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Bernd Schulze züchtet u.a. Weidenbohrer, eine Nachtfalterart. Dessen rötliche Raupen werden bis zu zehn Zentimeter lang.

© Thilo Rückeis

Nachtfalter in Berlin und Brandenburg: Die große Flatter

Sie heißen Fuchs, Eulenspinner, Weißfleckwidderchen: 110 Tag- und 800 Nachtfalterarten fliegen in Berlin und im Umland. Ihr Leben und Lieben erforscht die Gesellschaft Orion: Experten, die wissen, wo die geheimen Schmetterlingswiesen der Stadt liegen.

Das Sonnenplätzchen ist gut gewählt. Eine dottergelbe Löwenzahnblüte, der perfekte Ruheplatz für ein Tagpfauenauge. Wie ein Topmodel posiert der Schmetterling aus der Familie der Edelfalter, lässt das Licht spielen auf rostroten Flügeln mit vier schillernden blau-schwarzen Augenflecken. Es ist spät am Vormittag, noch nicht zu heiß, blauer Himmel überm Spandauer Hahneberg. „Bestes Schmetterlingswetter“, sagt Falterexperte Bernd Schulze und schleicht mit der Kamera rüber zum Pfauenauge. Ein Vogelschatten huscht übers Insekt, der Falter lässt die Flügel flattern, breitet sie dann extrem weit aus: Sechs Zentimeter Spannweite, auf denen die Augen so bedrohlich wirken wie die eines größeren Tieres. Die Meise dreht ab.

Bernd Schulze zoomt den Schmetterling heran und gewinnt erste Einsichten in dessen Vita. Ein Hinterflügel sieht etwas zerzaust aus. „Da hat wohl eine Eidechse nach ihm geschnappt.“ Schulze vermutet, das Pfauenauge hat irgendwo in einer Rindenritze geschützt die kalte Jahreszeit verbracht. Es gehört zu den „Überwinterern“ wie der Zitronenfalter, der Kleine Fuchs oder der Trauermantel. Die sind ab April zuallererst unterwegs. Ab Mai gesellen sich dann Arten hinzu, deren Puppen den Frost an Stämmen und am Boden überdauern. Kaum wärmt die erste Sonne, schlüpft das fertige Insekt. Bernd Schulze schaut sich um. Dort drüben, das Aurorafalterpärchen, das über den weißblühenden Knoblauchrauken gaukelt, ist so zur Welt gekommen. Wie den meisten Schmetterlingen sind ihm nur zwei- bis drei Wochen Lebenszeit gegeben, in denen sie vor allem im Auftrag der Arterhaltung unterwegs sind. Das Männchen ist immer prächtiger: orange Flügel, schwarz umrahmt. Das grau-weiße Weibchen legt die Eier auf den Knoblauchrauken ab, die Lieblingsspeise der später schlüpfenden Raupen. Schulze nennt das „Fürsorge im Falterreich“.

Ein Perlmutterfalter.
Ein Perlmutterfalter.

© privat

Wir sind auf Schmetterlingssafari in einem der artenreichsten Falterreviere an der Heerstraße im Westen Berlins. Der Park rund um den Hahneberg steht unter Naturschutz, üppig wachsen Wildkräuter, Brennesseln. In den Laubbäumen, in Birken und Eichen rauscht der Wind. So sieht das Schlaraffenland für Raupen aus, findet Bernd Schulze. Bis zur Pensionierung hatte der 68-Jährige eine Röntgenpraxis in Neukölln, heute züchtet er in seinem Gatower Haus Schmetterlinge in Terrarien – von der Raupe über die Puppe bis zum fertigen Insekt. Alles, was er in seiner Schmetterlings-Puppenstube und auf Exkursionen entdeckt, dokumentiert er für die Entomologische Gesellschaft Orion Berlin. Dort arbeiten Falterfreunde mit wissenschaftlichem Anspruch zusammen.

Rund 110 Tagfalter- und mehr als 800 Nachtfalterarten leben in Berlin und Brandenburg. Kuriose Namen gehören dazu: Moosgrüner Eulenspinner, Weißfleckwidderchen, Brombeerzipfelfalter. Jeder kennt dagegen die Kohlweißlinge, die meist im Duo über die Wiesen taumeln. Verbreitet sind auch Zitronen-, Distel- und Aurorafalter, Pfauenaugen, Füchse, Admirale. Ihr Vorkommen gilt als stabil, von manchen wie dem Tagpfauenauge und dem Admiral gibt es sogar mehr. Noch vor einigen Jahren wanderten sie im Frühling von Südeuropa über die Alpen ein und im Herbst wieder zurück. Wegen der milderen Temperaturen durch den Klimawandel überwintern die meisten inzwischen hierzulande und vermehren sich rascher.

Andere Arten wie der schwarzbraune Kleine Eisvogel, der sich im feuchten Spandauer Forst wohlfühlt, sind selten geworden. 60 Prozent der Falter stehen auf der Roten Liste, sind vor allem durch Monokulturen und Pestizide bedroht. Manche wurden in letzter Sekunde vor dem Aussterben gerettet wie der Goldene Scheckenfalter. Eine Kolonie der bräunlich-schwarz getupften Insekten flattert wieder über eine geschützte Wiese bei Königs Wusterhausen – dank lila blühender Teufelswurz, die dort wuchert und die Raupen ernährt.

Vor 80 Jahren sei die Berliner Schmetterlingswelt um sechs bis zehn Arten reicher gewesen, sagt Klaus Dörbandt, Orion-Experte für die alljährlichen Falterzählungen. Regelmäßig treffen sich die Schmetterlingsfreunde im Exploratorium des Museums für Naturkunde zum Mikroskopieren und Fachsimpeln. Hunderte flacher Kästen bewahren sie in Schränken auf mit fast allen Falterarten der Region – präpariert und aufgepinnt. Das verbietet zwar der Naturschutz, aber Orion hat eine Sondererlaubnis und darf noch mit Schmetterlingsnetz losziehen. Allerdings ersetzt die Digitalfotografie zunehmend die klassische Falterjagd. Was müssen Stadtgärtner und Gartenfreunde beachten, damit die Vielfalt der luftigen Dinger erhalten bleibt? „Heimische Stauden, Sträucher und Kräuter auf Balkonen und in Gärten pflanzen und Schmetterlingswiesen mit Wildblumen anlegen statt Englischen Rasen“, sagt Dörbandt.

Ein Hauhechel-Bläuling.
Ein Hauhechel-Bläuling.

© Bernd Schulze

Mehrere Generationen von Faltern fliegen jährlich durch Berlin, die meisten von Juni bis August. Gut beobachten lassen sie sich in Parks, Gartenkolonien, auf der Schönholzer Heide, dem Schöneberger Südgelände, Flächen mit Heidekraut und Magerrasen wie den einstigen Übungsterrains der US-Armee im Grunewald. Oder im Naturpark Marienfelde, wo der Naturschutzbund Nabu Falter in einem Schmetterlingshaus züchtet. Besucher erleben die Metamorphose, in der Antike Sinnbild für die Unsterblichkeit der Seele.

Einige Wochen dauern die einzelnen Stadien. Wenn Bernd Schulze seine Terrarien in Gatow öffnet mit Eiern, die an Zweigen kleben, mit Puppen und mit Raupen, für die er durch die Botanik streift,um ihr Spezialfutter zu finden, ist er fasziniert vom „Einfallsreichtum der Natur“. Kohlweißlingseier sehen aus wie winzige Raketen, Eier des Schwalbenschwanzes wie orangerote Sonnenbällchen. Die oft kunterbunten Raupen verändern bei jeder Häutung ihr Aussehen. Und beim Verpuppen perfektionieren viele Falter die Kunst der Täuschung. Ein Meister der Mimikry ist der Pflaumenzipfelfalter, dessen Puppe sieht aus wie Vogelkot.

Auf seinen Exkursionen beobachtet Schulze auch die Eigenarten der Schmetterlinge. Manche achten streng auf Revierlinien, andere sind Grenzgänger. „Es gibt rasche Segler wie den Trauermantel und flatterhafte Typen wie die Weißlinge. Männliche Tagpfauenaugen beherrschen den Spiralflug, streiten sich um Weibchen. Schwalbenschwanz-Männer sind die Jagdflieger unter den Faltern. Sie umflattern Hügelkuppen wie den Insulaner in Tempelhof. Im Fachjargon heißt das „Hilltopping“ oder Gipfelbalz. Nähert sich ein Trupp Weibchen, setzen die Männchen zum Sturzflug an. Die Eroberung hat begonnen.

Entomologische Gesellschaft Orion: www.orion-berlin.de; Naturpark Marienfelde: www.berlin-marienfelde.de/natur.

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