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Julia und Evelyn Csabai auf dem Flughafen Tegel.

© Mike Wolff

Zwei Mitarbeiterinnen erzählen von ihrem Flughafen Tegel: Sie fliegen auf TXL

Er bröckelt vor sich hin, ist immer überlastet, aber er fasziniert wie kein anderer: Die Schwestern Csabai kennen und lieben jeden Winkel des Flughafens Tegel. Eine emotionale Inspektion von Gate 0 bis Gate 15.

Ihr Schmerz hat ein bisschen nachgelassen. Ein seltsames Phänomen sei das, sagen die Csabai-Schwestern. Wie auf dem Bahnhof: Man verabschiedet sich von einem lieben Menschen, es fließen Tränen, der Zug hat fünf Minuten Verspätung, man umarmt sich nochmal, dann 20 Minuten Verspätung, man schaut auf die Uhr, und wenn die Bahn zwei Stunden später immer noch nicht losgefahren ist, geht man doch schon mal nach Hause.

„Wir haben es zu oft durchlebt“, sagt Julia Csabai. „Wenn man immer wieder seelisches Hickhack hatte...“, sagt ihre Schwester Evelyn.

Die zwei sind also bereit für die Trennung – wenn sie denn jemals kommt. Vorstellen können sie es sich ja kaum mehr, dass der BER eines Tages tatsächlich fertig wird und ihr geliebter Flughafen Tegel schließen muss. Jener TXL, 1974 eröffnet, damals ästhetisch und technisch state of the art, den sie in- und auswendig kennen, mit jeder Sitzbank, jedem Schalter, jedem Schleichweg. Trotzdem haben die Csabais jetzt schon mal eine Art Requiem veröffentlicht. „Letzter Aufruf Tegel“ heißt das Buch, es ist das Ergebnis von 22 Jahren Arbeit als Fluggastbefragerinnen, 60 ausführlichen Interviews mit Airline-Personal, Planespottern und Putzfrauen – und einer unbändigen Lust, Menschen zu beobachten.

Einer ihrer Lieblingsflüge: Hainan Air nach Peking

„Sicherheitshinweis“, haucht die Frau aus dem Lautsprecher, „lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt“. „Wir nennen sie die sexy Stimme“, kommentiert Julia Csabai. Evelyn blickt hinüber zu Gate 1 und sagt: „Hier startet einer meiner Lieblingsflüge: Hainan Air nach Peking. Ich schaue gern zu, wie die Chinesen lauter WMF-Woks nach Hause schleppen.“

Es ist Dienstagmittag, eine eher ruhige Zeit auf dem Flughafen. Die Schwestern stehen am Eingang des zentralen Terminals, zwischen dem Bäcker und der winzigen Wechselstube auf der einen, Burger King und Coffee Fellows auf der anderen Seite, und noch ehe unser Rundgang begonnen hat, gibt es schon einen Stoß Geschichten zu erzählen. Beginnen wir bei Gate 0, das vor Jahren als Ergänzung vor Gate 1 eingerichtet wurde, um der vielen Flüge Herr zu werden. Typisch Tegel! Hier arbeiten alle an der Belastungsgrenze. „Das ist, als wenn man in ein Kino, in das 50 Leute passen, 200 Besucher einlässt“, sagt Evelyn Csabai. „Die Technik ist veraltet, die Fließbänder gehen mehrmals am Tag kaputt.“ Julia ergänzt: „Uns erinnert Tegel an Einfamilienhäuser in Osteuropa, wo immer was geflickt und für die Kinder angebaut wird.“

Rührt daher ihre Zuneigung? Die  Schwestern sind in Budapest groß geworden, man kann es an ihrem Akzent erahnen, der Vater war Ungar, die Mutter Bulgarin. In Tegel sind sie als „die Zwillinge“ bekannt, dabei ist Evelyn drei Jahre jünger als Julia. Unzertrennlich sind sie trotzdem, schon seit sie sich als Kinder ein Zimmer teilten.

Die Nostalgie, die bei ihrer Liebe zum in die Jahre gekommenen Flughafen mitschwingt, ist jedoch keine Sehnsucht nach dem Ostblock, eher schon nach einer Zeit, in der das Fliegen etwas Besonderes war. Außerdem finde man unter den Mitarbeitern in Tegel noch eine gewisse Solidarität, sagen sie – wie ein Relikt aus den 60er Jahren.

Nach Berlin kamen die Schwestern 1989. Evelyn studierte hier Theater und Filmwissenschaften, Julia Publizistik, Nordamerikastudien und Anglistik. Um ihr Studium zu finanzieren, begannen sie in Tegel zu arbeiten. Im Auftrag des Flughafens befragen sie bis heute Passagiere, bis zu zehn Mal im Monat: Woher kommen die Leute, wie reisen sie, wie nutzen sie den Flughafen?

Der Job, sagen die beiden, sei wie gemacht für Menschen wie sie, die sich zeitlich flexibel ein bisschen Geld dazu verdienen wollen. In ihrer 35-köpfigen Mannschaft, deren Arbeit sie mittlerweile koordinieren, gibt es neben den Studenten auch Künstler, geschiedene Hausfrauen und Rentner. Evelyn war lange Schauspielerin und Agentin, Julia freie Journalistin, vor kurzem haben sie nun gemeinsam ein Café in Prenzlauer Berg eröffnet.

An Gate 4 stehen die Leute gerade Schlange, Check-in für den Eurowings-Flug nach London. Gegenüber dem Schalter, an der Fensterfront, gibt es Sitzbänke direkt über dem Heizkörper. Sie gehören zu den Lieblingsorten der Schwestern. Im Winter seien das die wärmsten Plätze. „Treffen wir uns auf’m Grill, so nennen wir das“, sagt Julia Csabai und erklärt dann: „Auf dem Flughafen arbeitet man entweder drei Tage oder 30 Jahre. Wir sind hier hängen geblieben, irgendwann mussten wir feststellen, dass wir süchtig sind.“ Süchtig danach, bei der Arbeit ein bisschen zu verreisen, wenigstens in Gedanken. Denn sie fahren gerne weg, waren schon auf den Kanaren, im Baltikum, in Thailand und Rom. Süchtig nach den Menschen aus aller Welt mit ihren kulturellen Eigenheiten und nach den schrägen Typen, von denen es auf einem Flughafen, glaubt man den Csabais, besonders viele gibt.

Legendär: Das Pärchen, das sich auf dem Ärztekongress kennengelernt hatte

Die Schwestern sind seit den Kindertagen in Budapest ein Herz und eine Seele.
Die Schwestern sind seit den Kindertagen in Budapest ein Herz und eine Seele.

© Mike Wolff

Und da ist auch schon einer. Wir sind an Gate 7 angekommen, als Evelyn Csabai in Richtung eines Mannes in Jeans und schwarzer Jacke deutet, der jedoch gleich wieder hinter einer von Tegels sechs Ecken verschwindet. „Guck mal!“, sagt sie. „Da ist ,Kennst du mich?’. Der ist seit Ewigkeiten hier, streichelt Frauen gern ihre langen Haare, guckt immer in die Mülleimer und fragt ,Kennst du mich?’“ Oder der Mann, der eines Tages in voller Tauchermontur durch den Flughafen stapfte, warum auch immer. Oder der Exzentriker, der statt seiner einen Stofftier-Frosch einchecken ließ.

„Man kann solche Geschichten meist nicht zu Ende verfolgen, die Leute auf dem Flughafen ziehen ja an einem vorbei, wie Schnappschüsse aus dem Leben“, sagt Julia Csabai. Sie holt ihr Mobiltelefon aus der Tasche und wischt über den Bildschirm. „Ich mache hier andauernd Fotos.“ Und dann, mit Flüsterstimme: „Ohne Erlaubnis.“ Auf dem Telefondisplay erscheint das Bild eines Mannes mit einer riesigen, langen Tasche. „Den habe ich gestern unten beim Sperrgepäck gesehen, offenbar ein Stabhochspringer, der für Deutschland zu einer Meisterschaft flog.“

Ihre Erkenntnis: Es gibt kaum ein Paar, das es nicht gibt

Angelangt zwischen Gate 8 und 9, fällt Julia Csabai die legendäre Episode mit dem Liebespaar ein, die sich hier zutrug. Die beiden hatten sich auf einem Ärztekongress kennengelernt. Ihr Abschied voneinander um sechs Uhr morgens geriet so dramatisch, dass die Polizei gerufen wurde. „Die wälzten sich auf dem Boden und schrieen. Ich dachte zuerst, jemand sei erstochen worden. Natürlich bin ich da sofort hin.“ Die Erkenntnis der Schwestern nach der Beobachtung unzähliger Abschiede und Begrüßungen: Kleiner Mann und sehr große Frau, Bankerin und Rasta-Typ – es gibt kaum ein Paar, das es nicht gibt.

Evelyn Csabai hat eine Weile in Hamburg als Fluggast-Befragerin gearbeitet, da war es weniger interessant. Sie lacht. „Das ist ein moderner, funktionierender Flughafen.“ Auf dem TXL, ergänzt ihre Schwester, sei der Emotionspegel höher. Weil es keine zentrale Sicherheitskontrolle gibt und die Wartebereiche hinter den Kontrollen am Gate wenig mehr zu bieten hätten als „Duty Free Shops von der Größe einer Hundehütte“, spiele sich ein Großteil des Lebens in dem Bereich ab, der für jeden zugänglich ist.

Apropos: Bis vor knapp zwei Jahren wurde der TXL regelrecht gestürmt von Flaschensammlern, besonders vor den Gates war ihre Ausbeute groß, wo viele Fluggäste schnell ihre Flaschen austrinken, die sie nicht mit an Bord nehmen dürfen. Julia Csabai hat sich zu dieser Zeit mal neben einen Eimer gestellt und mitgezählt. Durchschnittlich alle 30 Sekunden, ergab ihre kleine Untersuchung, griff ein Flaschensammler damals in die Tonne. Als der Flughafen den Sammlern im Juni 2014 Hausverbot erteilte, kamen manche als Touristen getarnt wieder, gut angezogen und mit Rollkoffer.

An Gate 15 warten die Leute für den Flug nach Istanbul

An Gate 11, wo gerade der Germanwings-Flug aus Düsseldorf mit neun Minuten Verspätung gelandet ist, warten Chauffeure. „Vielleicht auf einen Politiker“, sagt Julia Csabai und geht gleich mal nachfragen. Ein bisschen enttäuscht kehrt sie zurück: „Ist nur irgendein Kongress.“ Die Vielflieger, egal ob Politiker oder Geschäftsleute, seien entspannter, haben beide beobachtet, Urlauber dagegen oft nervös. Evelyn Csabai schüttelt ein wenig den Kopf. „Es ist unglaublich, wie viele Leute sich hier anschreien: Musst du schon wieder aufs Klo? Oder wenn der eine ein Besserwisser ist: Hast du denn wirklich die Wasserflasche aus dem Koffer genommen? Als ob es eine Strafe wäre, gemeinsam zu verreisen.“

Unsere Runde durch das zentrale Terminal von Tegel ist fast vorbei. An Gate 15 warten Leute in einer langen Schlange: der Turkish Airlines-Flug nach Istanbul. „Wenn man sich hier anderthalb Stunden hinsetzt, kommt man voll auf seine Kosten. Interessant sind die Abschiedsrituale, mit Handkuss für den Ältesten, wo Hierarchien in der Familie sichtbar werden“, sagt Evelyn Csabai.

Den Schwestern ist kaum mehr etwas Menschliches fremd. Nur eines können sie wirklich nicht verstehen: Dass manche Leute den Flughafen nicht so interessant finden wie sie. Es gab sogar Kollegen, die staunten, wie die beiden aus dem vermeintlich langweiligen Arbeitsalltag auf dem TXL ein ganzes Buch machen konnten.

Bei einer Fluggesellschaft arbeiten wollten sie trotzdem nie. „Als sozialistische Kinder haben wir eine Abneigung gegen Uniformen“, sagt Julia Csabai. Und ihr Café „Lola was here“ haben sie auch lieber am Arnimplatz aufgemacht, wegen der kurzen Wege. Denn auf einer Seite des Platzes wohnt Julia und auf der anderen Schwester Evelyn.

Es gibt auch schon eine Idee für ein neues Buch: In einem Café, sagen die beiden, könne man so gut Geschichten sammeln.

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