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Tausende unterschrieben eine Online-Petition gegen die Tötung der Giraffe Marius im Zoo von Kopenhagen. Doch sie fanden kein Gehör.

© dpa

Trends im Netz: Von Tieren und Modellflugzeugen: Petitionsplattformen boomen

Millionen Menschen unterschreiben jährlich Online-Petitionen und es werden immer mehr. Was macht der Online-Aktivismus mit uns?

Von Hendrik Lehmann

Dem Babyelefanten auf dem Foto fehlt der halbe Kopf. „Die Elefanten sind in Not und könnten vor unseren Augen ausgerottet werden“, steht neben dem Bild. Doch „wir können das ändern“ – mit der eigenen Unterschrift unter einer Petition an die EU. Auf einem anderen Foto schaut eine uralte Schildkröte wehmütig mit ihren schrumpeligen Augen in die Unterwasserkamera. Auch sie will gerettet werden. Barack Obama soll endlich handeln. Hans-Ulrich Kalweit aus Deutschland hat schon unterschrieben. Auch Sara Hesam aus dem Iran und der Brasilianer Fernando Venceslau sind dabei. Und 1,3 Millionen weitere. Mit einem Klick vom Schreibtisch aus ganz nebenbei die Welt verbessern – so einfach wie Katzenvideos gucken.

Plattformen für Online-Petitionen verzeichnen seit einigen Jahren unglaubliche Wachstumsraten. Alleine Avaaz.org, die Plattform, auf der die Schildkröte und der tote Elefant um Hilfe bitten, hat inzwischen knapp 44 Millionen Mitglieder, viermal so viele wie noch 2011, davon kommen 2,3 Millionen aus Deutschland. Change.org, die weltweit größte Petitionsplattform, hat sogar 155 Millionen Nutzer. Mithilfe der Klicks aus Wohnzimmern und Mittagspausen scheint sich eine neue globale Zivilgesellschaft zu bilden. So sagen es Change und Avaaz zumindest.

„Die Menschen haben Jobs und müssen Kinder zur Schule bringen“, sagt Emma Ruby-Sachs, Vizedirektorin bei Avaaz. Ziel sei es daher, so effizient wie möglich mit der Zeit ihrer Mitglieder umzugehen. Und wenn die Zeit, die sie übrig haben, nur die drei Minuten zur Unterzeichnung einer Petition sind, dann ist das besser als nichts, sagt die 34-Jährige.

Der Vorwurf des "Slacktivsm"

Doch warum sollte sich der amerikanische Präsident für die Unterschrift auf einer Webseite interessieren? Und was macht es mit uns, wenn wir täglich das halbe Leid der Welt in der Mailbox haben? Beruhigt es nur unser Gewissen? „Slacktivism“ nennt sich dieser Vorwurf: Online-Aktivismus, der Leute davon abhält, sich tatsächlich zu engagieren.

Die Petitionen ermöglichen den Unterzeichnern vor allem die einfache Erkenntnis, dass sie nicht die Einzigen sind, die das Problem interessiert, sagt Norbert Kersting, Politikprofessor an der Universität Münster. Eine Grundvoraussetzung sowohl für Solidarität mit Fremden als auch für das gemeinsame Finden von Ideen. Damit Online-Beteiligung aber mehr als eine Überflutung mit Eindrücken ist, sei es wichtig, dass sich daraus Institutionen und Strukturen bilden, die in die Offline-Sphäre hineinreichten.

Günter Metzges sieht das ähnlich. 2004 hat er die deutsche Kampagnenplattform Campact mitbegründet. Metzges geht es dabei vor allem um die Beseitigung eines Demokratiedefizits. Offizielle Beteiligungsmöglichkeiten für Bürger, beispielsweise über formale Bittschriften an den Petitionsausschuss des Bundestags, seien oft zu langwierig. Online-Protest hingegen könne innerhalb von Stunden auf eine aktuelle Entscheidung eingehen – und so auch Einfluss nehmen.

Politikwissenschaftler Kersting sieht die Plattformen im Vorteil gegenüber Parteien. Während Parteien versuchen müssten, eine konsistente Linie zu vertreten und dadurch andere potenzielle Mitglieder abschrecken, könnten Petitionsplattformen ihre Ausrichtung schneller ändern, böten unabhängigen Gruppen ein Forum und wirkten so neutraler und damit vertrauenswürdiger, sagt er.

Fast eine halbe Millionen Petition auf einer Plattform

Während Avaaz und Campact eine relativ klare politische Ausrichtung haben, kann auf der amerikanischen Plattform Change.org und der deutschen openPetition.de jeder jede Petition auf den Weg bringen. 4800 Petitionen auf Open Petition wurden vergangenes Jahr von Bürgern gestartet. Spitzenreiter ist derzeit der Aufruf „Hände weg von meinem Hobby! Petition für den Erhalt des Modellflugs“. Aber auch eine Petition gegen den Einsatz von Wildtieren im Zirkus liegt gut im Rennen. Bei Change.org sind es 491 000 Eingaben, die alleine 2016 gestartet wurden. Beide Organisationen müssen inzwischen unangemessene Aufrufe herausfiltern. Beispielsweise Hasskampagnen oder Petitionen, die tatsächlich nur eine einzige Person und ihren Garten betreffen. Das ist nach Aussagen von Open Petition und Change.org aber die Minderheit. „Wir sehen das als Empowerment-Aufgabe“, erzählt Change-Deutschland-Chef Gregor Hackmack.

Was ist nun aber mit dem Vorwurf des wirkungslosen „Slacktivism“? Gary Hsieh, Forscher an der University of Washington, hat mit seinem Team die Auswirkungen von Online-Petitionen auf das Handeln von ihren Unterzeichnern untersucht. Dabei haben sie herausgefunden, dass das Unterzeichnen eines Gesuchs die Wahrscheinlichkeit erhöht, im Anschluss für eine Wohltätigkeitsorganisation zu spenden, die sich für das gleiche Thema einsetzt. Lehnen die Nutzer die Petition hingegen ab, spenden sie durchschnittlich mehr Geld für eine Organisation, die sich mit einem gegenteiligen Thema beschäftigt. Die Forscher haben auch abgefragt, ob die Unterzeichner später eher an anderen Protestformen wie Demonstrationen oder Freiwilligendiensten teilnehmen würden. Das Ergebnis: Petitionen ändern daran gar nichts.

Gary Hsieh sieht das gelassen. Leute, die Petitionen unterschreiben, sind vielleicht Menschen, die sonst nichts unternehmen würden. Er sieht die künftige Herausforderung anderswo: „Wenn Petitionen ,Slacktivism‘ sind, weil sie nicht genug politische Wirkung haben, dann ist doch die Frage: Wie müsste ein Mechanismus aussehen, über den man mit einem Klick mehr Einfluss nehmen kann.“

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