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Ted Weisberg: Mit dem Beben leben

Ted Weisberg, der große alte Mann der Wall Street, hat schon viel durchgemacht. Diesmal ist alles anders

Das Bild ist nur allzu vertraut in diesen Tagen. Da starren die Aktienhändler an der Wall Street entsetzt auf ihre Bildschirme, fassen sich an die Köpfe, schleichen mit hängenden Schultern nach Hause. Nur Ted Weisberg erwischt man so eigentlich nie. Wenn selbst sein Sohn Jason, mit dem er zusammen die Broker-Firma Seaport Securities in New York führt, fluchend aus dem Ausgang an der Broad Street in die New Yorker Nachmittagssonne tritt und zwischen den Touristen, den Demonstranten und den Fernsehkameras hindurch zurück ins nahegelegene Büro stapft, gibt Vater Weisberg noch freundlich ein Interview. Der Tenor ist meist derselbe: Es sind schwierige Zeiten, aber man dürfe die Zuversicht nicht verlieren. Man müsse einen kühlen Kopf bewahren, durchhalten.

Doch an diesem Freitagnachmittag klingt Theodor P. Weisberg, wie er mit vollem Namen heißt, wie ihn aber keiner nennt, müde. Und er ist ungewohnt einsilbig. Der Tag an der Börse sei „interessant“ gewesen, raunzt er nur – vielleicht die Untertreibung des Jahrhunderts. Am Ende einer schwarzen Woche, in der der Dow-Jones-Index mehr als 2000 Punkte oder 20 Prozent verlor, spielten die Kurse noch einmal verrückt. Kräftige Verluste am Anfang des Handelstages drückten den Index zeitweise unter die 8000-Punkte-Marke, dann kletterte er wieder ins Plus, verlor erneut. Am Donnerstag war der Dow eine Stunde vor Handelsschluss dramatisch in den Keller gefallen. Dieses Mal lag er um 15 Uhr bei minus 468 Punkten, schoss 790 Punkte nach oben und schloss schließlich bei minus 128.

Die Dose mit den Kopfschmerztabletten hatte sich Weisberg schon zu Beginn der Woche zugelegt, eine große. Er ahnte, dass das 700 Milliarden Dollar schwere Rettungspaket, das sie vor einer Woche in Washington beschlossen haben, um die Krise auf den internationalen Finanzmärkten einzudämmen, nicht sofort wirken würde. „1987 habe ich kein Excedrin gebraucht“, sagt er, „überhaupt nehme ich eigentlich keine Pillen, keine Drogen. Aber dieses Mal ist es anders.“ Am 19. Oktober 1987 fiel der Dow Jones an einem einzigen Tag um 22,6 Prozent. Ein bis heute unerreichter Rekord. „Die Leute waren am Ende des Tages fix und fertig“, erinnert sich Weisberg, der sich 1979 mit seiner Firma selbstständig gemacht hatte. „Es war unglaublich: Die Emotionen und die Spannung und die Furcht – man konnte es fühlen, berühren, schmecken. Ich war mitten in einem Bad der Panik.“ Dieses Mal ist es anders, ein Crash in Zeitlupe, ein langer, qualvoller Schmerz. Und ein abstrakter.

Vor 20 Jahren arbeiteten an der Wall Street 5000 Händler auf dem Parkett, es würde gebrüllt, gefuchtelt, gerannt. Seit der Großteil des Handels sich elektronisch abspielt, ist es leer geworden auf dem Parkett. Gerade mal 1000 machen es noch wie Weisberg. Das 1903 eingeweihte Gebäude an der Wall Street/Ecke Broad Street wurde zum „Mausoleum des Dollars“, wie der „Spiegel“ einmal schrieb. An manchen Tagen ist so wenig los, dass Weisberg dreimal mit den Reportern des öffentlich-rechtlichen Senders NPR telefoniert und live seine Eindrücke vom Parkett schildert. Er sagt dann Sachen wie: „Es ist ein schweres Gewitter heute. Die richtige Zeit, um seine Hausaufgaben zu machen, denn da draußen wittern wahrscheinlich ein paar Leute spektakuläre Möglichkeiten.“ Den letzten Teil des Satzes spricht er in dem Singsang der Anpreiser beim Teleshopping.

Ein kleiner Scherz, denn der Mann mit dem weißen Haarkranz und der randlosen Brille, der im Alter von 29 Jahren an der Wall Street begann und gerade 69 geworden ist, hat so gar nichts mit einem schmierigen Verkäufer gemein. Er ist durch und durch old school. Seine Firma mit neun Mitarbeitern hat er in guten Zeiten nicht erweitert, nun muss er sie in schlechten nicht gesund schrumpfen. Er trägt wie die anderen auf dem Parkett auch noch diese merkwürdige blaue Jacke, die vorne aussieht wie ein Arbeitskittel und deren Rücken ein Netzgewebe bildet, damit der Schweiß entweichen kann. „Wir leisten hier harte physische Arbeit“, sagt Weisberg, auch wenn er sich längst nicht mehr an den Kollegen vorbeidrängeln muss. Auf dem Parkett ist jetzt viel Platz.

Sein Tag beginnt morgens um halb sechs auf der Upper East Side mit einem Blick auf den Blackberry und einem Frühstück in einem kleinen Café, in dem er manchmal auch Woody Allen trifft. Vor 20 Jahren wurde Weisberg geschieden, seitdem ist die Börse seine größte Liebe – und das Segeln. Aus seinem Bürofenster im 31. Stock kann er den Hudson sehen und die Schiffe, die an der Freiheitsstatue vorbeiziehen. „Alle fragen, wann der Boden erreicht ist“, sagt er, „doch ich habe keine Ahnung. Alle haben Angst und lassen sich von den kleinsten Nachrichten in die eine oder andere Richtung bewegen. Wir gucken jetzt auf das Treffen der G7 in Washington, aber wahrscheinlich haben wir noch nicht alles überstanden.“

So lange wird Ted Weisberg weiterhin vor die TV-Kameras ziehen und beruhigend auf die Leute einreden wie auf ein krankes Pferd. Er wird hin und wieder eine Kopfschmerztablette einwerfen und mit Wehmut an die Zeiten zurückdenken, als ein Börsencrash noch heftig war und kurz. Überschaubar eben.

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