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Zurückgeblieben. Wenn die Kinder ausziehen, bleiben manche Dinge in der Wohnung.

© Thilo Rückeis

Wenn die Kinder ausziehen: Zimmer frei

Sie dachte immer: Wenn die vier Kinder mal aus dem Haus sind, habe ich Zeit und Platz. Als zwei ausziehen, erwischt es sie kalt. Über die Gefühle einer Mutter.

Was hast’n eigentlich mit meinem Zimmer vor? Die Frage steht in der SMS, die meine Tochter mir geschickt hat, ein paar Stunden, nachdem sie den Inhalt ihres Kinderzimmers in einem geliehenen VW-Bus verstaut hat und winkend in ihr eigenes Leben aufgebrochen ist. Ach, Kind. Gute Frage. Nächste Frage. Die Wahrheit ist: Ich habe keine Ahnung. Aber weil ich das nicht zugeben will, schreibe ich leichthin zurück: „Mal sehen. Eilt ja nicht!“

Nur wenige Dinge erschüttern eine Mutter nachhaltiger als die Erkenntnis, dass es ein Leben ohne Kinder gibt. Sogar ein heimlich herbeigesehnter oder gefürchteter, am Ende tränenlos und rundum vernünftiger Abschied, egal, ob kalt erwischt oder lange vorbereitet, kann sie völlig am Boden zerstören. Kein Wunder, dass ich mich plötzlich so ertappt fühle, als diese SMS punktgenau inmitten meiner lähmenden Unentschlossenheit landet. Ich habe vier Kinder. Wo der erste Auszug die Platznot beendete – der kleine Bruder zog ins Zimmer des großen –, reißt der zweite Umzug eine Lücke in die Familienwohnung. Zwei Kinder weg, das dritte auf dem Sprung und wenn in anderthalb Jahren der Jüngste das Abi in der Tasche hat, werden alle Abschiede und Auszüge geschafft sein.

Ist doch nichts dabei, bringe ich meine Gefühle auf den Stand der Dinge. Weil Mütter ihre Kinder nie verlassen würden, müssen die Kinder eines Tages die Mütter verlassen. So haben es mir jedenfalls die beiden Großen erklärt. Jahrelang habe ich mir Zeit für mich gewünscht, Ruhe herbeigesehnt, Ordnung und genug Platz, um vier Streithähne in ihre vier Zimmer zu schicken und mich in ein fünftes, ruhiges zurückzuziehen. Zeit, Ruhe, Ordnung und Platz habe ich nun im Überfluss. Und wünsche mir das Gegenteil.

Was mache ich eigentlich mit den leeren Kinderzimmern? Gästezimmer oder Gedenkstätten einrichten? Für jedes Kind einen lebenslangen Liegeplatz im sicheren Hafen freihalten, falls etwas schiefgeht mit dem selbstständigen Leben? Oder wenn gar alle vier wieder auf der Matte stünden, würden wir dann eine Wohngemeinschaft mit Putzplan, Kochliste und Haushaltskasse gründen?

„Pah, träum weiter!“, haben meine Kinder wie aus einem Mund gerufen, als ich zum Spaß diese Möglichkeit erwähnte. Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich zu meiner Mutter dasselbe gesagt, kurz bevor ich in einen klapprigen VW-Bus stieg, um in mein eigenes Leben aufzubrechen und vorsätzlich mein altes Kinderzimmer nie wieder zu betreten. Danach hat sie drei Monate nichts von mir gehört. So lange hat es gedauert, bis ich einen Telefonanschluss in meiner neuen Wohnung hatte. Auf die Idee, ihr eine Postkarte zu schreiben, die sie über meine glückliche Ankunft in Berlin informierte, bin ich schlicht nicht gekommen. Heute weiß ich, dass ihr der Ärger prima dabei geholfen hat, die Sorgen zu beschwichtigen, sich zu sammeln und ihre Tochter auch innerlich in ihr eigenes Leben zu verabschieden.

Ich dagegen werde fast hysterisch, wenn meine Kinder sonstwo unterwegs sind und von ihren jeweiligen Zielorten Stunden nach der mutmaßlichen Ankunft immer noch keine SMS ankommt, oder wenigstens bei Facebook etwas posten. Nestflucht geht heute anders als früher vonstatten. Ausgezogen wird analog, aber dank der digitalen Medien bleiben wir zusammen. Brettspiele im Kreise meiner Lieben sind vorbei, dafür bombardieren wir uns per Smartphone mit Quiz-Duellen, wenn einer in der U-Bahn Langeweile hat. Kam früher der Sohn auf einen Schwatz in der Küche vorbei, meldet er heute per Skype Gesprächsbedarf an.

Stolpersteine beim Selbstständigwerden haben wir früher experimentell gelöst, auf jeden Fall ratschlagende Mütter abgewimmelt. Stromanbieter wechseln? Rotweinflecken auf dem T-Shirt? Solche Probleme löse ich mit dem linken Daumen, in maximal 140 Zeichen, per SMS und jederzeit. Meiner Tochter schicke ich Youtube-Links, und sie freut sich darüber, sagt sie jedenfalls und kommentiert eifrig. Hin und wieder nuscheln wir etwas von Funklöchern und leeren Akkus, um dem sanften Terror der immerwährenden Erreichbarkeit ein paar kostbare Momente lang zu entgehen – und zwar beiderseits.

Ihr Zimmer rühre ich nach dem Auszug nicht an. Seit sie da nicht mehr wohnt, gehe ich nur mit geschlossenen Augen an der Zimmertür vorbei. Sie bleibt zu, weil ich nicht traurig werden will. Ich kann mir nämlich schon vorstellen, wie es da drin aussieht. An den schönen orange gestrichenen Wänden mit den roten Kullern, die sie vor Jahren gemalt hat, wird kein einziges Poster mehr hängen. Vielleicht klebt noch der Fächer aus verblassten, eselsohrigen Tickets längst verklungener Pop-Konzerte an der Wand, da, wo ihr Schreibtisch stand.

Ich höre mich um bei anderen Müttern, wie sie mit den verlassenen Räumen umgehen. Die erste kichert etwas Altmodisches von dem attraktiven möblierten Herrn, einem Untermieter, den sie sich zuzulegen gedenkt. Die nächste hat allen Familienballast abgeworfen, sagt sie, sich freigeschwommen und will eine schicke Penthousewohnung mit zweieinhalb Zimmern für sich allein beziehen. Eine andere plant, sich neu zu verlieben.

Bei Elternpaaren ausgezogener Kinder gestaltet sich die räumliche Herausforderung, die Leerstelle mit neuem Leben zu füllen, nicht weniger heikel. „Mütter lassen gerne alles so, wie’s ist und stellen Gläser mit Sand und getrockneten Hortensien in das verwaiste Kinderzimmer, das dann zu ihrem Rückzugsort wird“, erfahre ich von einer Freundin. Eine andere berichtet von Vätern, die flugs den Billard-Tisch ins leere Kinderzimmer stellen. Sie erzählt von ihren eigenen jüngeren Geschwistern, die damals im Elternhaus jedes leer werdende Zimmer einfach besetzten. „Wir nannten sie nur die Kammerjäger.“

Die erste Frage ist: Wem gehört das Zimmer – Mutter oder Vater? Der Konflikt ist da, wenn das Kind zurückkommen will. „Nach einer Party, einfach zum Ausruhen oder nach einer gescheiterten Beziehung“, sagt sie, „und wenn es dann wieder in sein altes Zimmer will.“ Hm, vielleicht ist das genau das Problem. Wenn die Leerstelle gefüllt ist, gibt es keinen Platz mehr für das Kind, dem wir bislang den größten Raum in unserem Leben eingeräumt haben.

Das leere Kinderzimmer steht als Chiffre für den Stand unserer Auseinandersetzung mit der Realität. Die gemeinsame Familienzeit unter einem Dach mit überquellenden Räumen ist vorbei. Soll ich weiter meine Kräfte gegen das Unabänderliche verschleißen oder hinnehmen, was nicht zu ändern ist und den Rest der Wirklichkeit nach meinen Wünschen gestalten?

„Willst du nicht endlich mal in Elises Zimmer gehen? Es ist leer, und du könntest doch dein Bett da reinstellen“, fragt meine Tochter Charlotte mich täglich. „Morgen vielleicht.“ Sie schüttelt den Kopf. „Wie lange willst du denn noch traurig sein?“

Nach einer Woche wage ich den Schritt. Langsam öffne ich die Tür und pralle erschrocken zurück. Die Wände schimmern in einem erschöpften Orangerot. Doch die Dielen schimmern wie flüssiger Honig, sogar die Fenster sind geputzt. Das Zimmer ist leer.

Auf dem Fußboden liegt ein Zettel, vor einem riesigen, mittlerweile verwelkten Blumenstrauß: „Liebe Mama, mach doch mein altes Zimmer zu deinem neuen Schlafzimmer, dann hast du Arbeiten und Schlafen wieder getrennt. Es ist auch viel ruhiger hier. Ich komm am Wochenende mal vorbei. Tausend Küsse, Elise.“

Ich ruf sie gleich an. „Reingefallen! So lange hast du dich also nicht getraut, ins Zimmer zu schauen?“ Sie lacht mich aus. „Wovor hast du eigentlich Angst gehabt?“ Das habe ich vergessen, aber wenn die Kinder imstande sind, den Abschied würdevoll und großmütig zu meistern, denke ich, dann kann ich das auch.

Gerlinde Unverzagt

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