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Panorama: Und wieder sterben die Robben

Experten rätseln über Ursachen der Seehunde-Epidemie. Sie wissen nur: Schadstoffe schwächen die Tiere erheblich

Von Monika Rössiger

Die Tragödie von 1988 könnte sich wiederholen: Mehr als die Hälfte aller Seehunde im niedersächsischen Wattenmeer könne an der Seehundstaupe zu Grunde gehen, sagt Wolfgang Baumgärtner, Neuropathologe an der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Am Dienstag hat sich die Krankheit bei toten Tieren von der ostfriesischen Nordseeküste bestätigt. Zum drohenden Ausmaß des Seehundsterbens gibt es noch keine einhellige Forschermeinung. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace allerdings ist sich sicher: Die Verschmutzung der Meere ist mitverantwortlich für die neue Epidemie. Durch chemische Gifte in Nord- und Ostsee werde das Immunsystem geschwächt, die Seehunde würden anfälliger für das Staupe-Virus. In weniger belasteten Atlantikgewässern hingegen erkrankten Seehunde seltener.

Im Mai dieses Jahres wurden die ersten toten Seehunde im Kattegat vor der dänischen Insel Anholt entdeckt. Die Epidemie hat genau denselben Ursprungsort wie vor 14 Jahren. 1988/89 kostete sie rund 18 000 Tiere das Leben. 60 Prozent des Seehundbestandes im Wattenmeer fielen einem Virus zum Opfer, das bis dahin völlig unbekannt war. Es ähnelt dem Hundestaupe-Virus und befällt Atemwege und Lungen. Infektionen mit Bakterien folgen, Parasiten entwickeln sich sprunghaft; nahezu alle Körperfunktionen werden gestört. Die Seehunde gehen qualvoll zu Grunde. „Gegen das Staupevirus besitzen die Seehunde kaum noch Antikörper“, sagt Ursula Siebert vom Forschungs- und Technologiezentrum Westküste der Universität Kiel. „Einer erneuten Epidemie stehen sie ziemlich schutzlos gegenüber."

Die Behörden haben sich schon seit Mai auf das Krisenmanagement vorbereitet: das heißt, auf die möglichst schnelle Beseitigung der vielen Kadaver. „Wenn die Epidemie hier erst einmal ausbricht", sagt eine Sprecherin des Kieler Umweltministeriums, „können wir die Seehunde nicht retten." Vorbeugende Impfungen sind nicht praktikabel. Zwar gibt es neuerdings ein Serum, aber das würde höchstens den Tieren in Seehundstationen nützen. Es ist schlicht unmöglich, 20 000 Tiere in freier Wildbahn zu impfen. „Dazu müsste man sie erstmal einfangen", sagt Hendrik Brunckhorst vom schleswig-holsteinischen Nationalparkamt in Tönning. „Und das würde nur bei einer kleinen Zahl gelingen, aber für helle Aufregung auf den Seehundbänken sorgen. Das stresst die Tiere noch zusätzlich". Außerdem widersprächen Impfungen dem Nationalparkgedanken, wonach der Mensch in natürliche Prozesse nicht eingreifen darf.

Heute wird – wie auch 1988/89 – wieder darüber diskutiert, ob die Seuche ein natürlicher Akt der Selbstregulation sei – wegen angeblich zu großer Bestände. Das hält nicht nur der Kieler Robben-Experte Günter Heidemann für „groben Unfug." Auch das Nationalparkamt in Tönning stellt klar, dass Epidemien bei Robben kein üblicher Mechanismus zur Bestandsregulierung sind und vor 1988 auch nie beobachtet wurden. Die Bestandsdichte richtet sich nach dem Angebot von Nahrung und Liegeplätzen. Seehunde können sich nur vermehren, wenn sie ausreichend Fisch, Garnelen oder Muscheln finden – und Sandbänke zum Ausruhen. Ein Weibchen bringt lediglich ein Junges pro Jahr zur Welt. Bei Nahrungsmangel fällt die Fortpflanzung aus.

Um 1900 lebten im Wattenmeer sogar 37 000 Seehunde, also fast doppelt so viel wie heute. Trotzdem ist von einer Epidemie vor 1988 nichts bekannt. Wäre die Population der Seehunde im dänisch-deutsch-holländischen Wattenmeer mit jetzt 20 000 Tieren zu groß, wie aus Fischereikreisen verlautet, würde sich das in typischen Symptomen wie zunehmender Aggression und abnehmender Speckschicht äußern. Außerdem wäre der Parasitenbefall erhöht. All dies trifft auf die Wattenmeer-Population aber nicht zu: Der Gesundheitszustand der Seehunde ist gut. Nur, dass sie eben nach 14 Jahren keine Antikörper mehr besitzen.

Woher das Staupe-Virus kam, ist bis heute ein Rätsel. Auch, warum es ausgerechnet wieder vor Anholt zuschlägt. „Entweder dort ist ein Virus-Reservoir", mutmaßen die Seehund-Experten der drei Wattenmeer-Anrainerstaaten Deutschland, Dänemark und Holland. „Oder das Virus wurde erneut eingetragen, vielleicht durch ein Meerestier oder durch Abwässer von Nerzfarmen an Land."

Als mutmaßliche Überträger galten 1988 arktische Sattel- und Ringelrobben. Zu Zigzehntausenden wanderten sie damals südwärts. Akuter Nahrungsmangel, so Heidemann, habe die ungewöhnliche Migration ausgelöst. Grund dafür war der Raubbau durch industrielle „Gammelfischerei". Skandinavische und sowjetische Trawler fingen in den hochnordischen Frühjahrsquartieren der Meeressäuger massenweise Lodden. Diese kleinen, fettreichen Fische dienen nur indirekt der menschlichen Ernährung, indem sie zu Fischmehl und -öl verarbeitet und beispielsweise dem Futter in der Massentierhaltung beigemengt werden.

Der Zusammenbruch der Bestände führte zum Exodus der arktischen nordeuropäischen Robben. Sie trugen das Virus „traditionell“ in sich und konnten offenbar damit leben. „Aber für die Seehunde der Nord- und Ostsee war es völlig neu", erklärt Heidemann. „Und die hohe Schadstoffbelastung hatte ihr Immunsystem bereits geschwächt. Sie waren diesem neuen Erreger schutzlos ausgesetzt. Kein Wunder, dass sie starben wie die Fliegen."

Das Verbreitungsgebiet der Seuche spricht für die Schadstoff-Hypothese: Die meisten Seehunde verendeten in den hoch belasteten Küstengewässern von Deutschland, Holland, Dänemark und Schweden sowie Großbritannien. Am Rande der Nordsee, vor Irland, Schottland und Norwegen, wo das Meer weniger verschmutzt ist, erkrankten nur wenige Tiere. Und noch weiter nördlich, um Island herum, wurden gar keine kranken Seehunde beobachtet. Obwohl auch sie mit dem Virus in Berührung gekommen waren: Sie hatten nämlich Antikörper im Blut. „Für das Ausmaß des Seehundsterbens von 1988", folgert Günter Heidemann, „war also nicht allein das neue Virus entscheidend, sondern auch die aus der Schadstoffbelastung resultierende Immunschwäche der Tiere.“

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