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Tsunami-Opfer: Japan neun Monate nach der Flut

Der Tsunami zerstörte Kesennuma an einem Nachmittag. Neun Monate später ist die Spur der Verwüstung noch präsent. Vom Ringen um Normalität: Eine Reportage aus Japan.

Alles ist still. Eine schwere Stille, die so drückt, dass einem der Atem ganz flach wird. Unter den Füßen knirschen lose Steine auf dem Weg. Endlich schreit eine Möwe.

Spielzeugklein bewegen sich Bagger in der Ferne. Ein Stück Blech schwingt im Wind, schlägt wieder und wieder an eine Hauswand, quietscht dabei leise. Eine Böe trägt die Melodie eines Windspiels durch die Luft. Es klimpert zart. Das Haus, an dessen Eingang es mal hing, gibt es nicht mehr. Nur noch das Windspiel an einem Haufen Geröll.

An diesem Morgen hat es geschneit. Es wird wieder Winter in Kesennuma, einer kleinen Hafenstadt im Nordosten Japans. Das Jahr geht vorbei. Die Zeit aber scheint stehen geblieben. Am 11. März 2011 um etwa halb vier am Nachmittag.

Es war der Zeitpunkt, an dem der Tsunami auf Japans Nordostküste traf. Knapp zwei Stunden zuvor hatte die Erde gebebt, der Meeresboden riss auf. Das Beben war so stark, wie es in Japan noch nie zuvor gemessen wurde: 9,0 auf der Richterskala.

Eine große Welle, schnell und laut wie ein Flugzeug, jagte anschließend auf die Küste zu. Das Wasser floss in die Bucht von Kesennuma, es riss Menschen, Häuser, Autos und Schiffe mit sich, zerquetschte alles, was im Weg stand.

Kesennuma, eine Stadt der gemäßigten Geschwindigkeit, Ausflugsziel, Fischerort, bekannt für schmackhaften Thunfisch, wurde an diesem Märztag mit fürchterlicher Schnelligkeit zu einem großen Teil dem Erdboden gleich gemacht.

Neun Monate nach dem Unglück rutscht der Blick im Stadtteil Shishiori über freie Fläche am Hafen, Matsch und darauf Betonfundamente von Häusern, zehn, 20, mehr noch. Eingangstreppen, die ins Nichts führen. Dahinter, entfernt, ein stählernes Schiff, das die Welle an Land geschwemmt hat und das auf dem Trockenen so hoch scheint wie ein Haus und so lang wie zwei Bahnwaggons. Viel ist schon aufgeräumt, Geröll verpackt in Säcke, Autowracks sind gestapelt und nummeriert. Ein paar Ruinen warten noch auf Abriss. Man hat Müll aus den Katastrophengebieten im Norden nach Tokio geschafft, wo er verbrannt werden soll. Irgendwann wird auch der letzte Rest entfernt sein. Und dann?

In schlechten Zeiten, heißt es, soll man nach vorne schauen.

Als die Flut kam, rannten die Menschen nur noch fort

Wenn Seiichi Murakami morgens aus seinem Haus in Kesennuma tritt und nach vorne schaut, dann sieht er nur das Meer, das seiner Heimatstadt einen Super-Tsunami schickte. Ganz ruhig liegt es da. Aus dem Haus holt er eine Digitalkamera. Wolken am Himmel spiegeln sich auf dem kleinen Bildschirm, der Film, den er zeigen möchte, ist nur undeutlich zu erkennen. Herr Murakami hat den Tsunami festgehalten. Den Film hat er nicht gelöscht.

Seiichi Murakami geht zügigen Schrittes voran, er trägt Turnschuhe und eine Atemmaske, die sein Gesicht auf ein Paar kleine, sehr dunkle Augen reduziert. Herr Murakami unverheiratet, wohnhaft bei den Eltern. Er spricht ein bisschen Englisch, ist schmal, jungenhaft, sportlich. Das hat ihm das Leben gerettet. Am 11. März war Überleben in Kesennuma auch eine Frage der Schnelligkeit.

Als die Welle kam, ließ Seiichi Murakami in der kleinen Fabrik die Messer fallen, mit denen er gerade Fisch zerlegte. Er rannte fort aus dem Hafen, hinauf auf den nahen Berg, immer in Richtung seines Hauses. Er lief schnell. Schneller schlug nur sein Herz. Sein Freund rannte mit ihm. Schneller als der war aber das Wasser.

Das Haus der Familie Murakami liegt auf dem Plateau oberhalb des Hafens. Das Schöne an der Hafenstadt Kesennuma, eine idyllische Bucht, eine steile Küste für herrlichste Aussicht, wurde ihr am 11. März zum Verhängnis. Das Wasser flutete den Hafen und füllte die Bucht auf. Es floss die Straße hinauf und rein in den oberen Teil der Stadt, wo es Gebäude zerstörte und Häuser verrückte.

Die Welle schaffte am 11. März etwa den halben Weg bis zum Bahnhof. Von dort aus gesehen ist die Hauptstraße in Richtung Meer eine normale Kleinstadtstraße mit Blumen- und Gemüseläden, mit Autowerkstätten und einer Polizeistation. Dann knickt sie ab. Und plötzlich zieht sich ein Dreckstreifen an den Fassaden entlang, in etwa zwei Metern Höhe. Bis dahin kam das Wasser.

Vor dem Bahnhof von Kesennuma kommen nun, am Ende dieses schlimmen Jahres, wieder Touristen an. Ihre Rucksäcke auf dem Rücken, fotografieren sie den Bahnhof und sich davor. Die Touristen-Information ein paar Schritte entfernt hat ihre Arbeit wieder aufgenommen. Ein Mann in sandfarbener Uniform und mit dicker Brille hilft und klappt eine papierne Karte der Stadt weit auf.

Mit einem Stift fährt er eine große Straße entlang, immer weiter, um eine Kurve und hinunter zum Hafen. Da bleibt der Stift stehen und kreist auf der Stelle. Der Ort der Verwüstung.

Jemand aus Kesennuma hat den Tsunami gefilmt und das Video bei Youtube hochgeladen. Das Wasser, dunkel und wild, schwemmt Autos gegen Häuser, die irgendwann zusammensacken. Es umspült Eigenheime, die dann zu schwimmen beginnen. Langsam erst, dann schneller, die sich drehen, aneinander stoßen – und schließlich auseinanderfallen. Auf dem Hügel, erinnert sich Seiichi Murakami, stand bei ihm und den anderen Geretteten ein Mädchen, elf Jahre alt. Sie konnte nicht aufhören zu weinen. Im Wasser unterhalb des Berges ertrank ihre ganze Familie.

Seiichi Murakami verlor den Freund im Tsunami. Sie fanden ihn zwei Wochen später. Er verlor auch sein Auto – und seine Arbeit. Wo genau haben Sie gearbeitet? Er zeigt ins Nichts. Seit neun Monaten sucht er eine neue Beschäftigung, er hat sich ein neues kleines Auto gekauft und fährt damit häufig ins nahe gelegene Jobcenter, wo er Kataloge mit Stellenanzeigen durchblättert. Auch an diesem Montag ist er wieder da gewesen. Nur eine Stelle hat er gefunden, die interessant wäre. Herr Murakami wartet ab.

Die Regierung zahlt ihm monatlich eine kleine Unterstützung. Die Stadt zu verlassen, in der er geboren wurde, sei keine Alternative, sagt er. Dafür liebt er das Meer zu sehr und den Fisch.

Die Japaner klagen nicht, obwohl die Katastrophe noch allgegenwärtig ist

Seiichi Murakami lenkt sein Auto vorbei an grauen Containern am Stadtrand. „Hier“, sagt er, „wohnen die Überlebenden.“ Die Familien, die alles verloren haben. Die Container stehen sehr weit weg vom Meer. Weit weg von allem.

Rund 70 200 Menschen wohnen derzeit noch in Kesennuma. Vor dem 11. März waren es etwa 4000 mehr. Laut Stadtverwaltung sind zwischen März und November 3363 weggezogen; 1029 Tote wurden in der Stadt gefunden, aber vermutlich haben sie nicht alle dort gelebt. 354 Personen werden Ende November noch vermisst. Das Meer hat sie verschluckt und nicht wieder hergegeben. Nach ihren Leichen wird noch immer gesucht.

Seiichi Murakami will sich nicht beklagen. „Wir Menschen in Kesennuma haben starke Herzen“, sagt er und schnauft lachend in seine papierne Atemmaske. „Die Stadt wird sicher wieder aufgebaut.“

Zwei Augenpaare, die in eine Richtung schauen und doch sehr Unterschiedliches sehen. Völlige Zerstörung. Großer Fortschritt.

Auf Bildern, die nur wenige Tage nach dem Tsunami aufgenommen wurden, ist Kesennuma ein großer Haufen Schutt. Nun, neun Monate nach dem Unglück, sind die betroffenen Stadtteile größtenteils Brachen. Was, zwangsläufig positiv betrachtet, natürlich auch viel Platz bietet für Neues.

Anfang Oktober hat die Stadtverwaltung den offiziellen Wiederaufbauplan verabschiedet. An den Details wird noch gearbeitet, aber der Zehnjahresplan sieht vor, neue Wohnhäuser und Geschäftsviertel zu errichten und möglichst bald auch wieder Beschäftigung zu schaffen. Einige offizielle Wünsche, festgehalten im Plan: harmonisches Zusammenleben mit der Natur, besserer Schutz vor Tsunamis, eine Stadt voll des Lächelns.

Auf der offiziellen Facebook-Seite der Stadt sind Fotos von der Aufführung einer Theatergruppe zu sehen. Obwohl einige ihrer Mitglieder starben, haben sie Monate nach der Überschwemmung beschlossen: Aufmunterung muss her. Ende November feiert die Stadt den provisorischen Wiederaufbau eines Marktes. Es gibt Süßigkeiten, Kinder lächeln.

Seiichi Murakami träumt inzwischen nicht mehr von dem, was passiert ist.

Stabiler Zustand. So nennt das der Fachmann Yukihiro Igarashi, 52 Jahre alt, Einsatzleiter bei der Tokioter Feuerwehr, in deren Hauptquartier er sitzt, 400 Kilometer südlich von Kesennuma. Neun Monate nach dem Einsatz dort sei sein Zustand ein eben solcher, er müsse nicht mehr ständig weinen. Bei der Feuerwehr in der Hauptstadt haben sie die Nachsorge systematisiert. Jeder, der im Einsatz war, muss anschließend einem Psychologen erzählen, wie es ihm geht.

In Kesennuma hat Seiichi Murakami noch mit niemandem darüber gesprochen. Will er auch nicht. Seine Geschichte erzählen andere.

Am 11. März bekamen um 16.15 Uhr Yukihiro Igarashi und seine Männer in Tokio den Einsatzbefehl, um 18 Uhr waren sie mit einem großen Hubschrauber unterwegs in den Norden. Kesennuma, hieß es, sei am schlimmsten betroffen. Was Igarashi von oben sah, aus der Luft, erschien ihm wahrlich unfassbar. „Das Ganze sah unrealistisch aus, wie eine Kulisse.“ Und dann war es doch Realität, mit vielen Leichen. „Tsunami-Leichen“, sagt Igarashi. Er meint „wirklich tot“ und „überall“. Er zeigt Bilder von Leichen in einem Seniorenheim. Wie sollten die Alten hinausrennen können? Er blättert durch einen blauen Ordner: Leichen im Wasser, in Trümmern, hängend, liegend, treibend, bekleidet und nackt.

Es gibt kaum Jobs für die Menschen in Kesennuma

100 000 Quadratmeter groß war die zerstörte, überschwemmte und zum Teil durch explodierte Gastanks in Brand gesetzte Fläche in Kesennuma, über der die Feuerwehrhubschrauber kreisten und erst einmal einen trockenen Platz zum Landen finden mussten.

Am Boden, später dann, brach Yukihiro Igarashi, groß und stämmig, Feuerwehrmann seit 33 Jahren, in Tränen aus. Denn Bewohner von Kesennuma sahen den Helfern zu und beteten. „Als wären wir Götter“, sagt Igarashi. Er weinte. 48 Tage lang war er im Einsatz. In den drei Präfekturen Fukushima, Iwate und Miyagi, in der auch Kesennuma liegt, starben 15 000 Menschen. Ende November werden noch etwa 3000 vermisst.

Ein kleines silbernes Auto fährt die Straße hinunter zum Hafen, hält an. Ein Mann steigt aus, er knipst die Zerstörung. Er lächelt. Ein Tourist.

– Where are you from?

– Fukushima.

– Ah!

– You know? Big bang, big bang.

– Yes, I know. And you? Okay?

– Yes yes, okay okay.

Er fotografiert noch das große Schiff, das auf der Straße liegt. Dann verbeugt er sich und steigt wieder in sein Auto, fährt zurück nach Fukushima, nicht weit entfernt vom Atomkraftwerk Daiichi, wo in den Tagen nach dem 11. März Reaktoren explodierten – was die Katastrophe noch verheerender machte. Die Radioaktivität, die austrat, wird das Leben der Menschen vermutlich auch dann noch beeinträchtigen, wenn die zerstörten Orte längst wieder aufgebaut sind. Wer wird Fisch essen wollen aus Küstengewässern, von denen nicht sicher ist, wie verstrahlt sie sind? Die Idee der Regierung, die lokalen Fischer zu angestellten Hochseefischern zu machen, ist trocken wie die Amtsstuben, in denen sie entstand.

Wie also ist das Leben in Kesennuma, Herr Murakami? „Mmm, es ist okay jetzt.“ Können die Menschen hier wieder glücklich sein? „Es ist besser geworden.“ Er greift mit der Hand an den Atemschutz, zuppelt und zieht daran. Er möchte noch einen Strand zeigen, an den er immer zum Baden ging. Er ging in jedem Sommer, nur im vergangenen nicht. Denn auch den Strand trug die Welle fort. Er erzählt langsam, er sucht nach seinem Englisch, ihm fehlen die Worte.

Ein Haus steht im Hafen, zerrissen in der Mitte. An der Wand im ersten Stock, es mag das Wohnzimmer gewesen sein, hängt eine Uhr. Sie zeigt 20 Minuten vor vier. Seit neun Monaten hängt sie so da. In den Pfützen zwischen den Ruinen stehen ein paar Kraniche und warten auf bessere Zeiten.

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