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Die Wehrpflicht in der Türkei existiert zwar weiter, kann jetzt aber leichter umgangen werden.

© dpa

Türkei: 10.000 Euro für Wehrdienst-Befreiung

Für Millionen von türkischen Männern war der Wehrdienst bisher ein unverrückbarer Teil ihres Lebens. "Jeder Türke wird als Soldat geboren", lautet ein oft gehörtes Sprichwort. Doch das wird sich nun bald ändern.

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat für die kommende Woche einen Gesetzentwurf angekündigt, der es Männern über 30 Jahren erlauben soll, sich für umgerechnet rund 10.000 Euro vom Wehrdienst freizukaufen. Gleichzeitig lockert die Türkei auf Druck Europas ihr generelles Verbot der Wehrdienstverweigerung. Schon bald soll zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei ein ziviler Ersatzdienst eingeführt werden.

Heute muss jeder gesunde Türke für 15 Monate zum „patriotischen Dienst“, wie die Wehrdienstzeit im offiziellen Sprachgebrauch heißt. Universitätsabgänger dienen nur ein halbes Jahr, und wer kann, besorgt sich über Verbindungen einen bequemen Schreibtischposten. Denn der Wehrdienst in der Türkei kann lebensgefährlich sein: Immer wieder sterben Rekruten in Gefechten zwischen dem Militär und den kurdischen PKK-Rebellen im Südosten des Landes.

Nach zunehmenden Klagen von Eltern gefallener Wehrpflichtiger, die sich öffentlich über die schlechte Ausbildung ihrer Söhne vor den gefährlichen Einsätzen beschwerten, will die Regierung den Kampf gegen die PKK künftig in die Hände von Berufssoldaten legen. Überhaupt soll die türkische Armee, mit 600.000 Mann die zweitstärkste Nato-Truppe nach der US-Armee, kleiner, professioneller und beweglicher werden. Anders als in Deutschland wird aber nicht an eine komplette Abschaffung der Wehrpflicht gedacht.

Über Wochen hat Erdogans Regierung hinter den Kulissen mit den Militärs verhandelt, die sich gegen das Freikauf-System stemmten. Nicht nur die Generäle, die eine Aushöhlung des Wehrpflichtprinzips befürchten, sind skeptisch. Andere Kritiker beklagen eine wachsende soziale Ungerechtigkeit: Die Reichen können sich freikaufen, die Armen müssen weiter zur Armee und ihr Leben riskieren, sagen sie.

Arme und Reiche haben unterschiedliche Möglichkeiten

„Schon jetzt sterben im Kampf gegen die PKK nur Söhne armer Familien, nicht die Söhne der Reichen oder der hohen Staatsbeamten“, sagte Mehmer Güner, Chef des „Verbandes der Märtyrer-Familien“, am Donnerstag unserer Zeitung. Als „Märtyrer“ werden in der Türkei gefallene Soldaten bezeichnet. Nach Güners Beobachtung nutzen wohlhabende Familien ihre Verbindungen, um ihren Söhnen ungefährliche Wehrdienst-Posten zu verschaffen.

Dieses Ungleichgewicht wird mit dem Freikauf-Plan noch wachsen, sagte Güner. „Die Armen bekommen auch keine Kredite von den Banken, denn sie haben keine Sicherheiten“, sagte er. Güner glaubt, dass die Erdogan-Regierung die Regelung einführt, um sich Wählerstimmen aus der wachsenden türkischen Mittelschicht zu sichern. Ähnliche, aber zeitlich begrenzte Freikauf-Programme hatte die Türkei bereits in der Vergangenheit in Kraft gesetzt, zuletzt zur Geldbeschaffung für den Staat nach dem schweren Erdbeben von 1999. Für Türken in Deutschland gilt die Freikauf-Regel auch ohne Sondergesetz.

Im Schatten der Debatte über Wehrdienst-Freikauf, bei dem rund 100.000 Anwärter und staatliche Einnahmen von rund 1,5 Milliarden Euro erwartet werden, arbeitet die Regierung auch an der erstmaligen Einführung einer gesetzlichen Regelung für Wehrdienstverweigerer. Bisher gelten Verweigerer rechtlich als Deserteure und werden vor Militärgerichte gestellt und abgeurteilt – in manchen Fällen erhielten Verweigerer mehrmals Haftstrafen.

Auf Druck des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs muss die Türkei dies nun ändern. Die Mehrfach-Bestrafung wird abgeschafft, und laut Presseberichten sollen Verweigerer künftig einen nicht-militärischen Dienst ableisten können: entweder in den Kasernen als Koch, Putzhilfe oder Frisör, oder in Krankenhäusern oder anderen öffentlichen Einrichtungen. Der zivile Dienst soll demnach doppelt so lange dauern wie der Militärdienst.

Unter anderem aus diesem Grund sei der Plan der Regierung völlig unzureichend, sagte Öztürk Türkdogan, der Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation IHD. Trotz der Mängel sei der Vorschlag für den ersten Zivildienst in der Türkei aber ein ermutigender Beginn, fügte Türkdogan im Gespräch mit unserer Zeitung hinzu: „Es ist immerhin besser als das, was wir im Moment haben.“

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