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Panorama: Süchtig nach Sachen

„Messies“ leiden unter dem Zwang, alles aufheben zu müssen. Sie verzweifeln daran. Nun will ein Kongress helfen

Tief unten im Labyrinth der Dinge ist ein kleiner Bildschirm zu erkennen. Äußerlich macht er einen leicht ramponierten Eindruck, aber Äußerlichkeiten interessieren hier nicht. Bernhards Röntgenaugen erkennen nur innere Werte, das Ding an sich. „Der gehört zu einem Atari. Funktioniert eigentlich noch." Bernhard reibt seinen Hinterkopf, sein Gesicht zieht sich zusammen. Diesen Satz nur zu denken, tut schon weh. Dann spricht er ihn doch aus: „Könnte man eigentlich auch wegschmeißen."

Fast alles hier könnte man wegschmeißen. Nur tut es keiner. Und Bernhard kann es nicht. Bernhard ist ein Messie. Als Messies bezeichnen sich Menschen, die alles aufheben müssen. Die Dinge, die mal in ihre Wohnung gekommen sind, verlassen sie nicht mehr. Irgendwann ist die Wohnung voll, ein Durchkommen zum Bad nur noch auf engen Trampelpfaden möglich. In den stetig anschwellenden Trödelbergen findet sich der Messie selbst nicht mehr zurecht. Aus Scham lässt er niemanden mehr hinein. Die Spirale aus Vermeidungstrategie und Verzweiflung darüber kann zur Zwangsräumung der Wohnung, zur sozialen Isolation und schließlich zum Selbstmord führen, sagt Jochen von den „Anonymen Messies Deutschland“. 1,8 Millionen Menschen sollen bundesweit unter dem Messie-Syndrom leiden. Inzwischen gibt es bundesweit 162 Selbsthilfegruppen mit rund 7000 Mitgliedern.

Viele Messies haben einen Hochschulabschluss, sind vielseitig interessiert, leiden aber häufig an mangelndem Selbstwertgefühl und überzogenem Perfektionismus. Messies sind eigentlich Ordnungsspezialisten. Weil es aber die absolute Ordnung nicht gibt, versinken sie im Chaos.

Bernhard ist – so besehen – ein typischer Messie. Der 51-jährige Kreuzberger hat Theologie und Sozialpädagogik studiert, arbeitet aber als Datenbankprogrammierer. Aufräumen bei anderen ist für ihn ein Kinderspiel. Fängt er bei sich an, fällt ihm zu jedem Zeitungsartikel ein Grund ein, ihn vielleicht doch noch aufzuheben. Aber wohin damit? Also liegenlassen. Oder diese völlig nutzlosen Metallgewinde da auf dem Regal. Wird er in 50 Jahren nicht brauchen, sind aber noch fast neu, wäre doch schade... Mit verklärtem Blick betrachtet Bernhard auch sein kleines Gläschen mit den Wolframfäden, die er aus alten Glühbirnen herausgelöst hat. Also das würde er niemals weggeben. Oder die Bleigewichte aus alten Gardinen, die Würfelbecher, Möbelgleiter, Tapetenrollen, Metallkugeln, Muscheln im Gurkenglas, Gummischläuche, Jutebeutel, Klebebänder, Gummiringe, die alte Hifi-Anlage. Viele Dinge findet Bernhard witzig, reizvoll oder zumindest nützlich, die meisten sind zwar akut überflüssig, aber einfach so wegschmeißen? „Ich entwickele eine Solidarität mit Dingen, die schon lange bei mir sind." Bernhard weiß, dass ein Teil des Problems bei ihm liegt. Ein weiterer Teil liegt darin, dass er keinen Keller hat. Bernhard kauft nur Dinge, die er noch nicht hat. Oder von denen er nicht mehr weiß, wo sie sind.

Letzteres ist für einen Messie, den Ordnungs-Perfektionisten, ein schmerzhaftes Eingeständnis. Bernhard sagt es so: „Den Komplexitätsgrad der Dinge in meinem Zimmer kann ich im Kopf nicht mehr abbilden." Das Chaos darf nur so groß sein, dass der Kopf darin noch eine Ordnung erkennen kann. In Bernhards Zimmer ist diese Schwelle klar überschritten. Jüngster Räumversuch ist ein Trennregal. Da kommen alle Sachen rauf, von denen sich Bernhard lösen will, ohne sie gleich wegzuwerfen.

Die Anonymen Messies veranstalten an diesem Sonnabend ihren „4. Regionaltag" im Rathaus Neukölln. Infos unter Tel. 464 994 09.

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