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© Margrit Müller

Sonntagsinterview: "Ich bin ein Mann mit einem Mutterherzen“

Was treibt einen Selbstmordattentäter an? Wie wirkt Obamas neue Politik? Gehad Mazarweh über seine Einsichten in die arabische Psyche.

Herr Mazarweh, Sie sind einer der wenigen palästinensischen Psychoanalytiker und einer von nur 16 arabischen Kollegen weltweit. Wie kommt das?



In arabischen Gesellschaften gilt, dass psychische Störungen nur bei anderen Kulturen zu suchen seien. Die Psychoanalyse sagt, psychische Krankheiten sind Produkte sozialer Verhältnisse, aber in der arabischen Welt wird jede Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen abgelehnt. Dabei ist die psychische Beeinträchtigung in den letzten Jahren enorm gewachsen. Menschen, die noch vor einigen Jahrzehnten als Beduinen gelebt haben, sind überfordert von der Moderne und haben sich von ihren islamischen Wurzeln entfernt, die bis dahin die Grundlage für die Menschen dargestellt haben. Viele greifen zu Alkohol und Drogen, vor allem in den Golfstaaten.

Sie sind 1941 im palästinensischen Taibeh geboren, das seit 1948 zum neu gegründeten Israel gehört. Wie lebte es sich als arabisches Kind in Israel?


Es war schwierig, meine Kindheit war geprägt durch eine immer präsente Diskriminierung. Ich stamme aus einer konservativ-liberalen Großfamilie, mein Vater war Geschäftsmann. Als Grundschüler erlebte ich, wie Tausende von Palästinensern vertrieben wurden, wie Armut, Elend und Verzweiflung sich ausbreiteten. Ich habe auch erlebt, wie ein israelischer Polizist alle Araber in einem Bus zwang, auszusteigen und im Regen zu liegen. Er trat mit seinen Stiefeln auf unsere Finger. Ich war immer politisch aktiv, schon im Gymnasium. Unser Städtchen war früher reich, Anfang der 50er Jahre besaßen die Menschen dort noch 35 000 Hektar Land, jetzt sind es nicht mal mehr 3000 Hektar, obwohl die Zahl der Einwohner von 5000 auf 46 000 stieg. Es ist absehbar, dass die Benachteiligung der Palästinenser in Israel zunehmend zu Konflikten führt.

Warum gingen Sie weg?

Eines der schlimmsten Erlebnisse für mich war, wie mein Vater bei einer Polizeikontrolle gedemütigt und geschlagen wurde. Da brach mein Weltbild zusammen. Und ich merkte, wie aggressiv und kompromisslos ich wurde. Ich ging nach Freiburg und begann dort zu studieren. Aber ich habe immer noch sehr enge Beziehungen zu meinem Zuhause in Palästina-Israel. Ich freue mich darauf, ab August mit der psychoanalytischen Ausbildung von jungen, begeisterten Menschen in Haifa beginnen zu können.

Aus welchem Grund haben Sie Ihren israelischen Pass nie abgegeben?

Das ist meine Heimat, ob der neue israelische Außenminister Lieberman will oder nicht. Identität kann man nicht einfach wechseln. Ich behalte diese Staatsangehörigkeit – auch mit Freude!

Es dürfte nicht viele Palästinenser geben, die darüber gleichzeitig Wut und Freude formulieren können.

Meine zwei Seelen kommen ganz gut miteinander aus. Ich war zwar nie stolz, Araber zu sein, aber ich habe mich dessen auch nie geschämt. Mich hat die Widersprüchlichkeit dieser beiden Gefühle lange zermürbt, bis ich merkte, dass eine Koexistenz dieser Gefühle ein Vorbild sein kann für die Koexistenz zweier Kulturen.

Sie gingen wegen der Erniedrigung des Vaters weg. Der Psychiater Iyad Sarraj aus Gaza beobachtete im Gazakrieg, wie Jungen ihre Väter als Verdiener und Beschützer verloren. Er befürchtet, dass die nächste Generation noch militanter wird, denn „sie haben ihre Identität als Araber und Macho, und als starker Mann Leiden auszudrücken bedeutet Schwäche“.

Auch ich bin sicher, dass sie noch militanter werden. Wir sind eine patriarchalische Gesellschaft, der Vater steht ganz oben. Ein funktionierendes Patriarchat bedeutet Einschränkung, aber auch Sicherheit, Schutz und Solidarität. Der Zerfall der sozialen Strukturen hat das Patriarchat geschwächt, dennoch fordern die Väter weiterhin Macht und Respekt und die Söhne weiterhin Schutz, sie wollen die Väter als Helden sehen. Wenn ihre verinnerlichten Vorbilder erniedrigt werden, ohne sich wehren zu können, ist das für Kinder eine große Bedrohung. Sie werden unberechenbar, reagieren mit Zorn. Diese massive narzisstische Kränkung und die verdrängte Wut führen zu einem explosionsartigen Protest. Die Menschen in der Westbank, in Kairo oder Amman schreien sich den Schmerz aus der Seele. Die Spannung ist so groß, dass sie die Kontrolle über sich verlieren.

Mohammed Atta hatte ebenfalls einen strengen, misshandelnden Vater, den er ehren sollte – und übertrug seine kaputte Vaterbeziehung auf Allah.

Nicht auf Allah, sondern auf weltliche Autoritäten. Zwar sagen einige: Die 70 Jungfrauen, die im Paradies auf sie warten sollen, haben sie motiviert. Aber die könnten sie doch im Leben leichter haben. Es gibt vielmehr einen Zusammenhang zwischen der Schwäche des Vaters und der daraus entstandenen Orientierungslosigkeit, dem Zerfall der patriarchalen Strukturen und den Tendenzen zur Selbstzerstörung. Meiner Ansicht nach ist die erste Intifada der Palästinenser nicht nur gegen die israelische Besatzung gerichtet gewesen, sondern auch gegen die eigenen Väter. Stellen Sie sich eine Familie mit sechs Kindern vor, die am Rande der Wüste von Jordanien in einer Blechhütte lebt, ohne Wasser, Kanalisation, abhängig von den Essensrationen der UNO. Solche Menschen ertragen die Erniedrigung irgendwann nicht mehr. Sie sind suizidgefährdet. Aber im Islam ist Suizid verboten. Deshalb bringen sie sich auf diese, wie sie glauben, ehrenhafte Weise um.

„Ehrenhafte“ Erhöhung, um die Erniedrigung wettzumachen?

Ja. Vor einigen Jahren fuhr ich durch die Westbank. Bei extremer Hitze sah ich Kinder herumstehen. Ich fragte sie: Was macht ihr hier? Sie antworteten: Wir warten hier, bis die Siedler ihre Kühe gewaschen haben, damit wir Wasser zum Trinken mitnehmen dürfen. Sie kamen in der Rangfolge nach dem Vieh. Ist es nicht verständlich, dass solche Kinder irgendwann nicht mehr leben wollen? Wenn sie sich in die Luft sprengen, sind sie plötzlich Helden, so widerwärtig das ist.

Der palästinensische Scheich Abdullah Azzam, der Freund und Lehrer von Osama bin Laden, war der Erste, der in den 80ern Märtyrertum und Selbstmordattentate propagiert hat.

Ja, aber das ist keine arabische und vor allem keine islamische Tradition, denken Sie nur an die japanischen Kamikazeflieger im Zweiten Weltkrieg. Bis heute gibt es darüber eine Auseinandersetzung zwischen islamischen Gelehrten. Die einen sagen, das ist verwerflich. Die anderen verweisen auf einen Vers im Koran, in dem es heißt: Vertreibt sie, wovon sie euch vertrieben haben. Wenn im Gazakrieg 400 Kinder getötet wurden, bekommen das alle mit. Wenn ein Patient von mir seine Schwester verliert und fünf Kinder, was soll ich ihm erklären? Ich kann nur hoffen, dass er nichts Unvernünftiges tut.

Die arabischen Familienstrukturen sind anders als die westlichen – kann man die Psychoanalyse überhaupt auf sie übertragen?

Die Familienverhältnisse im Orient ähneln denen zu Zeiten Freuds in Europa: der enge familiäre Zusammenhalt, die Hierarchie, die klaren Vorstellungen von Macht. Ich habe in meiner Praxis viele Muslime, Männer und Frauen, die alle am Anfang der Therapie sehr verängstigt sind. Die arabischen Frauen erlebe ich als stark, die Männer, die zu mir kommen, nicht. In meiner 30-jährigen Praxis hat keine einzige Frau die Analyse abgebrochen, aber nur ein einziger Mann hat seine Therapie wirklich zu Ende geführt!

Wie erklären Sie sich das?

Ich will diese Männer nicht entwerten, ich bin ja selbst ein arabischer Mann. Aber es wird höchste Zeit, dass wir aufhören mit Selbstüberschätzungen und Unterlegenheitsgefühlen. Viele Männer, die sich unterlegen fühlen, werden ihren Frauen gegenüber gewalttätig. Ich sehe in der arabischen Frau eine sichere und stabile Zukunft, aber nicht im Mann. Der arabische Mann ist an den hohen Erwartungen seiner Gesellschaft gescheitert. Wir halten an einer Vorstellung von Männlichkeit und Tapferkeit fest, die seit langer Zeit nicht mehr existiert. Die Entfernung vom Islam und die Entfremdung von der eigenen Identität verstärken dies.

Was ist die Ursache dafür?

Viele Araber sind der Meinung, dass die Türken die Engländer, die Franzosen für ihr Schicksal verantwortlich sind. Natürlich, sie waren unterdrückende Kolonisatoren. Aber der eigenen Verantwortung stellt man sich nur ungern. Die Türken waren vor über 100 Jahren in der arabischen Welt! Dann vertrieb man die Kolonisatoren und ersetzte sie durch arabische Führer, die leider unfähig sind, auch nur die Hälfte dessen, was die Kolonialherren getan haben, zu leisten. Und der Westen unterstützt diese Marionetten.

Haben Sie dennoch Hoffnung?

Ja! Die Jungen arbeiten aktiv auf Veränderungen hin. Zugleich gibt es bereits tausende hochkarätige arabische Wissenschaftler, die außerhalb ihrer Länder leben und eines Tages zurückkehren werden. Egal wie sicher ein Regime sich wähnt, irgendwann wird es zusammenbrechen.

Spätestens wenn das Öl zu Ende geht?

Schon vorher! Bisher wurden manche Regime zusammengehalten, weil mächtige US-Einheiten dort stationiert sind. Aber so wie der Westen jetzt versucht, moderat mit dem Iran zu sprechen, muss er irgendwann begreifen: Diese Herrscher sind das Allerschlimmste für eine gesunde Entwicklung der Bevölkerung und einen selbstbewussten Umgang des Orients mit dem Okzident. Hierbei ist es sehr wichtig zu betonen, dass nicht eine Demokratie nach westlichem Vorbild angestrebt werden kann, sondern dass ein politisches System in der Region etabliert werden muss, welches die religiösen Grundlagen des Islam beinhaltet.

In Ihrer Praxis behandeln Sie arabische Folteropfer – Sie gehörten zu den Ersten, die dafür die Psychoanalyse benutzten.

So schwierig die Arbeit mit Folteropfern ist – ich bin froh, das gewagt zu haben. Ich musste etwas entwickeln, um diesen zerstörten Menschen, die zu mir kamen, zu helfen. Viele Folteropfer sind Menschen, die in ihren Ländern für ihre Freiheit eingetreten sind. So auch ein arabischer Journalist, der nach schwerer Folter nicht mehr sprechen konnte.

Weil er den Lebensmut verloren hatte?

Ja. Er hat seine Familie verloren und unendlich viel Schmach erlebt. Und doch war das eine meiner schönsten Psychoanalysen. Ich sagte zu ihm: Ich spreche und Sie schreiben und ich deute. Das war sehr aufwühlend. Es gibt ja Tausende von Foltermethoden! Zum Beispiel, einen Bambusstab voller Ameisen in den After eines Opfers einzuführen … Wir haben zusammen gearbeitet, und ich merkte, es bewegt sich etwas. Eines Tages verabschiedete er sich von mir, und ich war so depressiv, ich konnte nicht mal mehr aufstehen. Da wusste ich: Er hat seine Depression bei mir deponiert. Eine Woche später begrüßte er mich: Salam alaikum! Trotzdem: Wer jemals die Schmach der Folter erlebt hat, wird niemals wieder in der Welt heimisch …

… wie Jean Améry in seinem berühmten Essay über Folter schrieb.

Genau. Ich habe die Tochter eines orientalischen Generals behandelt, der in seinem Land zuständig war für die Folter. Er hat seine eigenen Kinder gefoltert! Er hatte eine Folterkammer zu Hause! Nirgendwo auf der Welt wird so viel gefoltert wie in der arabischen Welt und Israel – ich weiß das von meinen Kollegen dort.

Diese vielen grauenvollen Geschichten – wie halten Sie das persönlich aus?

Der tiefe Glaube an eine Idee kann Menschen stark machen. Ich kann meine Vorstellung vom Humanismus in meiner muslimischen Erziehung wiederfinden. Meine Arbeit ist meine Solidarität mit den Unterdrückten. Es ist so wertvoll, wenn sich Patienten am Ende mit einem besonderen Lächeln verabschieden. Daran merke ich, wie der Sonnenaufgang in einer Kultur aussehen kann.

Poetisch ausgedrückt.

Ich verdanke diesen Patienten den Zugang zu einer Welt, die mir jahrelang versperrt war. Ich habe eine Patientin, die gefoltert und vergewaltigt wurde. Bei der Schilderung einer Folterszene bekam sie mit, dass mir Tränen in die Augen traten. Sie ist stärker als ich. Wissen Sie: Wir sind alle füreinander verantwortlich. Ich habe es von meiner Mutter gelernt. Meine Mutter ist bis heute mein Vorbild. In allem, was ich tue, verkörpere ich nur ein kleines Stück ihrer Menschlichkeit, Liebenswürdigkeit, Wärme, ihrer Zivilcourage. Ich bin ein Mann mit einem Mutterherzen. Und ein Mutterherz ist nicht nur weich.

Haben Sie unter Ihren Patienten auch welche von der Gegenseite kennengelernt?

Ich hatte auch einen Folterer als Patienten. Ich war verpflichtet, seine Lebensgeschichte in aller Neutralität anzuschauen. Und hatte das Gefühl, er ist viel bedauernswerter als all die Menschen, die er folterte.

Ihr Kollege Fethi Banslama aus Paris schreibt: „Die Moderne bringt Muslime unwillentlich dazu, ständig ihre Grenzen zu überschreiten, etwa wenn sie überall, im Fernsehen oder auf Plakaten, leicht bekleidete Frauen sehen. Die Gläubigen haben permanent das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Eine Möglichkeit, Schuld zu sühnen, kann ein Opfer des Gläubigen sein.“ Sehen Sie das auch so?

Nein. Natürlich – für Gläubige, aber auch für jeden Menschen mit Selbstrespekt sind diese Pornoshows im Fernsehen einfach unerträglich. Ein Muslim sollte so etwas nicht anschauen. Der Frauenkörper hat für Muslime einen besonderen Wert. Aber in der westlichen Industriegesellschaft wurde aus der Intimität eine Ware. Die Würde der Frauen muss unter allen Umständen geschützt werden. Frauen hatten zu Zeiten des Propheten das Recht, an Beratungsgesprächen teilzunehmen. Und heute sind die muslimischen Frauen auf dem besten Weg, ihre eigene Emanzipation zu erkämpfen.

Obama hat in seiner umjubelten Rede an die arabische Welt in Kairo mehr Respekt für die Muslime versprochen. Glauben Sie, dass das Wirkung hat?

Nein. Solange die Araber sich so untertänig verhalten wie bisher, werden sie von keinem Volk und keinem Regierungschef dieser Welt Respekt bekommen. Wenn sich die arabischen Außenminister treffen, kommt es zu keiner Übereinkunft, geschweige denn zu einem Beschluss für gemeinsames Handeln. Es gibt 380 Millionen Araber, schauen Sie doch, wie die miteinander umgehen. Auch Barack Obamas Bereitschaft für mehr Achtung und Anerkennung der arabisch-muslimischen Welt wird sehr wenig ausrichten, wenn es in den betreffenden Ländern von innen her keine Veränderung gibt.

Interview: Ute Scheub

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