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Zuhause auf Zeit für Atilla und Kazumi.

© Lena Schnabl

Gesellschaft: Wo Tokio alt aussieht

Wohnungen sind in japanischen Großstädten für Ausländer kaum zu finden. Für sie gibt es spezielle Heime. Besuch in einem gewöhnungsbedürftigen Ambiente.

Der Kerosin-Ofen brummt, während eine Kakerlake aus einem der sechs Reiskocher der Gemeinschaftsküche kriecht. Nic, einem DJ und Englischlehrer aus Irland, platzt der Kragen. „Dieser ganze Dreck – das hält doch niemand aus“, schimpft der 28-Jährige. Nic nimmt eine Pfanne, begutachtet ihr Inneres, stellt sie auf den Gasofen, der mit einem klebrigen Film überzogen ist. Er nimmt Öl aus dem Schließfach, das seine Zimmernummer trägt, schlägt zwei Eier in die Pfanne und sagt: „Ich schäme mich, wenn ich jemanden mitnehme. Aber ich kann mir nichts anderes leisten.“

Willkommen in der Teacher’s Lodge, dem größten „Ausländerhaus“ Tokios, das, 1987 eröffnet, auch das älteste ist. Das zweistöckige Holzhaus mit WG-typischer Verantwortungsdiffusion in Sachen Sauberkeit liegt in einem ruhigen Wohnviertel im Süden der Stadt. Vor dem Gebäude verläuft ein Kanal, auf der anderen Seite liegt der Garten. Basilikum und Blümchen wachsen vor einem Gartenhäuschen. Ein balinesischer Architekt hat es entworfen, als er hier übernachtet hat. Den Innenhof füllen Fahrräder und das Kerosin-Lager für die Öfen. Beheizt wird das nicht isolierte Haus wie in alten Zeiten. Nur wenige Zimmer haben eine Klimaanlage für den feuchtheißen Sommer.

Japan ist ein Land der Einzimmerapartments. Statt WG-Tradition und Zwischenmiete gibt es hier zusätzlich zu Kaution und Maklergebühr ein „Schlüsselgeld“ in Höhe von etwa zwei Monatsmieten, das dem Hausbesitzer als „Dankeschön“ bezahlt werden muss und nicht rückerstattet wird. Die meisten Mietverträge laufen über zwei Jahre, und Ausländer benötigen dafür ein ebenso lange gültiges Visum, einen Arbeitsvertrag und einen Bürgen. Die Wohnheime stellen eine Alternative zum Bürokratiedschungel dar. Auch für Nic, der vor zwei Monaten einzog, als er mit seiner Freundin Schluss machte. Sein kleines Einzelzimmer kostet 355 Euro im Monat.

Im Inneren des Hauses erinnern Wandmalereien daran, dass ein Mexikaner in den 90er Jahren seine Miete nicht begleichen konnte und stattdessen mit Kunst bezahlte. An langen Gängen reihen sich möblierte Zimmer aneinander, die kleineren fünf, die größeren zehn Quadratmeter groß. Einige davon sind Tatamizimmer, bei denen man den Futon tagsüber in einen Schrank räumt, die meisten aber westlich mit Bett und Tisch ausgestattet. Dazu ein paar Mehrbettzimmer mit Stockbetten, eine Küche, ein Wohnzimmer, ein Computerraum, drei Toiletten, vier Duschen. Rund 50 Menschen können hier leben.

Langsam wird es voll in der Küche, so wie immer gegen 20 Uhr, wenn die anderen Bewohner von der Arbeit kommen. Pfanne um Pfanne, Topf um Topf, Messer um Messer werden aus den Schränken geräumt, benutzt, abgewaschen. Vanessa aus Peru kocht japanischen Eintopf, Teddy, ein Japaner, der genauso rund aussieht wie er heißt, wartet mit der Pfanne in der Hand darauf, dass ihr Stellplatz frei wird. Atilla, ein österreichischer Türke, stellt sein Fertiggericht in die Mikrowelle. „Hier koche ich nicht. Viel zu dreckig“, sagt er.

Die Mägen füllen sich. Nic sagt: „Ich lege am Samstag auf. Wenn ihr kommen wollt: Eintritt frei.“ Er spricht kein Japanisch und verdient seinen Lebensunterhalt damit, dass er Japanern Englisch beibringt. Derzeit zehn Stunden pro Woche. Den Rest der Zeit macht er Musik, manchmal modelt er. Ansonsten spielt er Videospiele im Wohnzimmer, guckt Filme oder treibt Sport.

Vanessa, die Peruanerin mit dem Eintopf sagt: „Manchmal regen mich diese Englischlehrer auf. Es ist so leicht für die, ein Arbeitsvisum zu bekommen.“ Oft müssen sie keine Erfahrungen mitbringen, ihre Muttersprache gibt ihnen recht. Atilla, aufgestellte Haarsprayfrisur, T-Shirt mit weitem Ausschnitt, schwarze Jogginghose, hat es schwerer. Er ist 28, ausgebildeter Mechaniker und mit Touristenvisum hier. Er hofft auf einen Japanischkurs oder einen Job, der ihn zum Bleiben berechtigt. „Eigentlich egal was. Im Notfall eine Dönerbude, da habe ich Bekannte.“

Letzte Woche musste ein Russe zurück, weil er keine Anstellung fand. „Ich hoffe, Atilla schafft es“, sagt Vanessa, 30, Übersetzerin mit Arbeitsvisum. Sie kam vor drei Jahren in die Lodge. „Am Anfang konnte ich keine eigene Wohnung bekommen. Jetzt, wo ich alles beisammen habe, sollte ich mal ausziehen“ sagt sie. „Aber das sage ich seit einem Jahr. Hier zu leben macht bequem.“ Wer Kontakt möchte, geht in die Küche, das Wohnzimmer oder den Computerraum. Irgendwer ist immer da. Zu Geburtstagen backt ein Hobbykoch Kuchen in der Pfanne. Wer allein sein möchte, macht die Zimmertür zu und kommt nur zum Duschen raus. So wie etwa die Hälfte der Mieter. „Wir nennen sie Geister“, sagt Teddy, der Japaner.

Teddy, 45, wohnt wie Vanessa seit drei Jahren im Ausländerhaus. „Ich wäre einsam in einer eigenen Wohnung“, sagt er. Die erste Japanerin kam 1993 in die Teacher’s Lodge, drei Jahre nach dem Platzen der Immobilienblase. Seitdem stagniert die japanische Wirtschaft. Etliche können sich eine Wohnung nicht mehr leisten. Mittlerweile sind etwa die Hälfte der Mieter des Wohnheims Einheimische.

Wenige bleiben so lange wie Teddy. Doch mit der Diversifizierung der Lebensentwürfe und steigender Flexibilität sind die Japaner stärker auf solche Wohnmöglichkeiten angewiesen. Das Ausländerhaus bietet Menschen wie ihm eine Freiheit, die sie im übrigen Japan nicht haben. Festanstellung auf Lebenszeit gibt es nicht überall. Teddy arbeitet im Callcenter mit einem Zeitvertrag. Außerdem putzt er die Toiletten im Wohnheim und bekommt dafür etwas Geld.

Die Toilette, Typ „Washlet“, hat eine Sitzheizung mit Warmwasserreinigung. Ein bisschen Hightech in der sonst verwitterten Enklave. Auf einem Zettel an der Innentür wird darauf hingewiesen, dass die Bewohner die Sitzheizung nicht höher stellen sollen. Das spart Strom – so wie die Energiesparbirnen im Haus.

Samstag, ein Regentag. Aus den Abwasserrohren flüchten sich Nacktschnecken in die Waschbecken. Von der Decke tropft es in Mülleimer. Im Wohnzimmer, auf einem der fünf Sofas sitzt Kazumi, 38, vor ihrem Computer. Sie sucht Arbeit. Die zierliche Frau mit Ponyfrisur ist Sprechstundenhilfe. Sie kommt aus Südjapan, hat aber in Tokio studiert, geheiratet und zwei Söhne bekommen. Dann kam die Scheidung, und Kazumi ging zurück zu ihren Eltern. „Jetzt, wo meine Söhne in die Oberschule kommen, ziehen die auch in Wohnheime“, sagt sie. „Das ist meine Chance noch einmal von vorne anzufangen.“

Sie schläft in einem Mehrbettzimmer, oft geht sie im Wohnzimmer oder Computerraum Jobangebote durch. „Ich will mein Englisch verbessern“, sagt sie. „Ich habe kein Geld, um ins Ausland zu reisen, da ist das Wohnheim eine gute Sache.“ Manche Ausländer sprechen gut Japanisch, andere kaum oder gar nicht. Beim Englisch der Japaner verhält es sich genauso. Die Miete ist inklusive solcher Küchen-Sprachkurse.

Es ist Abend. Die Sofas im Wohnzimmer sind voll besetzt. Auf dem Tisch in der Mitte stehen Getränke und Snacks. Gemeinsames Vorglühen, dann fahren sie zusammen in den Club, wo Nic auflegt. Unverputzte Wände mit Farbsprenkeln, Nic steht am DJ-Pult und winkt den Mitbewohnern, die zusammen die kleine Tanzfläche füllen. Bunte Lichter streifen ihre Gesichter im Takt der Elektromusik.

Die Leute aus der Teacher’s Lodge tanzen bis zur ersten Bahn um fünf. Man kommt zusammen, man geht zusammen. Eine Familie auf Zeit im Süden Tokios. Nic wird vielleicht seinen Job als Englischlehrer aufgeben und Vollzeit in einem Stripclub Musik auflegen. Atilla sucht weiter eine Anstellung, ebenso Kazumi. Und Vanessa will vor dem Sommer ausziehen. Diesmal wirklich.

Lena Schnabl

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