zum Hauptinhalt
Chillen. Junge Mädchen suchen auf ihrem Smartphone nach der nächsten Party oder einem Partner für ein Date.

© Eugenio Marongiu

Wie Smartphones unser Leben bestimmen: Apphängig

Lover suchen? Fünf Kilo abnehmen? Träume stimulieren? Pizza bestellen? Kein Problem, das erledigen Applikationen auf dem Smartphone sekundenschnell. Bald gibt es sogar eine Uhr, die unsere Gesundheit per Apps überwacht. Über den Stress, sein Leben mit Software zu optimieren.

Schwupp, schon ist der Reiz des Rätselns verpufft. Sonntagabend in einer Kreuzberger Kneipe: Wir haben gerade „Birdman“ gesehen, den Oscar-Gewinner, sitzen am Tresen, sinnieren über die Karriere des Hauptdarstellers Michael Keaton, sprechen über seinen Film „Batman“ und Jack Nicholson als Joker. Da behauptet mein Begleiter, Nicholsons Joker-Grinsen sei damals durch eine Mundschiene zustande gekommen. Nein, protestiere ich, das sei eine Silikonmaske gewesen. Nein – doch – nein – doch ...

Früher hätte ich in so einem Moment Wetten abgeschlossen. Um eine Flasche Gin oder ein Abendessen. Ich hätte die Zeit bis zur Auflösung genossen. Heute zücke ich mein Handy, öffne die Wikipedia-App, suche „Batman“ und weiß in kürzester Zeit: dass Nicholson bis zur letzten Sekunde gezögert hat, die Rolle anzunehmen. Dass er am Ende durch eine Einspielbeteiligung zu 60 Millionen Dollar kam. Und irgendwann, klick-klick, findet sich auch die Sache mit dem Silikon. Gewonnen. Aber so richtig befriedigend ist das irgendwie nicht.

Der volle Titel des aktuellen Films mit Michael Keaton lautet: „Birdman oder die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit“. Die Überschrift zu diesem Artikel könnte lauten: „Apps – oder die penetrante Macht der Allwissenheit“. Wer sein Smartphone mit Apps aufgerüstet hat, gerät in Perfektionszwang. Für alles gibt es eine Erklärung, für alles einen Organisator, nichts bleibt undokumentiert. Keine Ausreden mehr, keine Rechtfertigung für Patzer. Du hast den Termin vergessen – hast du etwa keine Kalender-App mit Erinnerungsfunktion? Du hast so viel für das Glas Oliven bezahlt – kennst du nicht die Barcodescanner-App, die dir zeigt, wo es die Sorte am günstigsten gibt? Du bist schwanger, obwohl es eine Verhütungs-App gibt?

Ja, letztere gibt es tatsächlich. Sie überwacht den Zyklus, errechnet die riskanten Zeiträume, ist Tagebuch für jede kleine Wahrnehmung. Große Lust auf Sex? Die Brüste spannen? Migräne? Bitte alles eintragen, die Software zieht ihre Schlüsse daraus.

Eine App, kurz für „Applikation“, ist eine Anwendungssoftware für mobile Geräte wie Smartphones oder Tablet-Computer. Der erste App-Store wurde 2008 von Apple präsentiert. Nur eine Woche nach dem Start meldete das Unternehmen bereits zehn Millionen Downloads. Bis heute ist die Zahl auf 75 Milliarden angewachsen, rund 1,2 Millionen verschiedene Apps stehen zur Auswahl. Konkurrent Google hat seinen App-Store 2008, wenige Monate nach Apple, eröffnet. Google Play bietet inzwischen rund 1,3 Millionen verschiedene Apps.

Im kommenden Monat werden Konsumenten noch stärker an die Kandare genommen: Die Apple Watch kommt in die deutschen Läden. Mit der Uhr tragen ihre Nutzer all die Infos, Termine, Notizen, Chats, Spiele und Selbstoptimierungstools direkt am Handgelenk. Wer eine Nachricht oder Terminerinnerung erhält, spürt ein Antippen am Handgelenk. Der Hersteller verspricht: „Die drei Ringe der Activity App helfen dir dabei, weniger zu sitzen, dich mehr zu bewegen und mal wieder zu trainieren.“ Die Uhr erlerne die Aktivitäten und die Fitness ihres Trägers und verwende diese Informationen, um genauere Messwerte zu berechnen und persönliche Ziele für den Tag vorzuschlagen. Sie kann die Herzfrequenz messen, Bewegungsabläufe erkennen, auf Sprachsteuerung reagieren. Keine Ausreden mehr, kein Kilo zu viel, keine Joggingmeile zu wenig.

Schöne neue Welt. Besseres neues Ich.

Hund ausgehen und Anrufe vortäuschen - geht alles einfacher mit Apps

Bereits jetzt takten Apps den Tag durch. Eine Schlaf-App überwacht nachts per Mikrofon und Bewegungssensoren des auf dem Bett platzierten Handys das Verhalten des Menschen, achtet darauf, ihn nicht aus einer Tiefschlafphase zu reißen, sondern ihn morgens aus einer leichten Phase zu wecken.

Smartphone-Benutzer kontrollieren danach mit der Wetter-App die Temperatur, entscheiden, wegen Regenwahrscheinlichkeit nicht das Fahrrad, sondern die U-Bahn zu nehmen, checken in der BVG-App, wann sie losgehen müssen, um pünktlich zu sein, und überfliegen nebenbei in der „Tagesspiegel“-App die Nachrichten – man könnte ja was verpasst haben, während die Schlaf-App über einen wachte.

Eine Termin-App zeigt die Aufgaben des Tages an. Businesskleidung oder casual? „ClosetSpace“ hilft. Diese Software hat alle vorhandenen Kleidungsstücke gespeichert und kombiniert sie je nach Wetter und Anlass zu stilvollen Outfits. Ah, das Handy piept, die App „Tägliches Bauchmuskeltraining“ erinnert mit einem Demonstrationsvideo an das Pflichtprogramm vor der Morgenwäsche.

Im Badezimmer animieren Applikationen mit Tiercomics daran, wie man sich richtig die Zähne putzt. Der Duschtimer achtet darauf, dass ein Apphängiger nicht zu viel Zeit und Wasser verbraucht, und alarmiert ihn, wenn er trödelt. Das anschließende Frühstück speichert die Kalorienzähler-App. Schließlich braucht der digitale Diätassistent abends die genaue Tageszufuhr.

Jetzt noch schnell mit dem Labrador runter. „My Dog365“ sorgt dafür, dass der Hund abwechslungsreich unterhalten wird. Sie zeigt die heutige Tagesaufgabe an: Zergeln. Man hält dem Tier ein dickes Seil hin, es beißt hinein, zieht daran, man zieht am anderen Ende. Fertig. Los zur U-Bahn, auf der Fahrt schnell die sozialen Netzwerke checken. Hat der Kumpel wieder ein peinliches Bild nach dem sechsten Jägermeister gepostet? Hat die neue Flamme endlich ihren Beziehungsstatus von „Single“ auf „in einer Beziehung“ geändert? Aussteigen, ins Büro, ein erster Kaffee – kommt natürlich auch in den Kalorienzähler. Terminerinnerung reiht sich an Terminerinnerung, Piepser an Piepser. Stress in der Mittagspause? Essen über die Lieferservice-App bestellen. Italienisch oder vietnamesisch? Pasta oder Curry? Mit oder ohne Zwiebeln? Häkchen, Häkchen, abschicken.

Feierabend. Weil die neue Flamme laut Facebook-App noch immer „Single“ ist, schauen Apphängige einfach bei Tinder nach, welche paarungswilligen Damen oder Herren im Umkreis unterwegs sind, welche davon infrage kommen und welche wiederum auch das eigene Profil goutieren. Ein „Match“, beide gefallen sich, beide wollen sich treffen, ein Date bahnt sich an. Die Yelp-App sagt, wo es das nächstgelegene Sushi-Restaurant gibt und wie dieses bisher bewertet wurde. Schnell noch ein mögliches Anschlussprogramm organisieren: Konzertkarten über die Eventim-App kaufen. Parallel über Whatsapp eine Ersatzbegleitung organisieren – falls das Tinder-Date schlecht läuft.

Im Restaurant, das Date ist noch nicht da, bleibt Zeit für eine Runde Quiz-Duell gegen ehrgeizige Freunde. Das spielt auch Jörg Pilawa im Fernsehen. Klick-klick-gewonnen. Tür geht auf, Date kommt rein, entspricht nicht den optischen Vorstellungen und ist auch noch zickig. Beim Essen heimlich unterm Tisch eine Bestätigung an die Ersatzbegleitung schicken und die „Fake-A-Call“-App aktivieren. Diese simuliert einen Anruf. Das Handy klingelt, der Apphängige murmelt „Nein, wirklich?“ und sagt, er oder sie müsse nun sofort los. Ein Notfall, ehrlich! Die Handynummer des Dates notieren, um sie vor der Tür in die Blacklist-App einzuspeichern – die blockiert dann eingehende Anrufe dieser Nummer.

Nach dem Konzert hilft eine Taxi-App die Heimreise zu organisieren. Auf der Fahrt meldet Facebook, dass die neue Flamme ihren Beziehungsstatus geändert und lauter Herzchen-Symbole geschickt hat. Per Whatsapp gibt es zur Belohnung eine Einladung zu einem romantischen Abendessen. Und noch bevor die Zusage eintrudelt, bieten diverse Rezepte-Apps geeignete Gerichte für ein Candlelight-Dinner an. Die Zutaten einfach in die Liste der Einkaufs-App eintragen.

Die Joggingrunde fällt wegen der späten Stunde aus. Die Fitness-App wird das am nächsten Morgen dementsprechend kommentieren, darüber muss man sich hinwegsetzen können. Lieber die Dream-on-App einschalten, die Träume plant. Soll die Fantasie nachts in einen Regenwald gelenkt werden oder an einen Sandstrand? Darf es vielleicht etwas Erotisches sein? Das Handy wartet auf eine passende Schlafphase und spielt dann Geräusche ab, die das gewünschte Szenario initiieren sollen. Geruhsame Träume. Bis irgendwann die Schlaf-App die Weckfunktion aktiviert – und alles von vorne losgeht.

Ist ein Mensch, der mit solchen technischen Hilfsmitteln sein Leben organisiert, unglücklicher als ein Unapphängiger? Nicht unbedingt. Aber der Druck ist enorm, denn die Rundum-Versorgung fordert Perfektion und erzeugt Stress. Will ich wirklich wissen, dass das Produkt, das ich in der Hand halte, drei Straßen weiter einen Euro weniger kostet? Muss ich jetzt die drei Straßen weiter laufen? Will ich wirklich erfahren, dass irgendein Gast in dem Restaurant, wo ich abends verabredet bin, schon mal schlecht bedient wurde – oder ihm eine kalte Pizza serviert wurde? Will ich am Ende des Tages wissen, dass ich 30 Kalorien zu viel verdrückt habe, 400 Meter zu wenig gelaufen bin, dafür aber um 13.30 Uhr in einem äußerst fruchtbaren Zustand gewesen bin?

Chillen. Junge Mädchen suchen auf ihrem Smartphone nach der nächsten Party oder einem Partner für ein Date.
Chillen. Junge Mädchen suchen auf ihrem Smartphone nach der nächsten Party oder einem Partner für ein Date.

© Eugenio Marongiu

Allwissenheit kann auch ein Fluch sein. Erst recht, wenn man sie rund um die Uhr am Handgelenk trägt. Die kleinen blinden Flecken bieten Erholung, eröffnen Spielräume, Zuflüchte, Spontaneitäten. „Die Unwissenheit ist ein Meer, das Wissen ein Floß darauf“, sagt ein isländisches Sprichwort. Was nutzt uns eine Fläche aus aneinandergereihten Floßen, so ganz ohne Wasser darunter? Und wie wollen wir ... Moment, heißt es „Floße“ oder „Flöße“? Flöße. Sagt meine Duden-App.

Lydia Brakebusch

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false