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Édith Piaf

© AFP

Zum 50. Todestag: Die Abgründe der Édith Piaf

Ihre Karriere begann auf der Straße, sie wurde Frankreichs berühmteste Chansonsängerin. 1963 starb Édith Piaf einsam in einem Landhaus – letzter Akt eines lebenslangen Dramas.

Da liegt er nun, eine Kugel im Auge, der Teppich voller Blut. Durch die weit geöffnete Tür erblickt die junge Frau, gerade mal 20 Jahre alt, den Mann, den sie liebevoll Papa rief, tot auf dem Boden seines Wohnzimmers im 16. Pariser Arrondissement. Die lauernden Journalisten stürzen sich sofort auf die völlig verstörte, winzige Frau, die derangiert von einer weiteren durchzechten Nacht mit ihren Kumpels aus Pigalle ein erbärmliches Bild abgibt.

An jenem Morgen des 6. April 1936 hatte sie ihn angerufen, um zu beichten. Sie würde es nicht schaffen zum Radiointerview. Wieder einmal hatte sie sich über seine Anweisungen hinweggesetzt, doch ausnahmsweise früh ins Bett zu gehen und ausgeschlafen zu erscheinen. Irgendeine Ausrede würde ihr schon einfallen. Anstelle ihres väterlichen Managers allerdings meldet sich an diesem Morgen ein Inspektor, bestellt sie ein, erspart ihr weder den schauerlichen Anblick des toten Freundes noch die Objektive der sensationsgierigen Meute. Am nächsten Morgen erscheint Édith Piafs Bild auf den Titelseiten. Nicht als der nächste Star des französischen Chansons, sondern als Verdächtige im Mordfall Louis Leplée.

Die zarte Karriere, die ein halbes Jahr zuvor in Leplées Kabarett Le Gerny’s begonnen hatte, scheint mit einem Schuss beendet. Nichts deutet in diesem Moment mehr darauf hin, dass dieses verheulte Wesen es zu einer Ikone des Chansons bringen wird, die heute mit dem französischen Lebensgefühl verknüpft ist wie Rotwein und Baguette.

Tagelang wird Édith Piaf verhört, obwohl schnell klar ist, dass die durchzechte Nacht ihr ein wasserdichtes Alibi liefert. Wer Leplée umgebracht hat, ist bis heute ungeklärt. Ein Raubmord, verprellte Liebhaber – Legenden gibt es genügend.

48 Stunden bleibt Piaf in Untersuchungshaft, erst als ihr Ruf vollends ruiniert ist, lässt man sie laufen. Filmaufnahmen eines Verhörs zeigen sie jämmerlich schluchzend angesichts des Verlusts ihres Freundes, ihrer Zukunft.

Dabei hätte die zufällige Begegnung mit Leplée nur sechs Monate zuvor doch der Ausweg aus ihrem Elend sein sollen.

Mit Mutter Annetta, einer italienischen Straßensängerin, und Vater Louis, einem Zirkusakrobaten, war das Künstlerleben der Édith Giovanna Gassions, als die sie geboren wurde, vorgezeichnet – wenn auch eher in der Gosse als auf den großen Bühnen. Als der Vater von der Front heimkehrt, findet er das Kind verwahrlost vor und bringt es zur Großmutter, einer Puffmutter in der Normandie. Die kinderlosen Freudenmädchen verwöhnen die Kleine, bescheren ihr trotz des ungewöhnlichen Umfelds glückliche Jahre – bis der Vater sie wieder holt und mit zum Zirkus nimmt. Umherreisend versucht er, mal mit, mal ohne Engagement, sich und die Kleine durchzubringen. Als er zu alt wird für das Leben als Schlangenmensch, beginnt Édith, die Stimme zu erheben. Auf der Straße sind die Zuhörer fasziniert von dieser kraftvollen, rasselnden Stimme, die sie noch nicht zu beherrschen weiß, deren Außergewöhnlichkeit sich aber bereits dem Laienpublikum erschließt.

So schlägt sie sich ein paar Jahre durch, durchleidet vor ihrem 20. Geburtstag bereits den Tod ihres ersten und einzigen Kindes. Statt mit ihrem Vater zieht sie nun mit ihrer Straßenbekanntschaft Simone Berteaut, genannt „Momone“, herum, einer schwesterlichen Freundin mit fragwürdigem Einfluss, mit der sie in den Hinterhöfen Pigalles für ein paar Sous singt.

Der Zufall verschlägt sie auf die Champs-Élysées

Édith Piaf
Édith Piaf

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Der Zufall will es, dass die Freundinnen an einem grauen Oktobernachmittag 1935 ihre Routine der Auftritte in den Straßen Montmartres durchbrechen und sich im schicken Pariser Westen versuchen, weil sie dort bessere Einnahmen vermuten. Doch hier, auf den noblen Boulevards, wenden die Passanten angewidert den Blick ab, wechseln schnell die Straßenseite. Eine letzte Chance geben sie sich südlich des Arc de Triomphe.

Da nähert sich Louis Leplée, ein eleganter Herr mit grauem Haar. Eine Kriegsverletzung zwingt ihn, langsam zu laufen, er bleibt stehen, lauscht einem, zwei Chansons der verwahrlosten Mädchen. Der Kabarettbesitzer erkennt sofort, dass ihm auf seinem Nachmittagsspaziergang ein ungeschliffenes Juwel begegnet ist.

Genau diese Geschichte wird er zehn Tage später erzählen, als er sie zum ersten Mal, ungeschminkt und unglamourös, wie sie ist, seinem Publikum präsentiert. Champagner trinkend lauschen dieselben Menschen, die sich auf der Straße von ihr abgewendet hatten, dem Vortrag dieses Mädchens im löchrigen Pullover – und belohnen es mit donnerndem Applaus. La Môme Piaf, die spatzenhafte Göre, wie er sie nennt, ist geboren. Ihre Präsenz, die Urgewalt ihrer Stimme, die Authentizität ihrer Herkunft, wie gemacht für die Melancholie der Lieder, die sie interpretiert – Presse und Publikum feiern die Neuentdeckung gleichermaßen.

Ein Schuss, und alles ist so plötzlich wieder vorbei, wie es begonnen hat. Piaf selbst hatte es geahnt. Irgendwann würde sie büßen müssen für den Ruhm, den sie als unverdient empfand. Es erschien ihr unvermeidlich, dass sie wieder ins alte Elend zurückkehren würde. Eine Angst, die sie bis zum Ende ihres Lebens begleitet – ebenso wie die regelmäßigen Abstürze, die der Journalist und Musikforscher Jens Rosteck anlässlich ihres 50. Todestags in der ersten deutschsprachigen Biografie beschreibt. Jedes Mal erhebt sich diese zähe, nur 1,42 Meter große Frau wieder und kehrt scheinbar noch robuster auf die Bühne zurück.

Wieder ist es ein Mann, der sie aus ihrem Elend rettet. Raymond Asso hatte sie einst im Gerny’s angesprochen, begeistert von ihrem Talent wollte der Texter mit ihr arbeiten. Sie allerdings, berauscht vom Erfolg und mit ersten Anflügen der arroganten Rücksichtslosigkeit, die sie später an den Tag legen wird, hatte ihn zurückgewiesen.

Asso trägt es ihr nicht nach, als sie ihn nun, am Tiefpunkt angelangt, bettelnd anruft. Ihr Zustand ist ihm ganz recht für das, was er vorhat: sie zur echten Bühnenfigur auszubilden. Die Liaison ist heftig, beruflich wie privat. Asso fordert sie heraus, gestattet ihr keine Schwäche, bringt ihr auch neben der Bühne Benehmen bei. Als der zehn Jahre ältere Liebhaber mit ihr fertig ist, ist aus „La Môme Piaf“ Édith Piaf geworden, die mit krachendem Erfolg auf die Pariser Bühnen zurückkehrt.

Plattenaufnahmen, die großen Konzerthallen, Engagements am Broadway, im Jahr 1949 ist Piaf ein Weltstar. Es folgt ein Absturz, diesmal im Wortsinne.

Am Abend des 28. Oktober 1949 hatte Édith Piaf unbedingt auftreten wollen, es erschien ihr als das Vernünftigste, ja als die einzige Möglichkeit angesichts der erneuten Tragödie, des erneuten Verlusts. Ihre „Hymne à l’amour“ klingt, als sei sie allein für diesen Moment geschrieben worden. Im Saal des New Yorker „Versailles“ ist es so still, als sei Piaf ganz allein mit ihrer Trauer. „Wenn dich eines Tages das Leben von mir fortreißt, wenn du stirbst und weit weg von mir bist“, singt sie so kraftvoll, so authentisch leidend wie nie zuvor. Es folgt ein Zusammenbruch auf offener Bühne.

Kaum zu fassen, dass Piaf selbst diesen Text nur sechs Wochen zuvor gedichtet hatte. Sie ist verliebt, mal wieder. Ihr Leben lang hält sie sich Männer, braucht sie, verbraucht sie, lässt sie fallen. Paul Meurisse, Yves Montand, Jacques Pills, Théo Sarapo und Charles Aznavour, Jean Cocteau – sie alle liegen ihr zu Füßen, trotz ihrer bubenhaften, winzigen Gestalt, ihrer struppigen Haare, ihres unberechenbaren Lebenswandels.

Diesmal scheint alles anders. In New York lernt sie den französischen Boxer Marcel Cerdan kennen. Zwei einsame Franzosen im unbekannten Amerika finden beieinander Halt. Sie ist verrückt nach ihm, er verabscheut ihren Egoismus, bringt ihr Bescheidenheit bei. Ein flüchtiges Glück ohne Zukunft, denn Cerdan hat Frau und Kinder in Marokko, die er trotz der heftigen, zweijährigen Affäre mit Piaf nicht zu verlassen gedenkt.

Diesmal ist der Absturz wörtlich zu nehmen

Édith Piaf
Édith Piaf

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Am Vorabend des Auftritts ruft sie ihn an, bedrängt ihn, mit dem nächsten Flugzeug zu kommen. Als sie am nächsten Morgen aufwacht, ist er abgestürzt, kann nur noch anhand einer goldenen Armbanduhr, die Édith ihm geschenkt hat, identifiziert werden.

Die Theatralik, das Orchester, das übertriebene Pathos der „Hymne à l’amour“ wirkt an diesem Oktoberabend fast prophetisch. Und eine Frau am anderen Ende des Atlantiks wünscht sich nach dem Flugzeugunglück vermutlich, sie hätte dieses Lied nie für Édith Piaf geschrieben.

Marguerite Monnot hatte wieder einmal ein perfektes Chanson geschaffen, wie immer fand die Komponistin die passenden Töne, die richtige Melodie für Piafs rollende Konsonanten, die treffende Melancholie.

Wieder hatte sich die schicksalhafte Begegnung im Gerny’s zugetragen. Mitten in einem der Saufgelage, die Édith Piaf dort nach Ende der Vorstellung veranstaltet– mal mit, mal ohne Papa Leplée – streckt ihr eine melancholisch dreinschauende Frau schüchtern die Hand entgegen. Zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, blicken sich zum ersten Mal in die Augen, die winzige, immer etwas clownartig ausschauende Piaf und Monnot, die große, anmutige Schönheit. Monnot, weit entfernt vom Dreck der Straße in einem musischen Haushalt aufgewachsen, studiert bei den besten Lehrern. Doch ihre Schüchternheit verhindert die große Solokarriere. Sie findet ihre Rolle im Hintergrund, schreibt später für Charles Aznavour, Boris Vian, Marlene Dietrich und komponiert Frankreichs erfolgreichstes Musical „Irma la Douce“.

Eine Songwriterin ist in dieser Zeit ungewöhnlich genug, ein solch erfolgreiches Frauenduo sucht in Frankreich heute noch seinesgleichen. Dass Piaf ihre zwölf Jahre ältere Komponistin später als beste Freundin bezeichnet, ist umso erstaunlicher, da es neben all den Männern kaum Frauen gibt in ihrem Leben. „Momone“, die Freundin seit Jugendtagen, und Mutter Annetta fordern zeitlebens eher Piafs verschwenderische Großzügigkeit heraus, mit der sie mehr als einmal ihr ganzes Geld verprasst. Häuser, Champagner, teure Reisen – wann immer Piaf etwas hat, wirft sie es hinaus und ist nicht kleinlich gegenüber ihren „Freunden“, die mit dem Erfolg kommen und gehen.

Anders Marguerite Monnot. Mehr als 20 Jahre lang ergänzen sich die beiden Frauen perfekt, schreiben mehr als zwei Dutzend Erfolge, darunter „J’ai dansé avec l’amour“, „Milord“ und wohl auch „La vie en rose“ – auch wenn Letzteres Monnot nicht offiziell zugeschrieben wird. Angeblich kritzelt Piaf den Welterfolg 1945 auf den Champs-Élysées hastig auf eine Tischdecke. Vermutlich ist es jedoch nur der Text, denn Piaf kann keine Noten lesen. Da Piaf nur als Texterin bei der Verwertungsgesellschaft Sacem eingetragen ist, braucht sie ohnehin einen Komponisten, den sie angeben kann. Angeblich lehnt Monnot das ab, da sie das ausnahmsweise völlig in Dur gehaltene Lied zu schwach findet. Gut möglich, dass sie ihrer Freundin den Gefallen tat, ihr „Liedchen“ zu einem Chanson auszubauen, dafür aber ihren Namen nicht hergeben will. So steht heute der Chansonkomponist Louiguy als Koautor neben Piaf – obwohl Monnot häufig als Komponistin genannt wird.

Bei der „Hymne à l’amour“ besteht jedoch kein Zweifel über die Herkunft. Am Abend nach dem Tod Cerdans kostet dieses Lied Piaf die letzte Kraft. Als sie völlig erschöpft im Licht der Scheinwerfer liegt, hat sie ihren Zenith überschritten.

Natürlich steht sie auch an diesem Abend wieder auf, kehrt bald auf die Bühne zurück. Zwei Ehemänner und zahlreiche Welthits folgen – doch vom Morphium, mit dem sie sich nach Cerdans Tod beruhigt, kommt sie nicht mehr los. Zusammenbrüche, Entziehungskuren und Krankenhausaufenthalte wechseln sich ab. Immer wieder tut sich der Abgrund vor ihr auf, immer wieder rappelt sie sich auf – um Anfang der 60er Jahre, als alle sie schon für tot erklärt haben, ihren Kritikern ein dröhnendes „Nooooooooon“ entgegenzuschmettern. Ich bereue nichts! „Je ne regrette rien“ wird zum perfekten Abschluss für den Soundtrack ihres Lebens.

Und dennoch ist es dieses Chanson, ihr später Welthit, mit dem sie auch noch die Freundin Marguerite Monnot verliert. Als sie die Komposition des Autorenduos Dumont/Vaucaire zum ersten Mal hört, erkennt sie sofort die Chance auf ein letztes großes Comeback. Ohne zu zögern mustert sie die alten Titel Monnots aus, mehr noch: Sie will die Freundin nicht mehr sehen, nach 25 Jahren.

Schwer zu glauben, dass Piaf wirklich nichts bereut, als sie am 10. Oktober 1963 mit nur 47 Jahren an den Folgen einer Leberzirrhose stirbt. Ziemlich einsam in einem Landhaus an der Côte d’Azur.

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