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Auf der Suche. Die Eltern McCann wollen auch vier Jahre nach dem Verschwinden des Mädchens weiterforschen.

© Sören Stache/dpa

Spurlos verschwunden: Madeleine McCann: Das verlorene Kind

Vier Jahre Suche nach Madeleine "Maddie" McCann, vier Jahre Kontroversen. Seit dem Verschwinden des britischen Mädchens in Portugal fiebert eine weltweite Fangemeinde mit – warum nur?

Von Caroline Fetscher

Ein Kind wird Kult. Tausende Zeitgenossen setzen sich für ein vermisstes, kleines Mädchen ein, das ihnen gänzlich unbekannt ist. Regelrechte Kampagnen haben sie ins Leben gerufen, die Eltern von Madeleine „Maddie“ McCann und deren Unterstützer. Sie haben Bilder des Kindes auf Poster gedruckt, Spendenaktionen angezettelt und mehr als eine Million Pfund gesammelt. Aufrufe zur Suche nach „Maddie“ zirkulieren im Internet, nicht nur auf Facebook oder MySpace. Das Material ist vehement mit Emotionen aufgeladen. Einige Portale vermitteln die Anmutung makabrer Fan-Websites, komplett mit Fotogalerie, Stofftierabbildung, Gebet und Lyrikecke. „Du sollst dich nicht von den Titelseiten fegen lassen“, so beschwört der schottische Dramatiker Lorn Macintyre das Mädchen in melodramatischem Kitsch. Weder Bombenattentate noch Flutkatastrophe mögen das Bild des Kindes aus der Zeitung vertreiben. („Let not the bombs of the fanatics / blow you from the front pages,/ nor floods submerge your face / in the evening bulletin“.)

Spurlos verschwunden ist seit dem Mai vor vier Jahren die damals vierjährige Madeleine. Sie soll zuletzt in einem Hotelzimmer in Portugal gewesen sein, wo die britische Familie McCann Ferien am Meer machte. Als „Alptraum aller Eltern“, schilderte nicht nur die Sensationspresse die Ereignisse. Seit „Maddie“ verloren ging spannen ihre Eltern die halbe Welt für die Suche ein, die mitunter zum Selbstzweck geronnen zu sein scheint. Die McCanns bereisten Marokko und Spanien, Deutschland und Portugal, sie erhielten sogar eine Generalaudienz im Vatikan bei Papst Benedikt XVI. Und seit dem Verschwinden des Kindes schießen Spekulationen ins Kraut, die den Kult um das Kind nur umso üppiger wuchern lassen – und selber Teil des Kultes werden. Zuletzt behauptete ein Hobbydetektiv, ein Ring von Pädokriminellen an der portugiesischen Algarveküste habe das Kind verschleppt.

Ein Kind wird Kult, und das hat Gründe. „Das verlorene Kind“ ist ein Topos nicht nur von Alpträumen, sondern auch von Legenden. Zu den Zutaten solcher Narrative gehören auf der einen Seite bangende Mütter, flehende Familien und mutige Retter, auf der anderen Seite fremde Wüstlinge, skrupellose Räuber, anonyme Täter. Im Fall „Maddie“ kann jeder Konsument seinen eigenen Krimi im Kopf zusammenbasteln, mitfiebern, sogar partizipieren, als Voyeur, Retter oder Detektiv. 2009 erwirkten die Eltern eine einstweilige Verfügung gegen ein Buch des portugiesischen Chefermittlers mit dem Titel „Die Wahrheit über die Lüge“. Vermutlich habe das Mädchen, so schrieb der Kriminalbeamte, von den Eltern, die den Abend ohne ihre Kinder im Restaurant verbrachten, ein Schlafmittel erhalten, das versehentlich oder absichtlich überdosiert worden sei. Dann hätten die Eltern den Körper des Kindes fortgeschafft. Spürhunde im Ferienapartment hätten Leichengeruch gewittert. Jenseits dieser Version, die dem Kult um „Maddie“ und ihre leidenden Eltern abträglich war, blüht die Spekulation, ein anderer Begriff für die Fantasie davon, was sich zugetragen haben mag. Spekulation quillt aus der Leerstelle, der Lücke in diesem Narrativ von der Vermissten, das sich als große Leinwand für Projektionen anbietet, hinter der die reale Madeleine vollends verschwindet.

Was aber ist das Motiv für den massenhaften, als Anteilnahme verkleideten Kult um dieses Mädchen und ihre Eltern? Warum dieses Kind? Warum dieser Fall? Vom Boulevard werden genügend Tragödien angeboten. Einiges ist hier besonders auffällig. Erstaunlicherweise lassen die Beteiligten zum Beispiel den Umstand außer acht, dass Madeleines Eltern am Abend des Verschwindens ihre Kinder, zweijährige Zwillinge und eine Vierjährige, zunächst selber vorübergehend „verschwinden lassen“ wollten, indem sie die Kinder im Hotel allein ließen. Dem verlorenen Kind haftet ein Hauch vom verstoßenen Kind an, dem verschwundenen ein Gran des verwunschenen Kindes. Zum Klima zahlloser Elternhäuser gehört der Grundton vom Kind, das stört, das man manchmal am liebsten weg hätte, das zu viele Bedürfnisse zeigt und zuviel Einschränkungen abverlangt. In der kruden Version des Chefermittlers ist diese Konstellation präsent.

In der Version der Fangemeinde von „Maddie“ kann nicht sein, was nicht sein darf: Dass auf die Eltern selber ein Schatten fällt. Mit dem dunklen, mitschuldigen Teil der Eltern wird man sich nur unbewusst identifizieren, ins Bewusstsein dringen darf allein der Teil der Geschichte, in dem „wir alle“ an einem Projekt der Wiedergutmachung teilhaben. „Die Eltern wollten halt mal ausgehen“, „sie wollten mal ihre Ruhe haben“, wird bagatellisiert.Dass das Motiv nicht verurteilt wird, findet die Berliner Theatertherapeutin und Mutter einer Tochter, Beate Ehlers, ganz besonders bemerkenswert: „Die Eltern erlauben sich, ins Restaurant zu gehen und drei Kleinkinder in fremder Umgebung allein zu lassen. Es ist erstaunlich, wie viel Solidarität solche Rabeneltern erfahren.“ Indem der Impuls, das Kind loszuwerden komplett auf anonyme Täter verschoben wird, die sich jeder nach seinen Vorstellungen ausmalen kann, so vermutet Ehlers, wird eine große Schuldlast kollektiv mitverschoben. Zugleich, so ließe sich deuten, repräsentiert das im Mittelpunkt des Narrativs stehende „verlorene Kind“ einen Aspekt des inneren, verlorenen Kindes in der Psyche des Erwachsenen, dessen Kindheit in der Regel der Amnesie anheim gefallen ist. In der millionenfach nachvollzogenen Docufiction des Maddie-Dramas, der Soap-Opera, an der jeder partizipieren kann, werden die schuldigen Eltern und das verlorene Kind nach außen gestülpt, wo sie als schauriges, trauriges Epos ihr von der eigenen Psyche abgespaltenes Dasein fristen dürfen.

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