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Panorama: Statistisches Risiko

Sind Atomkraftwerke schuld an Kinderleukämie?

Berlin - Das Risiko, an Leukämie zu erkranken, ist für Kinder unter fünf Jahren, die in einem Radius von fünf Kilometern rund um ein Atomkraftwerk in Deutschland leben, höher als für Kinder mit anderen Wohnorten. Diese Kernaussage aus der im vergangenen Dezember vom Bundesamt für Strahlenschutz (BFS) vorgestellten „Epidemiologischen Studie zu Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken“ (Kikk) hat am Donnerstag in Berlin auch die Strahlenschutzkommission (SSK) bestätigt. Nur, warum das so ist, wissen die Wissenschaftler nicht.

Ist es also Zufall, dass ausgerechnet in der Elbmarsch mit dem Atomkraftwerk Krümmel sowie rund um die Atomfabriken im englischen Sellafield die Zahl der Leukämieerkrankungen von Kindern höher ist als anderswo? Die SSK und auch das BFS halten die Strahlung jedenfalls nicht für die Ursache dafür. Die SSK hat im Auftrag des Umweltministeriums eine Forschergruppe aus Experten aller relevanten Fachbereiche mit der Bewertung der Kikk-Studie beauftragt. Der Vorsitzende der Kommission, Rolf Michel, sagte, nach Überprüfung sämtlicher Messdaten über die radioaktive Strahlenbelastung, die Atomkraftwerke im Normalbetrieb an die Umwelt abgeben, „halten wir Strahlung als Ursache für höchst unwahrscheinlich“. Nach allen Erkenntnissen, die es etwa nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl gegeben habe, „müsste die Strahlenbelastung um den Faktor 1000 höher sein“, um die Kikk-Ergebnisse zu erklären. Die Strahlendosis lasse sich lediglich errechnen. Weil es überall in Deutschland noch Belastungen aus den oberirdischen Atomwaffenversuchen der sechziger Jahre und der Wolke von Tschernobyl gibt, lässt sich nicht real messen, welchen Beitrag die Atomkraftwerke dem noch hinzufügen. „Wir wissen nur genau, was rausgeht“, sagte Rolf Michel.

Außerdem wies Michel darauf hin, dass es selbst an geplanten Standorten für Atomkraftwerke, die nie gebaut wurden, teilweise eine erhöhte Zahl von Krebsfällen bei Kindern gegeben habe. Zudem wiesen die Wissenschaftler der SSK-Arbeitsgruppe nach, dass es für Kinder, die auf dem Land leben, ein höheres Risiko gibt, an Leukämie zu erkranken, als für Stadtkinder. Der Leiter der Arbeitsgruppe, Wolfgang-Ulrich Müller, sprach von einer Vielzahl weiterer Risikofaktoren für die Entstehung der Krankheit: Ackergifte, Magnetfelder, Sozialstatus, Geburtsgewicht oder Infektionen. Müller zitierte eine Studie, die in Los Angeles nachgewiesen hatte, dass der Verzehr von mehr als 12 Hotdogs im Monat das Leukämie-Risiko erhöht, und sagte: „Mit der Epidemiologie kommen wir da an die Grenze.“

Das Problem sei, dass „wir zu wenig über die Entstehung von Leukämie bei Kindern wissen“, sagte Müller. Die versammelten Wissenschaftler und das Umweltministerium sprachen sich am Donnerstag in Berlin für eine intensivere Erforschung der Krankheit bei Kindern aus. Der Epidemiologe Heinz-Erich Wichmann würde Eltern mit einem Kinderwunsch jedenfalls nicht dazu raten, aus dem Fünf-Kilometer-Radius um ein Atomkraftwerk wegzuziehen, „denn wir können niemandem sagen, wohin er denn ziehen soll“. Die Forscher gehen davon aus, dass der Zeitpunkt der Diagnose von Leukämie wenig darüber aussagt, wie die Krankheit entstanden ist. Sie halten es für wahrscheinlich, dass schon in der Schwangerschaft Anlagen für die Krankheit entstehen. Doch das allein setze die Erkrankung nicht in Gang, sagte Müller.

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