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Panorama: Traum und Albtraum

Wer mit der Bahn fährt, kann etwas erleben – eine Fahrt mit dem ICE und eine Nacht mit dem privaten CityNightLine

Von Andreas Oswald

Bahnfahren kann ein Traum sein. Oder ein Albtraum. Das kommt auf den Zug an. Wer die freie persönliche Entscheidung trifft, einen Zug der Deutschen Bahn zu besteigen, kann etwas erleben. Das hat auch sein Gutes. Was ist eine Reise wert, wenn hinterher keine Geschichten dabei herauskommen.

So ist es manchmal leichter, ohne Reservierung einen Platz zu ergattern, als mit Reservierung. Wer von Basel kommend in Mannheim für die Weiterfahrt nach Berlin umsteigen muss, und den Anschluss verpasst, weil sein Zug zu spät ist, dem drohen einige ziemlich lange Stunden. Für den Anschlusszug gilt die Reservierung nicht. Das betrifft auch etwa 150 andere Fahrgäste, die ebenfalls umsteigen wollen. Sie alle steigen in einen Nachfolgezug, der bereits zu 100 Prozent ausgebucht ist. Hinzu kommen noch ein paar Dutzend Leute, die keine Reservierung haben. Im Zug befinden sich schätzungsweise 80 Prozent mehr Gäste, als es Sitze gibt. Dann kommt Frankfurt(Main). Die Hälfte steigt aus. Für zwei Minuten atmen die Übriggebliebenen auf.

Dann steigen ein: diejenigen, die eine Reservierung haben, damit sind alle Plätze wieder besetzt. Zudem: diejenigen, die einen anderen ICE verpasst haben, weil ihr Zug zu spät war, sowie jene, die am Flughafen ihren Anschlussflug nach Berlin verpasst haben.

Warum die Züge immer so sauber sind, kann verschiedene Gründe haben. Einer davon ist, dass Hunderte Frauen in Designerkleidern und Hunderte Männer in frisch gereinigten Anzügen sich an den Wänden vorbeidrücken oder auf dem Boden sitzen, unter sich allenfalls eine Ledertasche.

Eine solche Fahrt vergisst so schnell niemand. Die Stimmung ist gereizt. Nicht jeder bleibt gelassen, wenn es voll ist. Männer sagen hässliche Worte. Das Personal wird unfreundlich behandelt und hat Mühe, selbst freundlich zu bleiben. Männer rammen ihre Koffer gegen die Knie einer Frau und sagen, statt sich zu entschuldigen, das sei Absicht gewesen. Es riecht nach Schweiß.

Zu den schöneren Erlebnissen einer ICE-Fahrt gehört es, wenn man völlig erschöpft seinen reservierten Platz erreicht, und dort sitzt eine junge, hübsche, hochschwangere Afrikanerin, die kein Deutsch spricht und den Eindruck macht, es gebe auf dieser Welt niemanden, der sie kennt. Wie schön kann doch Verzicht sein.

Wie angenehm das Reisen mit der Bahn sein kann, erfährt, wer mit einer privaten Zuggesellschaft fährt. Beispielsweise mit einem CityNightLine von Berlin nach Zürich. CityNightLine ist eine schweizerische Aktiengesellschaft. Jeder Gast wird schon auf dem Bahnsteig freundlich begrüßt. Geduldig erklärt die Crew dem Reisenden, was er wissen will. Er gibt seine Papiere ab, die er am nächsten Morgen wiederbekommt, nachdem ihm ein Frühstück mit frischen Hörnchen serviert wurde. Die Züge sind blitzblank, die Schlafwagen haben Waschbecken, und jederzeit ist Personal ansprechbar, das geduldig und immerzu freundlich ist.

Alles hängt mit allem irgendwie zusammen. Die Fahrgäste sind reizend, die Stimmung ist gelöst, nirgendwo fällt ein böses Wort.

Auch wer im CityNightLine fährt, kann etwas erleben. Die gelassene Atmosphäre lässt die Reisenden leicht miteinander in Kontakt kommen. Selten gibt es die Gelegenheit, mit fremden Menschen so vertraute Gespräche zu führen. Gespräche, als wäre man schon verheiratet. Viele, die hier reisen, führen eine Fernbeziehung. Die Frau lebt in Berlin, der Mann in Zürich. Oder umgekehrt. Das gemeinsame Schicksal schafft Verbundenheit. Nicht selten ist es ein wenig Verzweiflung, die aufkommt, weil man zu selten mit dem Partner zusammen ist. Da kann manchmal bei zwei Menschen, die sich im Zug begegnen, der Gedanke aufkommen, zu tauschen. „Wie wäre das? Wir beide leben in Berlin zusammen und Ihr Mann zieht in Zürich zu meiner Freundin?“ Aber wahre Liebe ist stärker als pragmatische Erwägungen es sind. Und so enden diese flüchtigen Zugbeziehungen ohne jede Folge, nicht einmal Telefonnummern werden ausgetauscht.

Wer will solche Zugfahrten gegen eine ganz normale Horrorfahrt in einem ICE der Deutschen Bahn tauschen?

Zumal der Rotwein gut ist. Und es gibt noch eine kleine organisatorische Meisterleistung. Wenn ein Tagesspiegel-Redakteur nach der Arbeit den Zug noch rechtzeitig bekommen will, muss er gehen, ohne den Andruck der Frühausgabe abwarten zu können. Im Zug dann liegt die frische Ausgabe bereit, die er kurz vorher noch redigiert hat. Da muss jemand ziemlich schnell gewesen sein.

Ärgert sich die Deutsche Bahn über die kundenfreundliche, effektive und profitable private Konkurrenz? Die Wahrheit ist: CityNightLine, die neue schweizerische Aktiengesellschaft, gehört zu 100 Prozent der Deutschen Bahn. Sie arbeitet ohne Mitarbeiter der Deutschen Bahn, fernab von den Organisationsstrukturen der Deutschen Bahn. Dafür kassiert die Deutsche Bahn den Gewinn.

Da soll noch einmal einer sagen, die Deutsche Bahn wisse nicht, wie es besser geht.

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