er sich merkwürdig verhalten, alle umarmt und sich mit ihnen fotografieren lassen. „Als wüsste er, dass er uns nie wieder sieht“, erzählt sie. Während Leonge Nigeria durchquerte, dann Niger und schließlich Algerien, hielt er engen Kontakt zu seiner Schwester. „Ich habe ihn so oft angefleht, zurückzukommen, aber er war entschlossen, zu gehen“, sagt sie und bricht in Tränen aus. „Ich habe immer zu ihm aufgeschaut wie zu einem Vater.“

Emilia Ngabi's Brief an ihren Bruder.
Emilia Ngabi's Brief an ihren Bruder.

© Matilde Gattoni/Tandem Reportages

Leonges Entscheidung hatte Folgen für das Leben seiner Schwester, einer guten Studentin. Als er in Niger festgenommen wurde, weil er keine Papiere hatte, benutzte die Familie Emilias Studiengebühren, um ihn freizubekommen. „Wegen ihm konnte ich nicht zur Uni.“ In Emilias Stimme klingt Ärger mit. Im Mai 2015 starb ihr Vater und sie musste zu ihrem Onkel ziehen. Leonge hörte davon, setzte seine Reise aber dennoch fort. Fast ein Jahr später, im Mai 2016, rief er aus Libyen an. Er werde in wenigen Tagen nach Italien übersetzen. Emilia versuchte alles, um ihren Bruder von dieser besonders gefährlichen Route abzuhalten. „Ich bat ihn, es von hier auf anderem Wege zu versuchen, doch er hatte zu oft kein Visum bekommen.“

Es war das letzte Mal, dass sie seine Stimme hörte. Sein Telefon blieb ausgeschaltet. Sie kontaktierte seine Freunde, prüfte regelmäßig, ob er etwas in den sozialen Medien veröffentlicht hatte. Am 24. Mai um 11.30 Uhr postete ein Freund auf Leonges Facebookseite: Ruhe in Frieden. Er erzählte ihr, dass Leonges Boot gekentert sei. Leonge konnte nicht schwimmen. Manche der Freunde erzählten Emilia, ihr Bruder sei nun in Italien begraben, andere sprachen von Libyen. Doch Emilia sucht immer noch, egal, wie unwahrscheinlich es scheint. „Ich kann es nicht glauben, solange ich seine Leiche nicht gesehen habe.“

Sein Wunsch war, in Europa von vorne anzufangen

Bitte an den Bruder: „Ich erfahre nichts Neues von dir, ich weiß nicht, was ich unseren Eltern sagen soll.“
Bitte an den Bruder: „Ich erfahre nichts Neues von dir, ich weiß nicht, was ich unseren Eltern sagen soll.“

© Matilde Gattoni/Tandem Reportages

Vermisst: Atyame Levi Maginot Colens
Seit: Mai 2016

Alter heute: 37 Jahre

Heimatort: Biyem-Assi, Yaoundé

Interviewter: Yves Ngamia, Bruder, 34

Yves Ngamia und seine Geschwister wissen genau, was es bedeutet, zu einem Abenteuer aufzubrechen. Der 34-Jährige hatte sich vor einigen Jahren selbst auf den Weg nach Europa gemacht. „Als ich nach ein paar Fehlversuchen zurückkam, beschimpfte mich mein älterer Bruder: Du hattest nicht den Mumm weiterzumachen.“ Nach Ngamias Rückkehr gelang es seiner 31-jährigen Schwester nach Deutschland zu fliehen, wo sie bis heute lebt. Sein älterer Bruder, Atyame Levi Maginot Colens, hat Kamerun im Dezember 2014 verlassen.

Zuvor hatte Colens in der Hauptstadt Yaoundé auf dem Schwarzmarkt gearbeitet, sein Wunsch, in Europa von vorne anzufangen, wurde täglich stärker. Ngamia befürchtet, ihm ein schlechtes Vorbild gewesen zu sein. „Ich bin sauer, dass ich ihn nicht überzeugen konnte hier zu bleiben und sich fortzubilden“, sagt er.

Yves Ngamia's Brief an seinen Bruder Atyame Levi Maginot Colens.
Yves Ngamia's Brief an seinen Bruder Atyame Levi Maginot Colens.

© Matilde Gattoni/Tandem Reportages

Das letzte Mal hat er vor neun Monaten von seinem Bruder gehört. Er ist inzwischen sehr besorgt. Seine schlimmste Befürchtung, er könnte auf der Route gestorben sein, hat er noch nicht mit seiner Familie geteilt. Er betet für Colens. Zuletzt sei er in Libyen gewesen, dort sei Kommunikation schwierig, vielleicht lebe er also noch.

„Die Leute denken, Europa ist ein Eldorado, aber es ist ein Traum, der sich in den Tod verwandeln kann. Für viele, die gehen, ist Scheitern keine Option. Entweder schaffst du es oder du stirbst.“

Er hofft, sein Freund sitzt vielleicht nur im Gefängnis

Michel Platini Weladji, Notiz an den Freund: „Mein Bruder, ich schreibe dir, damit du weißt, dass ich an dich denke.“
Michel Platini Weladji, Notiz an den Freund: „Mein Bruder, ich schreibe dir, damit du weißt, dass ich an dich denke.“

© Matilde Gattoni/Tandem Reportages

Vermisst: Paul Alain Mbingan
Seit: 2013

Alter heute: 28 Jahre

Heimatort: New Bell, Douala

Interviewter: Michel Platini Weladji, Freund, 28

Michel Platini Weladji ist Fußballer und einer, zu dem die Jugendlichen in New Bell, seinem Viertel in Douala, aufschauen. Zwischen 2012 und 2014 versuchte er wie zehntausende andere afrikanische Migranten, das Mittelmeer nach Europa zu überqueren. Wenigstens sechs Mal wagte er es. Beim letzten Versuch schlug das Boot leck.

Zwölf Stunden stand den Menschen auf dem Achterdeck das Wasser bis zum Hals. „Glücklicherweise war es Sommer, und die Tage waren so lang, dass die Küstenwache Zeit genug hatte, uns zu finden. Uns war allen klar, dass wir die Nacht nicht überleben würden.“ Wledaji entschied damals, sein Leben nicht erneut zu riskieren und zurück nach Kamerun zu gehen.

Zahlreiche seine Freunde jedoch haben es weiter probiert. Einigen ist es gelungen, einige sind verstorben, andere verschwunden, so wie Paul Alain Mbingan. „Wir standen uns nah, er war ein Anführer. Eigentlich wollten wir zusammen gehen, aber als er aufbrach, war ich noch nicht bereit“, erzählt Weladji.

Michel Platini Weladji's Brief an seinen Freund Paul Alain Mbingan.
Michel Platini Weladji's Brief an seinen Freund Paul Alain Mbingan.

© Matilde Gattoni/Tandem Reportages

Trotzdem hielten die zwei Kontakt über Facebook. Mbingan schaffte es nach Marokko, doch nach einiger Zeit wurde er von der Regierung zurück nach Mali geschickt. „Das letzte Mal, als wir Nachrichten austauschten, war er in Bamako und arbeitete, um Geld für die neuerliche Reise nach Marokko zusammenzubekommen“, sagt Weladji. „Dann verschwand er von einem Tag auf den anderen.“ Drei Jahre ist das nun her. Auch seine Familie weiß nichts über sein Schicksal.

„Vielleicht ist er gestorben und liegt nun in einem Massengrab“, sagt Weladji. Das geschehe häufig. Seine Hoffnung ist, dass sein Freund vielleicht nur im Gefängnis sitzt. „Darüber würde niemand sprechen, weil es Schande über die Familie brächte, aber viele begehen unterwegs Diebstähle oder andere Straftaten, um zu überleben“, erklärt er. Manchmal müsse man unterwegs auch um Almosen bitten oder sehr demütigende Jobs annehmen, um etwas zu essen zu haben. „Viele Migranten sprechen niemals darüber. Sie bewahren die Geschichten tief im Herzen.“

Matteo Fagotto

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